Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 III 171



126 III 171

29. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 29. Februar 2000
i.S. M. A.-O. gegen L. S. (Berufung) Regeste

    Herabsetzungspflicht nach Art. 527 Ziff. 1 ZGB.

    Eine Herabsetzung gemäss Art. 527 Ziff. 1 ZGB setzt eine unentgeltliche
Zuwendung im Sinn von Art. 626 Abs. 2 ZGB voraus, die den Pflichtteil
eines Erben verletzt. Dabei ist an der Rechtsprechung festzuhalten,
dass ein Zuwendungswille des Erblassers vorliegen muss (E. 3).

Sachverhalt

    Der am 24. Oktober 1987 verstorbene Erblasser hinterliess als
gesetzliche Erben seinen Sohn und seine Enkelin, welche das einzige Kind
der 1985 vorverstorbenen Tochter des Erblassers ist. In seinem Testament
vom 30. Juli 1987 hatte der Erblasser seine Enkelin auf den Pflichtteil
gesetzt sowie u.a. verfügt, dass die zu Lebzeiten seinen beiden Kindern
gemachten Schenkung nicht der Ausgleichung unterlägen. Am 13. Februar
1989 erhob die auf den Pflichtteil gesetzte Enkelin gegen ihren Onkel -
den Sohn des Erblassers - Ungültigkeits- und Herabsetzungsklage. Zur
Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass der Erblasser am
22. April 1987 seinem Sohn eine Reihe von Grundstücken massiv unter deren
wirklichem Wert verkauft habe. Sowohl das Amtsgericht Luzern-Stadt als
auch das Obergericht des Kantons Luzern wiesen die Ungültigkeits- bzw.
Herabsetzungsklage ab. Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 626 Abs. 2 ZGB untersteht grundsätzlich der
Ausgleichungspflicht, was der Erblasser seinen Nachkommen als Heiratsgut,
Ausstattung oder durch Vermögensabtretung, Schulderlass und dergleichen
zugewendet hat; von der Ausgleichung kann der Erblasser die Erben
ausdrücklich dispensieren.

    a) Das Obergericht hat eine Ausgleichung der lebzeitigen Zuwendungen
des Erblassers an den Beklagten sinngemäss mit der Begründung
abgelehnt, dass der Erblasser den Beklagten ausdrücklich von der
Pflicht zur Ausgleichung befreit habe; die Klägerin habe im kantonalen
Appellationsverfahren selbst die Meinung vertreten, dass angesichts des
Ausgleichungsdispenses die gesetzliche Pflicht zur Ausgleichung lebzeitiger
unentgeltlicher Zuwendungen des Erblassers zwischen den Parteien nicht
greifen könne. In der eidgenössischen Berufung stellt sich die Klägerin
nun auf den Standpunkt, dass die Vorinstanz verbindlich festgestellt habe,
dass sich der Erblasser und der Beklagte in Bezug auf die umstrittenen
Grundstückgeschäfte des Missverhältnisses der Leistungen nicht bewusst
gewesen seien, da die Kaufpreise nach Massgabe der Schätzung eines von
den Parteien damals beigezogenen Experten festgesetzt worden seien. Ohne
das Vorliegen eines Zuwendungswillens könne sich der vom Erblasser
angeordnete Ausgleichungsdispens aber von Vornherein nicht auf das
umstrittene Rechtsgeschäft beziehen.

    b) Dieser Einwand ist unbegründet. Der Erblasser ordnete einen
Ausgleichungsdispens an, indem er verfügte, "dass die zahlreichen
Schenkungen, die ich zu Lebzeiten meinen beiden Nachkommen [...] gemacht
habe, nicht der Ausgleichspflicht unterliegen Art. 626 Abs. 2 ZGB". Der
Ausgleichungsdispens bezieht sich somit nicht auf bestimmte, sondern auf
"die zahlreichen Schenkungen". Der Dispens ist allgemein gehalten und
kann nicht anders verstanden werden, als dass der Erblasser, was auch
immer auf Grund der dispositiven Gesetzesbestimmung von Art. 626 Abs. 2
ZGB der Ausgleichung unterliegen würde, von dieser auszunehmen sei. Es
ist nicht ausgeschlossen, einen Ausgleichungsdispens auch "auf Vorschuss"
für den Fall des Bestehens einer Ausgleichungspflicht anzuordnen.

