Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 V 503



125 V 503

82. Urteil vom 18. Oktober 1999 i.S. H. gegen IV-Stelle für Versicherte
im Ausland und Eidgenössische Rekurskommission der AHV/IV für die im
Ausland wohnenden Personen Regeste

    Art. 33 Abs. 1 des Abkommens vom 25. Februar 1964 zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland
über Soziale Sicherheit: fristwahrende Wirkung der bei einem deutschen
Bürgermeisteramt gegen eine Rentenverfügung der schweizerischen IV-Stelle
für Versicherte im Ausland eingereichten Beschwerde.

    - Als "entsprechende Stelle" im Sinne von Art. 33 Abs. 1 des Abkommens
gilt die Stelle, welche in einem parallelen innerstaatlichen Verfahren
der anderen Vertragspartei zuständig wäre.

    - Der in § 91 des deutschen Sozialgerichtsgesetzes verankerte
Grundsatz, wonach Eingaben an unzuständige innerstaatliche Behörden
fristwahrende Wirkung haben und von Amtes wegen an die zuständige Behörde
weiterzuleiten sind, findet im Rahmen der Bestimmung von Art. 33 Abs. 1
des Abkommens Anwendung.

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 31. August 1998 sprach die IV-Stelle für
Versicherte im Ausland dem 1936 geborenen H., deutscher Staatsangehöriger,
rückwirkend ab 1. Oktober 1996 eine halbe Rente der Invalidenversicherung
zu.

    B.- Am 30. September 1998 gab H. beim Bürgermeisteramt K., Deutschland,
eine hiegegen gerichtete Beschwerde zu Protokoll, welche die Amtsstelle
am 7. Oktober 1998 der deutschen Post übergab. Mit Entscheid vom
17. März 1999 trat die Eidg. Rekurskommission der AHV/IV für die im
Ausland wohnenden Personen auf die Eingabe wegen Verspätung nicht ein.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt H. die nochmalige
Überprüfung des Falles sowie die Gewährung einer halben Invalidenrente
ab 1. September 1993 und einer ganzen Rente ab 1. Oktober 1996. Dabei
macht er geltend, die an die Eidg. Rekurskommission gerichtete Beschwerde
sei fristgerecht erfolgt.

    Während sich die IV-Stelle in ihrer Stellungnahme eines formellen
Antrages enthält, lässt sich das Bundesamt für Sozialversicherung nicht
vernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich gegen den
vorinstanzlichen Nichteintretensentscheid. Das Eidg. Versicherungsgericht
hat daher zu prüfen, ob die Vorinstanz zu Recht auf die bei ihr
erhobene Beschwerde nicht eingetreten ist. Dagegen kann auf den in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gestellten materiellen Antrag nicht
eingetreten werden (vgl. BGE 117 V 122 f. Erw. 1).

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 33 des Abkommens vom 25. Februar 1964 zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über
Soziale Sicherheit gelten Anträge, Erklärungen und Rechtsbehelfe, die
nach den Rechtsvorschriften der einen Vertragspartei bei einer Behörde,
einem Gericht, einem Träger oder einer anderen Stelle einzureichen
sind, als bei der zuständigen Stelle eingereicht, wenn sie bei einer
entsprechenden Stelle der anderen Vertragspartei eingereicht werden;
der Tag, an dem die Anträge, Erklärungen und Rechtsbehelfe bei dieser
Stelle eingehen, gilt als Tag des Eingangs bei der zuständigen Stelle
(Abs. 1). Die Anträge, Erklärungen und Rechtsbehelfe werden von der Stelle,
bei der sie eingereicht worden sind, unverzüglich an die zuständige Stelle
der anderen Vertragspartei weitergeleitet (Abs. 2).

    Zur Weiterleitung der bei einer unzuständigen Stelle der einen
Vertragspartei eingehenden Anträge, Erklärungen, Rechtsbehelfe und
anderen Unterlagen an zuständige Stellen der anderen Vertragspartei
können die Verbindungsstellen in Anspruch genommen werden (Art. 23 der
Vereinbarung vom 25. August 1978 zur Durchführung des Abkommens zwischen
der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland
über Soziale Sicherheit).

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall hat die Rekurskommission in für das Eidg.
Versicherungsgericht verbindlicher (Art. 105 Abs. 2 OG) und unbestrittener
Weise festgestellt, dass die Rentenverfügung dem Beschwerdeführer am 5.
September 1998 ausgehändigt worden ist (vgl. BGE 103 V 66 Erw. 2a; ZAK
1992 S. 370 Erw. 3a) und die Frist von 30 Tagen zur Einreichung eines
Rechtsmittels (Art. 69 IVG, Art. 84 Abs. 1 AHVG und Art. 50 VwVG) demnach
am 5. Oktober 1998 geendet hat (Art. 81 IVG, Art. 96 AHVG und Art. 20
Abs. 1 VwVG). Da einzig die Protokollaufgabe beim Bürgermeisteramt innert
dieser Frist erfolgt ist, stellt sich die Frage, ob der Versicherte damit
rechtzeitig Beschwerde erhoben hat.

