Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 III 415



126 III 415

72. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 25. Juli 2000 i.S. H.
gegen Obergericht des Kantons Luzern (Berufung) Regeste

    Begründung eines neuen Wohnsitzes nach Errichtung einer Beistandschaft;
örtliche Zuständigkeit für die Entmündigung des Verbeiständeten.

    Begründet eine Person einen neuen Wohnsitz, nachdem über sie eine
Beistandschaft errichtet worden ist, so kann sie, vom Fall des Art. 376
Abs. 2 ZGB abgesehen, ausschliesslich am neuen Wohnsitz entmündigt werden
(Art. 376 Abs. 1 ZGB). Die Vormundschaftsbehörde am früheren Wohnsitz ist
auch dann nicht für die Entmündigung zuständig, wenn sie die Beistandschaft
entgegen der analog anwendbaren Vorschrift des Art. 377 Abs. 2 ZGB nicht
an die Behörde des neuen Wohnsitzes weiter gegeben, sondern selbst weiter
geführt hat (E. 2 und 3).

Sachverhalt

    A.- Nachdem im Jahre 1995 die über ihn errichtete Vormundschaft in
eine Beistandschaft nach Art. 393 Ziff. 2 ZGB umgewandelt worden war,
zog H. im August 1996 mit seiner Lebenspartnerin von P. nach L. und später
nach R., wo sie heute noch an ein und derselben Adresse wohnen.

    Am 28. Oktober 1997 erteilte der Gemeinderat von P. als
Vormundschaftsbehörde, der die Beistandschaft weiter geführt hatte, der
Psychiatrischen Klinik ... den Auftrag, ein Gutachten darüber zu erstellen,
ob H. in Anwendung von Art. 369 ZGB zu entmündigen sei. Gestützt auf das
Gutachten wandelte der Rat am 3. Dezember 1999 die Beistandschaft in eine
Vormundschaft nach Art. 369 ZGB um und regelte die Folgen der Entmündigung
(Dispositiv-Ziffern 3-7).

    Am 11. Februar 2000 befand der Regierungsrat des Kantons Luzern
entgegen der Auffassung von H., dass der Gemeinderat von P. für
die Entmündigung zuständig sei. Die hiergegen gerichtete kantonale
Verwaltungsgerichtsbeschwerde von H. wies das Obergericht des Kantons
Luzern am 3. April 2000 ab und bestätigte den regierungsrätlichen
Entscheid.

    Das Bundesgericht heisst die von H. eingereichte Berufung gut, hebt
das angefochtene Urteil des Obergerichts sowie die Dispositiv-Ziffern
3-7 des Entscheides des Gemeinderates von P. auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Das Obergericht hat die örtliche Zuständigkeit der
Vormundschaftsbehörde von P. zur Entmündigung des Berufungsklägers bejaht;
es ist zunächst davon ausgegangen, dieser habe sowohl in L. als auch in
R. einen neuen Wohnsitz erworben, da die Beistandschaft gemäss Art. 393
Ziff. 2 ZGB keinen Wohnsitz am Ort der Vormundschaftsbehörde (Art. 25
Abs. 2 ZGB) begründe. Zwar sei die Beistandschaft in erster Linie zur
Wahrung der finanziellen Interessen des Berufungsklägers errichtet
worden; doch seien die Ursachen der Schwäche persönlich-subjektiver
Natur, weshalb die Beistandschaft in analoger Anwendung von Art. 377
ZGB auf die Vormundschaftsbehörde des neuen Wohnsitzes hätte übertragen
werden müssen. Solange aber kein Übergabe- bzw. Übernahmebeschluss der
betroffenen Behörden vorliege, bleibe es bei der Zuständigkeit der Behörde
am ursprünglichen Wohnsitz und sei dort ein Verfahren um Aufhebung oder
Abänderung der Massnahme anhängig zu machen. Dass grundsätzlich nicht
nur ein Recht, sondern auch die Pflicht zur Übergabe bzw. Übernahme
vormundschaftlicher Massnahmen bestehe, könne für die Frage der
Zuständigkeit nicht entscheidend sein. Im Übrigen könne der Betroffene von
der Vormundschaftsbehörde die Übertragung der Massnahme an die zuständige
Behörde verlangen und einen ablehnenden Entscheid mit Beschwerde bei
der Aufsichtsbehörde anfechten. Nachdem die Vormundschaftsbehörde von
P. mit der Erteilung des Auftrages zur Begutachtung des Beschwerdeführers
im Oktober 1997 das Entmündigungsverfahren eingeleitet habe, sei es
angebracht, mit der Übertragung der Beistandschaft an die Gemeinde
R. zuzuwarten.

