Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 V 499



125 V 499

81. Urteil vom 29. Oktober 1999 i.S. B. gegen Amt für Wirtschaft und
Arbeit des Kantons Thurgau und Rekurskommission des Kantons Thurgau für
die Arbeitslosenversicherung Regeste

    Art. 58 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK: richtig besetztes Gericht. Ein
erstinstanzlicher Entscheid, der ohne Mitwirkung des Gerichtssekretärs,
welchem gemäss der anwendbaren kantonalen Gesetzgebung beratende Stimme
(und zudem ausdrücklich ein Antragsrecht) zusteht, ergeht, ist wegen
Verletzung einer wesentlichen bundesrechtlichen Verfahrensvorschrift
(Anspruch der Parteien auf ein richtig besetztes Gericht) aufzuheben.

Sachverhalt

    A.- B., geboren 1945, lehnte einen ihm vom Regionalen
Arbeitsvermittlungszentrum X (RAV) im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms
vermittelten Einsatz im Pflegeheim Y (Pensum: 50%) unter Hinweis auf
seine Rückenbeschwerden ab. Das Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit des
Kantons Thurgau (neu: Amt für Wirtschaft und Arbeit, nachfolgend: AWA)
stellte ihn mit Verfügung vom 15. Februar 1999 wegen Ablehnung zumutbarer
Arbeit für 45 Tage ab 26. Januar 1999 in der Anspruchsberechtigung ein.

    B.- Die hiegegen vom Versicherten erhobene Beschwerde wies die
Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung
mit Entscheid vom 28. April 1999 ab.

    C.- B. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren um
Aufhebung des Entscheids vom 28. April 1999 und der Verfügung vom
15. Februar 1999.

    Das AWA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit (ab 1. Juli 1999: Staatssekretariat
für Wirtschaft) hat keine Vernehmlassung eingereicht.

    D.- Die Instruktionsrichterin hat die kantonale Rekurskommission
aufgefordert, zum Umstand Stellung zu nehmen, dass der Kommissionssekretär
laut Rubrum des Entscheids vom 28. April 1999 bei der Beschlussfassung
nicht mitgewirkt hat und der ausgefertigte Entscheid nur vom Präsidenten,
insbesondere nicht auch vom Sekretär, unterzeichnet worden ist. Die
Rekurskommission hat sich am 24. August 1999 vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Im Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde hat das Eidg.
Versicherungsgericht das Recht von Amtes wegen anzuwenden (Art. 114
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 132 OG). Im Rahmen dieser Rechtsanwendung
von Amtes wegen prüft es u.a., ob der angefochtene Entscheid Bundesrecht
verletzt (Art. 104 lit. a in Verbindung mit Art. 132 OG). Es kann eine
Verwaltungsgerichtsbeschwerde aus andern als den vom Beschwerdeführer
vorgetragenen Gründen gutheissen, hat sich also nicht auf die Prüfung der
von jenem erhobenen Rügen zu beschränken (BGE 124 V 340 Erw. 1b, 122 V
36 Erw. 2b, 119 V 442 f. Erw. 1a, 349 f. Erw. 1a und 28 Erw. 1b, 110 V 20
Erw. 1; KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des
Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, S. 40 Rz. 114 und 116). Im Sinne dieser
Grundsätze prüft das Gericht nach konstanter Rechtsprechung namentlich
von Amtes wegen, ob die Vorinstanz bundesrechtliche Verfahrensvorschriften
verletzt hat, beispielsweise Vorschriften über die Zuständigkeit (BGE 122
V 322 Erw. 1, 107 V 248 Erw. 1b) oder die Gewährleistung des rechtlichen
Gehörs (BGE 120 V 362 Erw. 2a, 107 V 248 f. Erw. 1b; siehe auch BGE 107
Ib 175 f. Erw. 3). Wurden wesentliche Verfahrensvorschriften verletzt,
hebt das Gericht - vorbehältlich einer allfälligen Heilung des Fehlers im
letztinstanzlichen Verfahren etwa im Zusammenhang mit Gehörsverletzungen -
den angefochtenen Entscheid auf (BGE 122 V 322 Erw. 1, 120 V 362 f. Erw. 2a
und b; ebenso BGE 107 Ib 175 f. Erw. 3).