Erwägung 3

    3.- Da eine Ausgleichung zufolge des vom Erblasser angeordneten
Ausgleichungsdispenses nicht in Frage kommt, ist im Folgenden zu prüfen,
wie es sich mit der Herabsetzung verhält.

    a) Nach Art. 527 Ziff. 1 ZGB unterliegen die Zuwendungen auf Anrechnung
an den Erbteil, als Heiratsgut, Ausstattung oder Vermögensabtretung der
Herabsetzung, wenn sie nicht der Ausgleichung unterworfen sind. Gemäss
dieser Bestimmung sind jene Zuwendungen herabzusetzen, die ihrer Natur
nach gemäss Art. 626 Abs. 2 ZGB der Ausgleichung unterständen, ihr
aber durch eine Verfügung des Erblassers entzogen worden sind (BGE 98
II 352 E. 3a S. 356 mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung setzt die
Ausgleichung bzw. Herabsetzung in objektiver Hinsicht voraus, dass eine
unentgeltliche Zuwendung vorliegt, und in subjektiver Hinsicht, dass
der Erblasser einen Zuwendungswillen (animus donandi) hat; die Parteien
müssen z.B. bei einer gemischten Schenkung eine unentgeltliche Zuwendung
in dem Sinn beabsichtigten, dass sie den Preis bewusst unter dem wahren
Wert des Kaufgegenstandes angesetzt haben, um die Differenz dem Käufer
unentgeltlich zukommen zu lassen (BGE 98 II 352 E. 3b S. 357 f. mit
Hinweisen; vgl. auch BGE 116 II 667 E. 3b/aa S. 674). Gestützt auf diese
Rechtsprechung hat die Vorinstanz im vorliegenden Fall in tatsächlicher
Hinsicht verbindlich festgehalten, dass die Differenz zwischen dem
Gesamtverkaufspreis und der Schatzung des kantonalen Schatzungsamtes
unter Berücksichtigung der latenten Grundstückgewinnsteuern 28% und
ohne deren Berücksichtigung 40% betragen habe, weshalb in objektiver
Hinsicht von einer gemischten Schenkung auszugehen sei. In subjektiver
Hinsicht verneinte das Obergericht hingegen, dass die Vertragsparteien
die objektiv zu tiefen Grundstücksverkaufspreise "hätten erkennen können
bzw. erkannt haben".

    b) Die Klägerin kritisiert diese Rechtsprechung, die das Obergericht
seiner Beurteilung zu Grunde gelegt hat. Sie macht geltend, dass die
Ausgleichung bzw. Herabsetzung ausschliesslich vom Vorliegen des
objektiven Elementes des groben Missverhältnisses von Leistung und
Gegenleistung abhänge. Ob zusätzlich dazu in subjektiver Hinsicht eine
Zuwendungsabsicht vorliege, sei irrelevant.

    aa) Das Bundesgericht hat in seiner älteren Rechtsprechung
zunächst die Frage aufgeworfen, aber offen gelassen, ob bei
einem Geschäft mit einem Nachkommen ein grobes Missverhältnis der
Leistungen zugunsten desselben für die Annahme einer herabsetzbaren und
ausgleichungspflichtigen Zuwendung im Sinn von Art. 626 ZGB genüge, auch
wenn das Missverhältnis beim Geschäftsabschluss nicht erkannt worden sei
(BGE 77 II 36 S. 40). Später erwog es dann aber, dass eine (teilweise)
unentgeltliche Zuwendung bzw. gemischte Schenkung nur vorliege, wenn
zur Zeit des Vertragsabschlusses das Missverhältnis zwischen Leistung
und Gegenleistung vom Erblasser tatsächlich erkannt worden sei; blosse
Erkennbarkeit genüge nicht (BGE 98 II 352 E. 3b S. 358; bestätigt in BGE
116 II 667 E.3b/aa, wobei das subjektive Element des Bewusstseins des
Missverhältnisses in diesem Fall nicht umstritten war). In seiner neusten
Rechtsprechung ist das Bundesgericht von seiner Praxis nicht abgerückt;
zwar wurde nur das objektive Element des Vorliegens einer unentgeltlichen
Zuwendung, nicht aber das subjektive Element des Vorliegens einer
Zuwendungsabsicht erwähnt, doch bestand dazu auch keine Veranlassung,
da die Frage des Vorliegens einer Zuwendungsabsicht nicht umstritten war
(BGE 120 II 417 ff.). Insbesondere deutete das Bundesgericht dadurch,
dass es das subjektive Element nicht erwähnte, keineswegs an, dass es sich
von dieser Voraussetzung distanziert. Ein Verzicht auf dieses Element,
wie es die Klägerin verlangt, stand im Übrigen nie zur Diskussion - auch
nicht im Rahmen des "obiter dictum" in BGE 77 II 36. In der Literatur
wird denn auch praktisch einhellig verlangt, dass nebst der objektiven
Voraussetzung des Vorliegens einer unentgeltlichen Zuwendung auch
das subjektive Element das Vorliegens einer Zuwendungsabsicht gegeben
sein müsse. Die Kontroverse dreht sich nicht um die Frage, ob an einer
subjektiven Voraussetzung überhaupt festzuhalten sei, sondern darum,
ob von einer ausgleichungspflichtigen Zuwendung bereits dann auszugehen
ist, wenn der Wertunterschied für die Parteien erkennbar war, oder erst
dann, wenn sich die Parteien des Wertunterschiedes zwischen Leistung und
Gegenleistung auch tatsächlich bewusst waren (vgl. die Übersicht bei
PAUL EITEL, Die Berücksichtigung lebzeitiger Zuwendungen im Erbrecht,
Bern 1998, S. 173 mit den Hinweisen in Fn. 164 und 166).

