Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 126 III 10



126 III 10

4. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 11. Oktober 1999
i.S. X. gegen Y. (Berufung) Regeste

    Nebenfolgen der Ehescheidung; hypothetisches Einkommen des
Unterhaltspflichtigen (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG und Art. 63 Abs. 2 OG).

    Annahmen der Vorinstanz über hypothetische Geschehensabläufe, die auf
Schlussfolgerungen aus konkreten Anhaltspunkten beruhen, sind als Ergebnis
von Beweiswürdigung verbindlich. Vorbehalten bleiben Schlussfolgerungen,
die ausschliesslich auf allgemeiner Lebenserfahrung beruhen. Diese
Rechtsprechung gilt auch für Annahmen über hypothetische Einkommen (E. 2b).

Sachverhalt

    A.- Mit Urteil vom 12. März 1997 schied das Bezirksgericht Aarau
die Ehe von X. und Y. Im Rahmen der Regelung der Nebenfolgen entzog
es beiden Parteien die elterliche Gewalt über die Kinder A., geboren
am 5. Februar 1990, und B., geboren am 30. Dezember 1992, und wies
gleichzeitig die zuständige Vormundschaftsbehörde an, den Kindern einen
Vormund zu ernennen. Beiden Elternteilen wurde sodann ein Besuchsrecht
eingeräumt, und sie wurden ferner dazu verpflichtet, an den Unterhalt
ihrer Kinder beizutragen. Des weiteren wurde die Nebenfolgenvereinbarung
der Parteien vom 14./26. Februar 1996 in den Ziffern 5 bis 7 genehmigt, und
es wurde festgestellt, dass die Parteien mit dem Vollzug dieser Konvention
güterrechtlich per Saldo aller Ansprüche auseinander gesetzt seien.

    B.- Dieses Urteil focht Y. mit Appellation beim Obergericht des
Kantons Aargau an; X. erhob Anschlussappellation.

    Mit Urteil vom 23. April 1999 hiess das Obergericht Appellation und
Anschlussappellation teilweise gut und hob das erstinstanzliche Urteil
auf. Die Kinder A. und B. wurden unter die elterliche Gewalt der Klägerin
gestellt. Dem Beklagten wurde ein begleitetes Besuchsrecht eingeräumt;
er wurde verpflichtet, an den Unterhalt der Kinder monatlich vorschüssig
gestaffelte Unterhaltsbeiträge von Fr. 300.-, Fr. 350.- und Fr. 400.-
plus allfällig bezogene Kinderzulagen bis zur Mündigkeit bzw. bis zum
vorzeitigen Eintritt in die volle Erwerbstätigkeit zu bezahlen.

    C.- X. gelangt mit Berufung an das Bundesgericht und beantragt,
Dispositiv-Ziffer 4 des Urteils des Obergerichts aufzuheben und
festzustellen, dass er nicht verpflichtet sei, Unterhaltsbeiträge an
die beiden Kinder A. und B. zu leisten. Das Bundesgericht tritt auf die
Berufung nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Im angefochtenen Entscheid ist das Obergericht davon
ausgegangen, der Beklagte sei derzeit teilweise arbeitsunfähig, doch
könne er in Zukunft wieder ein Einkommen erzielen, wenn er keine Drogen
mehr konsumiere und psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehme. Über
seine Arbeits- und Erwerbsfähigkeit habe allerdings die IV-Stelle
und im Streitfall der Sozialversicherungsrichter zu befinden. Falls
die zuständige Instanz eine rentenbegründende Invalidität verneine,
so müsse davon ausgegangen werden, dass der Beklagte bei gutem Willen
mittelfristig wieder ein Arbeitseinkommen von Fr. 3'500.- bis Fr. 4'500.-
erzielen könne.

    Der Beklagte wirft dem Obergericht bundesrechtswidriges Vorgehen
vor, weil es ihn zur Leistung von Kinderunterhaltsbeiträgen verpflichtet
habe, obwohl er derzeit und auch mittelfristig keine Erwerbsfähigkeit
aufweise. Auf Grund der medizinischen Aktenlage sei nämlich offensichtlich,
dass er unmöglich das ihm vom Obergericht aufgerechnete Einkommen
erzielen könne. Dies gehe deutlich aus dem psychiatrischen Gutachten des
Inselspitals Bern hervor, worin ihm allein schon aus psychiatrischer Sicht
eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 60 % attestiert werde. Die
Argumentation im angefochtenen Urteil, dass er bei gutem Willen ein
Einkommen in der erwähnten Grössenordnung erreichen könne, stehe in
klarem Widerspruch zu diesem Gutachten, dem besonderer Beweiswert zukomme
und dessen Aussagekraft vom Obergericht denn auch nicht angezweifelt
worden sei.