Erwägung 4

    4.- a) Nach Massgabe von Art. 33 Abs. 1 des schweizerisch-deutschen
Abkommens gilt die vorliegend an die Eidg. Rekurskommission zu richtende
Beschwerde gegen die Rentenverfügung der IV-Stelle als fristgerecht
eingereicht, wenn sie innert der gleichen Frist bei einer "entsprechenden
Stelle" in Deutschland erhoben wird. Uneinigkeit besteht vorliegend
einzig in der Frage, ob das Bürgermeisteramt als "entsprechende Stelle"
im Sinne dieser staatsvertraglichen Bestimmung zu betrachten ist.

    b) Die Auslegung eines Staatsvertrages hat in erster Linie vom
Vertragstext auszugehen. Erscheint dieser klar und ist seine Bedeutung, wie
sie sich aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch sowie aus Gegenstand und Zweck
des Übereinkommens ergibt, nicht offensichtlich sinnwidrig, so kommt eine
über den Wortlaut hinausgehende ausdehnende bzw. einschränkende Auslegung
nur in Frage, wenn aus dem Zusammenhang oder der Entstehungsgeschichte
mit Sicherheit auf eine vom Wortlaut abweichende Willenseinigung der
Vertragsstaaten zu schliessen ist (BGE 124 V 228 Erw. 3a, 121 V 43 Erw. 2c,
117 V 269 Erw. 3b mit Hinweisen).

    c) Nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung von Art. 33 Abs. 1 des
schweizerisch-deutschen Abkommens (wie auch der analogen Normen in den
übrigen von der Schweiz geschlossenen Sozialversicherungsabkommen; z.B.
Frankreich: Art. 33 Abs. 1; Italien: Art. 21; Österreich: Art. 29;
Griechenland: Art. 25; Portugal: Art. 34; Dänemark: Art. 34; Belgien:
Art. 36 Abs. 1; Zypern: Art. 26) können die nach den Rechtsvorschriften
der einen Vertragspartei bei einer bestimmten Stelle (Behörde, Gericht,
Träger etc.) vorzunehmenden Rechtsvorkehren mit fristwahrender Wirkung
an die Stelle, welche nach den Vorschriften der anderen Vertragspartei
hiefür zuständig wäre, gerichtet werden. "Entsprechend" ist somit im
Sinne von "in einem parallelen innerstaatlichen Verfahren der anderen
Vertragspartei zuständig" zu verstehen. Dass damit, entgegen der Auffassung
der Vorinstanz, nicht die in Art. 35 Abs. 2 des schweizerisch-deutschen
Abkommens genannten Verbindungsstellen gemeint sind, ergibt sich auch, wenn
die Bestimmung von Art. 33 Abs. 1 des schweizerisch-deutschen Abkommens
im Zusammenhang mit Art. 23 der erwähnten schweizerisch-deutschen
Verwaltungsvereinbarung gelesen wird, wonach die "entsprechenden Stellen"
für die Weiterleitung solcher Eingaben die Verbindungsstellen in Anspruch
nehmen können.

    d) Damit bleibt vorliegend zu prüfen, ob gegen Bescheide der deutschen
Rentenversicherung bei Bürgermeisterämtern ein Rechtsmittel eingelegt
werden kann.

    Nach § 8 des deutschen Sozialgerichtsgesetzes vom 3. September 1953
(SGG) entscheiden die Sozialgerichte, soweit durch Gesetz nichts anderes
bestimmt ist, im ersten Rechtszug über alle Streitigkeiten, für die der
Rechtsweg vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit offensteht. Diese
Voraussetzung ist vorliegend erfüllt, da es um eine öffentlichrechtliche
Streitigkeit in einer Angelegenheit der Sozialversicherung geht,
für welche dieser Rechtsweg in § 51 Abs. 1 SGG vorgesehen ist. Mit der
Protokollaufgabe beim Bürgermeisteramt hat der Versicherte somit bei einer
Stelle Beschwerde erhoben, die auch nach deutschem innerstaatlichen Recht
in einem analogen Verfahren hiefür nicht zuständig wäre.

    Indessen kennt auch das deutsche Recht den Grundsatz, dass Eingaben
an unzuständige innerstaatliche Behörden fristwahrende Wirkung haben
und von Amtes wegen an die zuständige Behörde weiterzuleiten sind
(für das schweizerische Recht: BGE 111 V 406). Gemäss § 91 SGG gilt
die Frist für die Erhebung der Klage auch dann als gewahrt, wenn die
Klageschrift innerhalb der Frist statt bei dem zuständigen Gericht der
Sozialgerichtsbarkeit bei einer anderen inländischen Behörde oder bei einem
Versicherungsträger oder bei einer deutschen Konsularbehörde oder, soweit
es sich um die Versicherung von Seeleuten handelt, auch bei einem deutschen
Seemannsamt im Ausland eingegangen ist (Abs. 1). Die Klageschrift ist
alsdann unverzüglich an das zuständige Gericht der Sozialgerichtsbarkeit
abzugeben (Abs. 2). Dabei gelten als Behörden im Sinne von § 91 Abs. 1
SGG alle Stellen, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen
(JENS MEYER-LADEWIG, Sozialgerichtsgesetz, 6. Aufl., München 1998, S. 457,
N. 3 zu § 91).

    Da das Bürgermeisteramt diese Voraussetzung erfüllt, kommt der
bei ihm erfolgten Protokollaufgabe fristwahrende Wirkung zu. Wurde die
Beschwerde somit rechtzeitig erhoben, hat die Eidg. Rekurskommission auf
das Rechtsmittel einzutreten.