Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 V 435



125 V 435

71. Auszug aus dem Urteil vom 20. Dezember 1999 i.S. H. gegen Visana und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern Regeste

    25 Abs. 1, Art. 41 und 42 Abs. 1 KVG; Art. 163 Abs. 1 sowie Art. 276
Abs. 1 und 2 ZGB: Ärztliche Behandlung durch einen Elternteil. Die
Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung erstreckt
sich auch auf ärztliche Behandlungen durch einen Elternteil des
versicherten Kindes.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Streitig und zu prüfen ist, ob und bejahendenfalls inwieweit die
Krankenversicherung für die medizinischen Leistungen, die eine Ärztin
oder ein Arzt dem eigenen Kind erbringt, aufzukommen hat.

Erwägung 3

    3.- a) Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt
die Kosten für die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer
Krankheit und ihrer Folgen dienen (Art. 25 Abs. 1 KVG). Haben Versicherer
und Leistungserbringer nichts anderes vereinbart, so schulden gemäss
Art. 42 KVG die Versicherten den Leistungserbringern die Vergütung
der Leistung, wobei sie gegenüber dem Versicherer einen Anspruch auf
Rückerstattung (im Sinne der Erstattung oder Vergütung) haben (System
des Tiers garant). Ein Anspruch auf Erstattung des Honorars eines
freipraktizierenden Leistungserbringers durch den Versicherer besteht
jedoch nur, wenn eine solche Honorarforderung nach den zivilrechtlichen
Voraussetzungen gegeben ist (vgl. EUGSTER, Krankenversicherung, in:
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Rz. 327 Fn. 787).

    b) Gemäss Art. 163 Abs. 1 ZGB sorgen die Ehegatten gemeinsam,
ein jeder nach seinen Kräften, für den gebührenden Unterhalt der
Familie. Sie haben insbesondere auch für den Unterhalt des Kindes
aufzukommen (Art. 276 Abs. 1 ZGB), wobei dieser üblicherweise in natura
geleistet wird, indem dem Kind in der häuslichen Gemeinschaft Pflege
und Erziehung erwiesen werden. Zum gebührenden Unterhalt gehört auch die
Bezahlung von Beiträgen an die Sozialversicherungen (BRÄM/HASENBÖHLER,
Zürcher Kommentar, N. 34 zu Art. 163 ZGB). Mit der Argumentation,
wonach die durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung gedeckten
Behandlungskosten zum gebührenden Familienunterhalt gemäss Art. 163
und 276 ZGB zu zählen seien, verkennt die Vorinstanz, dass dieser
Unterhalt in einer Rechtsordnung mit dem System der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung, welche die fraglichen Leistungen abdeckt, durch
die Bezahlung der Versicherungsprämien und der Kosten des Selbstbehaltes
sowie der Franchise geleistet wird. (...). Von den Eltern kann deshalb
unter dem Gesichtswinkel der familienrechtlichen Unterhaltspflicht nicht
gefordert werden, dass sie die ärztliche Behandlung für ihr Kind neben der
gemeinsamen Tragung der Prämien und übrigen Kosten leisten. Zum Unterhalt
nach Art. 163 und 276 ZGB gehören zwar auch die Gesundheitskosten; mit
dem Versicherungsobligatorium ist aber die Frage, inwieweit medizinische
Behandlungen zum Unterhalt zu zählen sind, weitgehend hinfällig geworden
(vgl. HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Berner Kommentar, N. 16a zu Art. 163 ZGB).
Diejenigen Behandlungen des eigenen Kindes durch einen Elternteil, die
von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen sind,
können somit nicht als Beitragsart betrachtet werden. (...)

Erwägung 4

    4.- Zu prüfen ist des Weiteren, ob sich ein Kind statt von einem
andern Arzt von einem Elternteil zu Lasten der Krankenversicherung
behandeln lassen kann.

    a) Art. 41 KVG garantiert den Versicherten freie Arztwahl. Diese
Bestimmung sieht in keiner Weise eine Einschränkung dahingehend vor, dass
ein Kind nicht durch einen Elternteil ärztlich behandelt werden könnte,
sondern einem Dritten zugeführt werden müsste.

    b) Bezüglich Gültigkeit des Rechtsgeschäfts und einer allfällig
daraus resultierenden Honorarforderung ist zu prüfen, ob die Eltern als
gesetzliche Vertreter das der ärztlichen Behandlung zu Grunde liegende
Auftragsverhältnis überhaupt begründen können. Diese Frage ist zu bejahen,
weil das Kind durch das Vertragsverhältnis nur begünstigt, nicht aber
verpflichtet wird und deshalb das Selbstkontrahieren erlaubt ist (HEGNAUER,
Berner Kommentar, N. 12 zu altArt. 282 ZGB).

Erwägung 6

    6.- Zusammengefasst gilt das Recht auf freie Arztwahl auch im
Eltern-Kind-Verhältnis. Da den entsprechenden medizinischen Leistungen ein
Rechtsverhältnis zu Grunde liegt und in einer Rechtsordnung mit dem System
der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nicht verlangt werden kann,
dass unter dem Gesichtswinkel der familienrechtlichen Unterhaltspflicht
die ärztliche Behandlung neben der Tragung der Prämien und übrigen Kosten
geleistet wird, ist der Mutter der Versicherten als Leistungserbringerin
auch für die Kosten der Behandlung ein Honoraranspruch entstanden, wobei
grundsätzlich ein Anspruch auf Rückerstattung gegenüber dem Versicherer
besteht. Dem Krankenversicherer obliegt die massliche Überprüfung der
Forderung.