Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 V 475



125 V 475

78. Urteil vom 4. November 1999 i.S. Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen
gegen K. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 23 Abs. 1 und 3, Art. 24 Abs. 3 AVIG: Bestimmungsfaktoren für den
versicherten Verdienst. Der versicherte Verdienst beschränkt sich auf das
aus der normalen Arbeitnehmertätigkeit resultierende Einkommen, auch wenn
mit einem Nebenerwerb verhältnismässig höhere Einkünfte erzielt werden.

Sachverhalt

    A.- Der 1964 geborene K. arbeitete seit dem 15. Oktober 1994 als
Jugendarbeiter und Religionslehrer bei der Kirchgemeinde X (im Folgenden:
Kirchgemeinde). Es handelte sich dabei um eine Vollzeitbeschäftigung von
42 Wochenstunden, dies bei einer Normalarbeitszeit der Kirchgemeinde
von 42 Wochenstunden. Diese Stelle kündigte die Arbeitgeberin auf den
31. August 1997. Seit dem 4. Februar 1997 war K. ausserdem als Ausbildner
und Kursleiter bei der Asyl-Organisation für den Kanton Y (im Folgenden:
Asyl-Organisation) tätig. Die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit belief
sich auf 16,8 Wochenstunden, während die Normalarbeitszeit des Betriebes
42 Wochenstunden betrug. Auf diese umgerechnet, versah K. somit eine
40%-Stelle. Dieses Arbeitsverhältnis wurde auf den 31. Juli 1997 aufgelöst.

    Ab 1. August 1997, also ab dem Zeitpunkt des Verlustes des 40%-Pensums
bei der Asyl-Organisation, beantragte K. Arbeitslosenentschädigung. Mit
Taggeldabrechnung vom 2. Oktober 1997 für den Monat September setzte
die Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen den Beginn der Rahmenfrist
für den Leistungsbezug auf den 1. September 1997, d.h. auf den Zeitpunkt
des Verlustes der 100%-Stelle bei der Kirchgemeinde fest. Gleichzeitig
veranschlagte sie den versicherten Verdienst auf Fr. 5'054.--, und zwar
nach Massgabe des bei der Kirchgemeinde erzielten Lohnes, der sich laut
Arbeitgeberbescheinigung vom 2. Juli 1997 auf monatlich Fr. 4'665.25
zuzüglich Anteil des 13. Monatslohnes in der Höhe von Fr. 388.75 belief.

    B.- Beschwerdeweise machte K. geltend, er habe Taggeldanspruch auf
der Basis aller beitragspflichtigen Einkommen der letzten sechs Monate vor
Eintritt der Arbeitslosigkeit, auch wenn der Beschäftigungsgrad von 100%
überschritten werde. Nachdem eines der beiden Arbeitsverhältnisse bereits
auf Ende Juli 1997 beendet worden sei, habe er sich für August 1997 als
teilarbeitslos gemeldet, jedoch für diesen Monat keine Leistungen erhalten.

    In Gutheissung der Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen die Taggeldabrechnung der Arbeitslosenkasse vom 2. Oktober 1997
auf und wies die Sache an diese zurück, damit sie - in Berücksichtigung
der Tätigkeit bei der Asyl-Organisation - über den Taggeldanspruch ab
August 1997 neu verfüge (Entscheid vom 20. Oktober 1998).

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Arbeitslosenkasse,
der kantonale Entscheid sei aufzuheben. K. und das Bundesamt für Wirtschaft
und Arbeit (ab 1. Juli 1999: Staatssekretariat für Wirtschaft) lassen
sich nicht vernehmen.

    D.- Am 4. November 1999 hat das Eidg. Versicherungsgericht eine
parteiöffentliche Beratung durchgeführt.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Abrechnung des Monats September 1997 vom 2. Oktober 1997
kommt materiell Verfügungscharakter zu. Denn sie stellt eine behördliche
Anordnung dar, mit welcher der Entschädigungsanspruch für die in Frage
stehende Kontrollperiode verbindlich festgelegt wird (BGE 122 V 368
Erw. 2 mit Hinweisen). Das kantonale Gericht ist deshalb zu Recht auf
die hiegegen eingereichte Beschwerde eingetreten.

Erwägung 2

    2.- Streitig ist einerseits, ob der Beschwerdegegner infolge
der Auflösung des Arbeitsverhältnisses mit der Asyl-Organisation
auf den 31. Juli 1997 im Monat August 1997 als teilweise
arbeitslos gilt. Anderseits ist der ab 1. September 1997 der
Arbeitslosenentschädigung zu Grunde liegende versicherte Verdienst
zu prüfen.