    Der Berufungskläger erblickt darin eine Verletzung von Art. 376 Abs. 1
ZGB, zumal nach dieser Bestimmung eine Bevormundung zwingend am Wohnsitz
der zu bevormundenden Person zu erfolgen habe. Da er zum Zeitpunkt der
Einleitung des Entmündigungsverfahrens seinen Wohnsitz nicht mehr in
der Gemeinde P. gehabt habe, sei die dortige Vormundschaftsbehörde auch
nicht zuständig gewesen, das Verfahren einzuleiten. Dass die im Jahre
1995 errichtete Beistandschaft immer noch von dieser Gemeinde geführt
werde, könne nicht massgebend sein, zumal auch für die Beistandschaft
das Wohnsitzprinzip gelte und sie nach dem anwendbaren Art. 377 ZGB schon
längst an die Vormundschaftsbehörde des neuen Wohnsitzes hätte abgegeben
werden müssen. Die von der Vorinstanz zur Stützung ihrer These aufgeführten
Literaturstellen und Gerichtsentscheide seien nicht schlüssig und damit
auch nicht geeignet, den Entscheid zu rechtfertigen.

    b/aa) Im vorliegenden Fall sind die Ursachen der Schwäche des
Berufungsklägers unbestrittenermassen persönlich-subjektiver Natur;
das Obergericht geht - wie übrigens auch der Berufungskläger - zu Recht
davon aus, dass Art. 377 Abs. 2 ZGB auf die besagte Beistandschaft analog
anzuwenden ist (vgl. dazu: SCHNYDER/ MURER, Berner Kommentar, N. 119 zu
Art. 377 ZGB). Aufgrund dieser Bestimmung waren die Vormundschaftsbehörden
von P. und L. bzw. nunmehr R. aber verpflichtet, die Übergabe bzw. die
Übernahme der Beistandschaft zu beschliessen, nachdem der Berufungskläger
die Gemeinde P. verlassen hatte und nach L. bzw. R. gezogen war
(SCHNYDER/MURER, aaO, N. 99 zu Art. 377 ZGB). Das Obergericht weist nun
zwar zu Recht darauf hin, dass die Vormundschaftsbehörde am früheren
Wohnsitz mangels entsprechender Beschlüsse grundsätzlich verpflichtet
ist, die Beistandschaft weiter zu führen (SCHNYDER/MURER, aaO, N. 118
i.V.m. N. 117 zu Art. 377 ZGB). Dennoch bleibt es dabei, dass die beiden
Vormundschaftsbehörden nicht mehr frei waren bzw. sind, die Übergabe
bzw. Übernahme der Beistandschaft zu beschliessen, so dass die Pflicht der
Behörde des früheren Wohnsitzes naturgemäss befristet war bzw. ist. Aus
dem Umstand, dass die Beistandschaft nach wie vor in P. geführt wird,
kann somit für die örtliche Zuständigkeit zur Errichtung der Vormundschaft
nichts hergeleitet werden.

    bb) Das Obergericht stützt seine Argumentation auf die Lehrmeinung von
GEISER (Basler Kommentar, N. 8 zu Art. 377) und SCHNYDER/MURER (aaO, N. 117
zu Art. 377 ZGB) sowie auf einen Entscheid des Obergerichts des Kantons
Zürich (ZR 84/1985 Nr. 82). Soweit sich letztere beiden Zitatstellen auf
die Beistandschaft beziehen, besagen sie im Ergebnis einzig, dass die
Zuständigkeit der Behörde des ursprünglichen Wohnsitzes bestehen bleibt,
solange die Beistandschaft von der Behörde am neuen Wohnsitz nicht
formell übernommen worden ist. Sie äussern sich aber nicht zur Frage,
wer in einem solchen Fall für die Errichtung der Vormundschaft zuständig
ist. GEISER geht unter Berufung auf einen Entscheid des Regierungsrates
des Kantons Zug (ZVW 1991 Nr. 8 S. 116. ff.) davon aus, dass vor der
Behörde am ursprünglichen Wohnsitz des Verbeiständeten ein Verfahren
um Aufhebung oder Abänderung der Massnahmen anhängig zu machen ist. Im
fraglichen Entscheid ging es indessen um eine Verwaltungsbeistandschaft,
bei der die Wohnsitzzuständigkeit und damit die Pflicht zur Übertragung
der Massnahme verneint worden war, weil sich die vormundschaftliche Hilfe
einzig mit Bezug auf eine einzelne vorübergehende Angelegenheit aufgedrängt
hatte. Weder GEISER noch der Entscheid, auf den er seine Auffassung
stützt, äussern sich freilich zu Frage, ob die Vormundschaftsbehörde am
ursprünglichen Wohnsitz des Verbeiständeten für dessen Entmündigung örtlich
zuständig ist. Aus den angegebenen Textstellen lässt sich demnach - wie
der Berufungskläger zu Recht hervorhebt - für die Lösung der strittigen
Frage ebenfalls nichts gewinnen. Entscheidend ist denn auch ein anderer
Gesichtspunkt: Dem Obergericht entgeht bei seiner Argumentation, dass
im vorliegenden Fall gar keine Abänderung der bestehenden Massnahme
zur Diskussion stand. Mit dem Entmündigungsentscheid wurde vielmehr
eine neue vormundschaftliche Massnahme getroffen, die im Gegensatz
zur alten entscheidend in die Freiheit des Berufungsklägers eingreift,
indem sie ihn seiner Handlungsfähigkeit beraubt. Wer für die Errichtung
der Vormundschaft zuständig ist, bestimmt aber nicht Art. 377, sondern
Art. 376 ZGB. Damit erübrigt sich, auf die weiteren Ausführungen des
Obergerichts zu Art. 377 ZGB und dessen Einfluss auf die Beistandschaft
bzw. die Errichtung der Vormundschaft einzugehen.