    b) Annahmen der Vorinstanz über hypothetische Geschehensabläufe,
die auf Schlussfolgerungen aus konkreten Anhaltspunkten beruhen,
sind als Ergebnis von Beweiswürdigung verbindlich. Vorbehalten bleiben
Schlussfolgerungen, die ausschliesslich auf allgemeiner Lebenserfahrung
beruhen (BGE 115 II 440 E. 5b S. 448 f.). Diese Rechtsprechung gilt auch
für Annahmen über hypothetische Einkommen.

    Die Vorinstanz hat nicht übersehen, dass der Beklagte auf Grund
des psychiatrischen Gutachtens bloss zu 60% arbeitsfähig ist. Trotzdem
hat sie angenommen, mittels Drogenabstinenz und psychotherapeutischer
Behandlung liesse sich die Arbeitsfähigkeit klar verbessern. Mit einer
positiven Motivation wäre es dem Beklagten gemäss der IV-Stelle Bern denn
auch möglich, eine Eingliederungsmassnahme erfolgreich zu absolvieren;
der Beklagte habe während der vierwöchigen Abklärung fleissig und
ausdauernd gearbeitet und auch gute Leistungen erbracht. Die von ihm
begonnene Maschinenzeichnerlehre sei 1997 letztlich aus persönlichen,
nicht aus invaliditätsbedingten Gründen gescheitert. Das Obergericht
hat also seinen Schluss mit Bezug auf das hypothetische Einkommen aus
Indizien gezogen. Das beschlägt grundsätzlich die Beweiswürdigung, die
das Bundesgericht im Berufungsverfahren nicht überprüfen kann (BGE 117 II
256 E. 2b S. 258 mit Hinweisen). Die im Berufungsverfahren überprüfbare
Rechtsfrage, ob dem Beklagten ein hypothetisches Einkommen in dieser
Höhe auch zugemutet werden kann (vgl. BGE 117 II 16 E. 1a), wird nicht
aufgeworfen. Dagegen wird vorgebracht, es sei gerichtsnotorisch, dass
ein über längere Zeit stattgefundener Drogenmissbrauch mit chronischen
Auswirkungen einer Krankheit gleichkomme; sodann entspreche die Mutmassung
der Vorinstanz, wonach der Beklagte mittelfristig und bei gutem Willen
wieder ein Arbeitseinkommen von Fr. 3'500.- bis Fr. 4'500.- erzielen
könne, nicht der Gerichtsnotorietät. Im Berufungsverfahren überprüft das
Bundesgericht Schlüsse aus der allgemeinen Lebenserfahrung, soweit diese
über den konkreten Sachverhalt hinaus Bedeutung haben und gleichsam die
Funktion von Normen übernehmen (BGE 117 II 258 E. 2b mit Hinweisen). Diese
Regelfunktion kommt allerdings einem Erfahrungssatz nur zu, wenn das in ihm
enthaltene hypothetische Urteil, welches aus den in andern Fällen gemachten
Erfahrungen gewonnen wird, in gleich gelagerten Fällen allgemeine Geltung
für die Zukunft beansprucht, der Erfahrungssatz mithin einen solchen
Abstraktionsgrad erreicht hat, dass er normativen Charakter trägt. Wo
dagegen der Sachrichter sich bloss auf allgemeine Lebenserfahrung
stützt, um aus den gesamten Umständen des konkreten Falles oder den
bewiesenen Indizien auf einen bestimmten Sachverhalt zu schliessen, liegt
unüberprüfbare Beweiswürdigung vor (BGE 117 II 258 f. mit Hinweisen). Das
trifft hier zu, weshalb auf die Vorbringen des Beklagten nicht eingetreten
werden kann. Der Vorwurf, bei der Schlussfolgerung des Obergerichts handle
es sich um eine durch nichts belegte Prognose, ist ebenfalls unzulässige
Kritik an der Beweiswürdigung. Das Gleiche gilt für die Rüge, der Schluss
stehe zudem im Widerspruch zu den Akten, wird doch damit, ohne dass ein
offensichtliches Versehen im Sinne von Art. 55 Abs. 1 lit. d OG geltend
gemacht wird, einzig die Beweiswürdigung kritisiert.