Erwägung 3

    3.- a) Eine der Voraussetzungen für den Bezug von
Arbeitslosentaggeldern ist das Vorliegen einer ganzen oder teilweisen
Arbeitslosigkeit (Art. 8 Abs. 1 lit. a AVIG). Als ganz arbeitslos gilt,
wer in keinem Arbeitsverhältnis steht und eine Vollzeitbeschäftigung
sucht (Art. 10 Abs. 1 AVIG). Als teilweise arbeitslos gilt, wer in keinem
Arbeitsverhältnis steht und lediglich eine Teilzeitbeschäftigung sucht
(Art. 10 Abs. 2 lit. a AVIG) oder eine Teilzeitbeschäftigung hat und eine
Vollzeit- oder eine weitere Teilzeitbeschäftigung sucht (Art. 10 Abs. 2
lit. b AVIG).

    b) Es steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner im
Zeitpunkt, in welchem er die Beschäftigung bei der Asyl-Organisation
verlor (Ende Juli 1997), über eine Anstellung bei der Kirchgemeinde
verfügte. Diese dauerte noch bis Ende August 1997. Als Arbeitszeit waren -
wie betriebsüblich - 42 Stunden vereinbart. Der Beschwerdegegner stand
daher im Monat August 1997 in einem Arbeitsverhältnis und ging einer
Vollzeitbeschäftigung nach. Er war demnach in dieser Zeit weder ganz noch
teilweise arbeitslos (ARV 1996/97 Nr. 4 S. 11).

    (Ganz) arbeitslos wurde der Beschwerdegegner erst mit der Auflösung
der Vollzeitbeschäftigung bei der Kirchgemeinde auf Ende August 1997. Die
Arbeitslosenkasse hat somit richtig gehandelt, als sie Arbeitslosigkeit
ab 1. September 1997 angenommen und den Beginn der Rahmenfrist für den
Leistungsbezug auf diesen Zeitpunkt festgesetzt hat.

Erwägung 4

    4.- a) Gemäss Art. 23 Abs. 1 erster Teilsatz AVIG gilt als versicherter
Verdienst der im Sinne der AHV-Gesetzgebung massgebende Lohn, der während
eines Bemessungszeitraumes aus einem oder mehreren Arbeitsverhältnissen
normalerweise erzielt wurde.

    Nicht versichert ist ein Nebenverdienst. Als solcher gilt jeder
Verdienst, den ein Versicherter ausserhalb seiner normalen Arbeitszeit
als Arbeitnehmer oder ausserhalb des ordentlichen Rahmens seiner
selbstständigen Erwerbstätigkeit erzielt (Art. 23 Abs. 3 AVIG).

    b) Das kantonale Gericht vertritt die Auffassung, es sei dem
Beschwerdegegner von den jeweiligen Arbeitszeiten her möglich gewesen, die
Tätigkeit bei der Kirchgemeinde und diejenige bei der Asyl-Organisation
nebeneinander auszuüben. Deshalb stelle der Beschäftigungsgrad
von insgesamt 140% den Normalfall im Sinne von Art. 23 Abs. 1 AVIG
dar. Insbesondere könne auf Grund der Höhe der bei der Asyl-Organisation
in der Zeit vom 4. Februar bis 31. Juli 1997 erzielten Einkünfte
(Fr. 33'613.45) nicht von einem Nebenverdienst ausgegangen werden, zumal
sie den im gleichen Zeitraum bei der Kirchgemeinde verdienten Lohn (6 x
Fr. 5'054.-- = Fr. 30'324.--) überstiegen.

Erwägung 5

    5.- a) Den vorinstanzlichen Ausführungen kann nicht beigepflichtet
werden.

    In BGE 116 V 281 hat das Eidg. Versicherungsgericht den unbestimmten
Rechtsbegriff "normalerweise" in Art. 23 Abs. 1 erster Teilsatz AVIG
im Zusammenhang mit einer Überzeitentschädigung ausgelegt. Dabei hat es
festgehalten, dass das AVIG den versicherten Personen einen angemessenen
Ersatz für Erwerbsausfälle u.a. wegen Arbeitslosigkeit garantieren
will. Eine Entschädigung für ausgefallene Überzeitarbeit widerspräche
dem auch in anderen Bereichen des Gesetzes zum Ausdruck kommenden
Grundgedanken der Arbeitslosenversicherung: Diese soll nur für eine normale
übliche Arbeitnehmertätigkeit Versicherungsschutz bieten, dagegen keine
Entschädigung für Erwerbseinbussen ausrichten, die aus dem Ausfall einer
Überbeschäftigung stammen (BGE 116 V 283 Erw. 2d mit Hinweisen).