    c) Im vorliegenden Fall sind keine Grundlagen für eine
Heimatzuständigkeit im Sinne von Art. 376 Abs. 2 ZGB erstellt, weshalb
die örtliche Zuständigkeit für eine Bevormundung des Berufungsklägers
ausschliesslich durch Art. 376 Abs. 1 ZGB geregelt wird (SCHNYDER/MURER,
aaO, N. 8 der Vorbemerkungen zu Art. 376-378 ZGB; vgl. ferner:
DESCHENAUX/STEINAUER, Personnes physiques et tutelle, 3. Aufl. Bern
1995, N. 855 ff.; RIEMER, Grundriss des Vormundschaftsrechts, 2.
Aufl. Bern 1997, § 4 N. 59, S. 61). Nach dieser Bestimmung hat die
Bevormundung am Wohnsitz der zu bevormundenden Person zu erfolgen,
wobei sich der Wohnsitz primär nach Art. 23 und 26 ZGB, subsidiär
nach Art. 24 ZGB bestimmt. Das gilt auch für Verbeiständete und
Verbeiratete, da sie keinen Wohnsitz nach Art. 25 Abs. 2 ZGB am Sitz
der Vormundschaftsbehörde haben (BGE 44 I 61 E. 2 S. 65; SCHNYDER/MURER,
a.a.O, N. 41 zu Art. 376 ZGB). Massgebend ist schliesslich der Wohnsitz
zum Zeitpunkt der Einleitung des Entmündigungsverfahrens. Die zu diesem
Zeitpunkt vorhandenen Wohnsitzverhältnisse entscheiden darüber, wo die
Vormundschaft errichtet und unter Vorbehalt von Art. 377 ZGB geführt und
beendigt wird (BGE 50 II 95 E. 3 S. 98; 101 II 11 E. 2a; SCHNYDER/MURER,
aaO, N. 120 zu Art. 376 ZGB).

    Nach dem angefochtenen Entscheid ist erstellt, dass der Berufungskläger
bei Einleitung des Entmündigungsverfahrens, das unbestrittenermassen
mit der Erteilung des Auftrages an den Experten im Oktober 1997
erfolgt ist, bereits seit langem nicht mehr in der Gemeinde P. wohnte
(vgl. zum bundesrechtlichen Begriff des Zeitpunktes der Einleitung des
Entmündigungsverfahrens: BGE 50 II 95 E. 3 S. 99; SCHNYDER/MURER, aaO,
N. 122 zu Art. 376 ZGB). Vielmehr ist er im August 1996 mit seiner
Lebenspartnerin von P. nach L. gezogen, wo er nach unbestrittener
Auffassung des Obergerichts auch einen neuen Wohnsitz begründet hat. Damit
aber war die Vormundschaftsbehörde von P. örtlich nicht zuständig, das
Entmündigungsverfahren einzuleiten, geschweige denn den Berufungskläger
zu entmündigen und zu bevormunden.

Erwägung 3

    3.- War die Vormundschaftsbehörde von P. aber nicht zuständig, den
Berufungskläger zu entmündigen und die Folgen der Entmündigung zu regeln,
so ist die Berufung gutzuheissen und sind der angefochtene Entscheid sowie
die Dispositiv-Ziffern 3-7 des Entscheides des Gemeinderates von P. als
Vormundschaftsbehörde vom 3. Dezember 1999 aufzuheben. Zur Regelung der
Kosten und Entschädigungen der kantonalen Verfahren ist die Sache an das
Obergericht zurückzuweisen.

    Der Gemeinderat von P. hat nunmehr unverzüglich die Übergabe
der Beistandschaft an die Behörde am heutigen Wohnsitz des
Berufungsklägers (Art. 377 Abs. 2 ZGB) zu beschliessen und durchzuführen
(vgl. E. 2b/aa). Dabei bleibt es ihm unbenommen, dieser Behörde unter
Hinweis auf das Gutachten die Anordnung einer geeigneteren Massnahme
anzuregen. Das Obergericht wird dem Gemeinderat entsprechend Weisung zu
erteilen haben.