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 58 Abs. 1 BV darf niemand seinem verfassungsmässigen
Richter entzogen werden. Als "verfassungsmässiger Richter" gilt, wer
in Übereinstimmung mit der durch Rechtssatz (Verfassung, Gesetz oder
Verordnung des Bundes oder eines Kantons) bestimmten Gerichtsordnung
tätig wird (RHINOW/KOLLER/KISS, Öffentliches Prozessrecht und
Justizverfassungsrecht des Bundes, Basel/Frankfurt am Main 1996, S. 33
Rz. 142; JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl., Bern
1999, S. 569; HÄFELIN/HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 4. Aufl.,
Zürich 1998, S. 540 Rz. 1656). Die genannte Verfassungsbestimmung verleiht
den Prozessparteien insbesondere einen Anspruch auf richtige Besetzung
des Gerichts (BGE 102 Ia 499 Erw. 2b, 91 I 399), was u.a. bedeutet, dass
dieses in vollständiger Besetzung entscheiden muss (BGE 92 I 336 Erw. 2;
RHINOW/KOLLER/KISS, aaO, S. 34 Rz. 144; JÖRG PAUL MÜLLER, aaO, S. 569
f.). Aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK, welcher im sozialversicherungsrechtlichen
Leistungs- und Beitragsprozess anwendbar ist (BGE 122 V 50 f. Erw. 2a,
121 V 110 f. Erw. 3a, 119 V 378 f. Erw. 4b/aa) und jedermann u.a. Anspruch
darauf verleiht, dass seine Sache von einem auf Gesetz beruhenden Gericht
gehört wird, ergeben sich im Zusammenhang mit dem Anspruch auf richtige
Besetzung des Gerichts keine gegenüber Art. 58 Abs. 1 BV erweiterten
Garantien zu Gunsten der Verfahrensbeteiligten (HÄFELIN/HALLER, aaO,
S. 542 Rz. 1660b).

    b) Im Zusammenhang mit dem ebenfalls aus Art. 58 Abs. 1 BV und
zudem aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK abgeleiteten Anspruch der Parteien auf ein
unabhängiges und unparteiisches Gericht hat die Rechtsprechung wiederholt
erkannt, dass auch die Gerichtsschreiber den entsprechenden verfassungs-
und konventionsrechtlichen Anforderungen genügen müssen, sofern sie
Einfluss auf die Urteilsfindung haben können, was namentlich der Fall ist,
wenn sie an der Entscheidung mit beratender Stimme mitwirken (BGE 124 I
262 Erw. 4c und 264 f. Erw. 5c/aa, 119 V 317 Erw. 4c, 119 Ia 84 Erw. 3,
115 Ia 228 ff. Erw. 7b; RHINOW/KOLLER/KISS, aaO, S. 41 Rz. 185). Sodann hat
das Bundesgericht im nicht veröffentlichten Urteil Sch. vom 22. Januar
1999 entschieden, dass die Garantie der richtigen und vollständigen
Besetzung des Gerichts auch auf Gerichtsschreiber, welche Einfluss auf
die Willensbildung des Spruchkörpers haben können, anwendbar ist.

    c) Anzumerken ist, dass gemäss BGE 114 Ia 144 f. Erw. 3b die
Möglichkeit, ein Urteil bei einer ordentlichen Rechtsmittelinstanz
anzufechten, am allfälligen Mangel in der Besetzung der Richterbank nichts
zu ändern vermag; die hievor angeführten, aus Art. 58 Abs. 1 BV und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK fliessenden Ansprüche müssen im erstinstanzlichen
Verfahren gewährleistet werden; eine Heilung im Verfahren der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist nicht möglich (RHINOW/KOLLER/KISS, aaO,
S. 40 Rz. 179).