    Im Hinblick auf diese Ziele erwog das Eidg. Versicherungsgericht im
nicht veröffentlichten Urteil H. vom 2. September 1996 - in welchem es
um die Ausscheidung des Nebenverdienstes bei einem Versicherten ging,
der im Bemessungszeitraum für den versicherten Verdienst bei einem
Arbeitgeber nahezu eine Vollzeit- und bei einem zweiten ungefähr eine
Halbzeitbeschäftigung ausübte -, dass es darum richtig ist, den Verdienst
ausser Acht zu lassen, der ausserhalb einer normalen üblichen Arbeitszeit
erzielt wird. Wie GERHARDS (Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz,
Bd. I, N. 54 zu Art. 23), auf den im erwähnten Urteil Bezug genommen
wird, ausführt, liegt ein Nebenverdienst ausserhalb der in Art. 23 Abs. 1
AVIG festgeschriebenen Normalität; er hat ausserordentlichen Charakter,
und zwar auch dann, wenn ein Versicherter durch eine Nebentätigkeit ein
höheres Einkommen erzielt als durch die eigentliche Haupttätigkeit.

    b) Im hier zu beurteilenden Fall verhält es sich so, dass der
Beschwerdegegner bei der Kirchgemeinde einer Vollzeitbeschäftigung
nachging, und zwar im Rahmen seiner normalen Arbeitszeit als Arbeitnehmer,
welche betriebsübliche 42 Wochenstunden betrug. Dagegen lag die
Tätigkeit bei der Asyl-Organisation bei 16,8 Wochenstunden; dies bei
einer betriebsüblichen Arbeitszeit von 42 Wochenstunden. Hiebei handelt
es sich somit um einen Verdienst, den der Beschwerdegegner "ausserhalb
seiner normalen Arbeitszeit als Arbeitnehmer" (Art. 23 Abs. 3 Satz 2 AVIG)
erzielt hat.

    Entgegen der Ansicht der Vorinstanz spielt es keine Rolle, in welchem
Verhältnis der Nebenverdienst zu dem aus der Haupttätigkeit erzielten
Lohn steht. Quantitativ massgebend ist einzig, dass der Nebenerwerb über
eine normale übliche Arbeitnehmertätigkeit hinausgeht und darum nicht
versichert ist.

    c) Die Arbeitslosenkasse hat daher zu Recht nur den bei der
Kirchgemeinde bezogenen Lohn als versicherten Verdienst berücksichtigt,
wobei dessen rechnerische Festlegung auf Fr. 5'054.-- (einschliesslich
des anteiligen 13. Monatslohnes) nicht umstritten ist.

Erwägung 6

    6.- a) Auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist die in BGE
123 V 230 und im nicht veröffentlichten Urteil P. vom 12. Januar 1999
ergangene Rechtsprechung zur Tragweite des Nebenverdienstes im Rahmen
von Zwischenverdienst (Art. 24 Abs. 3 AVIG).

    In BGE 123 V 230 war streitig, ob eine seit Beginn der Arbeitslosigkeit
erfolgte Ausweitung einer bisherigen Nebenbeschäftigung, die nun allein
weitergeführt wurde, diese zur Zwischenbeschäftigung werden lässt. Dazu
hat das Eidg. Versicherungsgericht u.a. ausgeführt, würde der zur
Hauptbeschäftigung zusätzlich erzielte Verdienst regelmässig nahe an
den Hauptverdienst herankommen oder diesen gar übersteigen, könnte die
Tätigkeit nicht mehr als Nebenbeschäftigung und das dabei realisierte
Einkommen nicht mehr als Nebenverdienst bezeichnet werden (BGE 123 V 233
Erw. 3c). In der Folge erkannte es im Urteil P. vom 12. Januar 1999,
dass das neben der Vollzeitbeschäftigung erwirtschaftete Einkommen,
das höher war als der Lohn aus der Vollzeittätigkeit, zum versicherten
Verdienst gehört. Die Streitsache hatte sich um die Frage gedreht, ob
das Einkommen, das die versicherte Person (am Abend und am Wochenende)
parallel neben dem - weniger einträglichen - vollzeitlichen Besuch eines
Beschäftigungsprogrammes erzielte, als Zwischenverdienst gilt.

    b) Diese unterschiedliche Rechtsprechung liegt in der ungleichen
Sachverhaltskonstellation begründet. Denn in BGE 123 V 230 wurden
die fraglichen Einkünfte während der kontrollierten Arbeitslosigkeit
erzielt, und die im Urteil P. vom 12. Januar 1999 nach Eintritt der
Arbeitslosigkeit ausgeübte vollzeitliche Haupttätigkeit erfolgte im
Rahmen einer vorübergehenden Beschäftigung nach Art. 72 Abs. 1 AVIG,
welche subsidiärer Natur ist; sie kann erst dann zugesprochen werden, wenn
dem Versicherten keine zumutbare Beschäftigung zugewiesen werden kann und
keine andere arbeitsmarktliche Massnahme angezeigt ist (Art. 72a Abs. 1
AVIG; BGE 125 V 362). Damit verfügten die Versicherten - anders als hier
- über keine "normale" Tätigkeit, in Bezug auf die sich die Frage einer
"ausserhalb" davon geleisteten Arbeit (und die Berücksichtigung des daraus
erzielten Einkommens) hätte stellen können.