    bb) Es ist einzuräumen, dass die Ausgleichung die Gleichbehandlung
und die Herabsetzung den Pflichtteilsschutz der Erben bezwecken und
beide Zweckbestimmungen grundsätzlich ungeachtet des subjektiven Willens
des Erblassers gewährleistet sein müssen. Dennoch besteht kein Anlass,
das Erfordernis des Vorliegens einer Zuwendungsabsicht als subjektive
Komponente fallen zu lassen. Wenn nur das objektive Element der Zuwendung
massgebend wäre, müssten streng genommen auch Kleinzuwendungen, welche das
Mass von üblichen Gelegenheitsgeschenken gemäss Art. 632 ZGB übersteigen,
der Ausgleichung und gegebenenfalls der Herabsetzung unterliegen, was zu
kleinlichen und unergiebigen Auseinandersetzungen unter den Erben führen
könnte. Die Klägerin vertritt denn auch unter Hinweis auf den von ihr
als Privatgutachter beigezogenen Professor Druey die Auffassung, dass
unentgeltliche Zuwendungen der Ausgleichung bzw. Herabsetzung nur dann
unterlägen, wenn in objektiver Hinsicht zwischen Leistung und Gegenleistung
ein erheblicher Wertunterschied bestehe. Wo indessen im konkreten
Einzelfall unter rein objektiven Gesichtspunkten die Grenze zwischen einer
Kleinzuwendung und einer ausgleichungspflichtigen Grosszuwendung zu ziehen
wäre, kann kaum generell festgelegt werden, was auch vom Privatgutachter
eingeräumt wird. Würde diese Grenze tief angesetzt, würde aus dem
"wohlfeilen" Kauf ein ausgleichungspflichtiges Geschäft; würde sie hoch
angesetzt, unterlägen Verfügungen trotz erheblichen Missverhältnisses
und Schenkungsabsicht keiner Ausgleichung bzw. Herabsetzung. Hingegen
lassen sich die entgeltlichen - evtl. aber nicht ganz äquivalenten
- Verfügungen von den unentgeltlichen und damit auszugleichenden
bzw. herabzusetzenden Verfügungen in sinnvoller Weise dadurch abgrenzen,
dass nebst der objektiven Voraussetzung einer unentgeltlichen Zuwendung
auch die subjektive Voraussetzung der Zuwendungsabsicht gefordert wird:
Wenn bei einem Rechtsgeschäft, das unter objektiven Gesichtspunkten als
Grenzfall zu betrachten ist, eine Zuwendungsabsicht zu bejahen ist, erweist
es sich als ausgleichungspflichtig und gegebenenfalls als herabsetzbar;
umgekehrt stellen sich die erwähnten heiklen Abgrenzungsfragen nicht,
wenn es ohnehin an der Zuwendungsabsicht fehlt. Dies alles spricht dafür,
am Erfordernis einer subjektiven Komponente für die Ausgleichungs- und
Herabsetzungspflicht festzuhalten.

    cc) Eine andere Frage ist, ob den Parteien in subjektiver Hinsicht
die Zuwendungsabsicht tatsächlich bewusst sein musste, oder ob vom
Vorliegen der subjektiven Voraussetzung bereits dann auszugehen ist,
wenn die Zuwendungsabsicht erkennbar gewesen wäre, was bei einem
grobem Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung zu vermuten
wäre. Das Bundesgericht hat bereits in BGE 98 II 352 ff. erkannt,
dass unbefriedigende Ergebnisse auftreten können, wenn zur Zeit des
Vertragsabschlusses das Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung für
den Erblasser nicht bloss erkennbar, sondern von diesem auch tatsächlich
erkannt worden sein muss; in der Folge wurde dann aber ohne nähere
Begründung ausgeführt, "dass sich eine andere Lösung trotzdem nicht
rechtfertigen" lasse (E. 3b a.E., S. 359). An dieser Rechtsprechung
wurde von namhaften Autoren Kritik geübt, so dass es sich rechtfertigt,
bei Gelegenheit darauf einzugehen. Im vorliegenden Fall besteht dazu
indessen kein Anlass, weil unabhängig davon, ob tatsächliches Bewusstsein
gefordert wird oder blosse Erkennbarkeit genügen soll, die Berufung auf
jeden Fall unbegründet wäre. Das Obergericht hat aufgrund umfangreicher
Beweiserhebungen für das Bundesgericht verbindlich festgehalten,
dass das Vorliegen eines Schenkungswillens ausgeschlossen werden
könne. Diese Feststellung schliesst nicht nur aus, dass die Parteien
die Unentgeltlichkeit tatsächlich erkannt haben, sondern spricht auch
dagegen, dass sie wenigstens erkennbar gewesen sein soll, zumal sich die
Parteien nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz bei der
Preisgestaltung auf einen, wie die Vorinstanz feststellte, unabhängigen
Schatzungsexperten abgestützt haben. Dieser besondere Umstand wäre
geeignet, die Vermutung der Erkennbarkeit ausnahmsweise trotz eines
erheblichen Missverhältnisses umzustossen.