Erwägung 3

    3.- a) Gemäss der Verordnung des Verwaltungsgerichts des Kantons
Thurgau über die Organisation und den Geschäftsgang der Rekurskommissionen
vom 24. November 1993 (Thurgauer Rechtsbuch, 173.31), welche u.a. auf
die Rekurskommission für die Arbeitslosenversicherung anwendbar ist (§
1 Ziff. 6), wählen die Kommissionen einen Sekretär (§ 4 Abs. 1 Ziff. 1),
welcher in der Regel die Entscheide redigiert (§ 6 Abs. 1 und § 14 Abs. 1),
an der Beschlussfassung mit beratender Stimme und dem Recht, Anträge zu
stellen, mitwirkt (§ 12 Abs. 2) und die Entscheide der Kommission zusammen
mit dem Vorsitzenden unterzeichnet (§ 15).

    b) Die Vorinstanz bestreitet den aus dem angefochtenen Entscheid
ersichtlichen Umstand nicht, dass der Sekretär vorliegend weder an der
Beratung mitgewirkt noch den Entscheid mitunterzeichnet hat. In ihrer
Stellungnahme vom 24. August 1999 führt sie aus, sie habe bis 1996 auf
die Wahl eines Sekretärs überhaupt verzichtet. Seit 1997 habe zunächst
eine Kommissionssekretärin, seit Oktober 1998 der Kommissionssekretär bei
einem Teil der Fälle mit beratender Stimme mitgewirkt, die Urteilsredaktion
besorgt und die Entscheide mitunterzeichnet. Die Kommission habe namentlich
§ 12 Abs. 2 und § 15 der Verordnung nicht als zwingende Vorschriften
qualifiziert. Im Übrigen sei den Parteien aus der Nichtmitwirkung des
Kommissionssekretärs kein Nachteil erwachsen; diesem stehe nur eine
beratende Stimme und ein Antragsrecht zu, der "massgebliche Spruchkörper
mit effektiver Stimmberechtigung (sei) somit in allen Fällen korrekt
zusammengesetzt" gewesen.

    c) Es mag durchaus zutreffen, dass die Vorinstanz, wie sie geltend
macht, in guten Treuen die Geschäfte im von ihr dargelegten Sinn erledigt
hat. Das ändert aber nichts daran, dass die von ihr auch vorliegend
gewählte Verfahrensweise mit dem massgeblichen Verordnungsrecht nicht
vereinbar ist. Die Beachtung desselben ist keineswegs in das Belieben
der Rekurskommission gestellt. Vielmehr haben die Prozessparteien, wie
unter Erwägung 2a dargelegt, einen bundesrechtlich (Art. 58 Abs. 1 BV,
Art. 6 Ziff. 1 EMRK) geschützten Anspruch darauf, dass die Gerichtsbehörde
in der durch Verfassung, Gesetz oder Verordnung festgelegten Besetzung
entscheidet. Nicht stichhaltig ist sodann der Einwand der Vorinstanz,
den Parteien sei aus der Nichtmitwirkung des Kommissionssekretärs
bei der Entscheidfindung kein Nachteil erwachsen. In Erwägung 2b ist
dargelegt, dass die Garantien von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1
EMRK auf jene Gerichtsschreiber anwendbar sind, die Einfluss auf den
Entscheid der Gerichtsbehörde haben können. Dies ist hinsichtlich des
Kommissionssekretärs der Vorinstanz in ausgeprägtem Masse der Fall,
steht ihm doch nicht nur die beratende Stimme, sondern ausdrücklich ein
Antragsrecht zu. Indem die Vorinstanz ohne dessen Mitwirkung beraten
und entschieden hat, hat sie gegen Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff.
1 EMRK verstossen. Da die Möglichkeit der Heilung dieses Verfahrensfehlers
nicht besteht (Erw. 2c) und es sich um die Verletzung einer im Sinne
der Rechtsprechung wesentlichen Vorschrift handelt, ist der angefochtene
Entscheid aufzuheben (Erw. 1).

Erwägung 4

    4.- Da der angefochtene Entscheid aus den dargelegten Gründen
aufzuheben ist, kann offen bleiben, welche Rechtsfolgen sich aus dem
Umstand ergäben, dass der Entscheid nicht vom Kommissionsschreiber
mitunterzeichnet wurde.