Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 V 396



125 V 396

64. Urteil vom 18. Oktober 1999 i.S. B. gegen Ausgleichskasse für das
Schweizerische Bankgewerbe und Versicherungsgericht des Kantons Aargau
Regeste

    Art. 81 Abs. 1 SchKG; Art. 128 Abs. 1 AHVV: Vollstreckung
öffentlichrechtlicher Geldforderungen; Verjährung/Verwirkung; Rechtsweg. Ob
bezüglich einer formell rechtskräftig verfügten Witwenabfindung (alt
Art. 24 AHVG) die Vollstreckungsverjährung oder -verwirkung eingetreten
ist, kann sowohl im Rechtsöffnungsverfahren vom Rechtsöffnungsrichter
als auch, als Frage des materiellen Rechts, von der Verwaltung mittels
Verfügung und auf Beschwerde hin vom Sozialversicherungsrichter entschieden
werden.

Sachverhalt

    A.- B., geboren 1959, meldete sich, nachdem ihr Ehemann am 11. Dezember
1986 verstorben war, am 15. Januar 1987 zum Leistungsbezug bei der AHV
an; sie ersuchte um Überweisung der ihr zustehenden Betreffnisse auf ihr
Konto bei der Ersparniskasse X (PC-Konto Y). Die Ausgleichskasse für das
Schweizerische Bankgewerbe sprach ihr mit Verfügung vom 11. März 1987
eine Witwenabfindung im Betrag von Fr. 41'472.-- zu. Der Betrag wurde
noch gleichentags ausbezahlt, versehentlich aber auf das auf den Namen
einer Drittperson lautende PC-Konto Z.

    Im Juli 1996 ersuchte B. um Überweisung der Witwenabfindung. Die
Ausgleichskasse entdeckte nunmehr den am 11. März 1987 begangenen Fehler
und machte gegenüber der nicht berechtigten Drittperson eine Rückforderung
geltend. B. erhob am 18. August 1997 beim Friedensrichteramt Klage gegen
die Ausgleichskasse auf Bezahlung der Witwenabfindung samt Zinsen und
Kosten, führte den Prozess aber in der Folge nicht weiter. Im Anschluss
an eine durch die Versicherte veranlasste Intervention des Bundesamtes
für Sozialversicherung (BSV) bei der Ausgleichskasse lehnte diese mit
Verfügung vom 9. März 1998 die Auszahlung der Witwenabfindung an B. ab
mit der Begründung, der Anspruch sei seit Februar 1992 verwirkt.

    B.- Die Versicherte erhob am 17. März 1998 Beschwerde mit dem
sinngemässen Begehren um Verpflichtung der Ausgleichskasse zur
Bezahlung der Witwenabfindung. Das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau trat mit Entscheid vom 25. August 1998 auf die Beschwerde nicht
ein mit der Begründung, über den Anspruch auf Witwenabfindung habe die
Ausgleichskasse mit Verfügung vom 11. März 1987 rechtskräftig entschieden;
über die Vollstreckung jener Verfügung habe der gemäss Bundesgesetz über
Schuldbetreibung und Konkurs zuständige Richter zu befinden.

    C.- B. erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren um
Verpflichtung der Vorinstanz, auf die Beschwerde einzutreten.

    Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das BSV hat keine Vernehmlassung
eingereicht.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich gegen den
Nichteintretensentscheid des kantonalen Gerichts. Streitig ist demnach
einzig, ob dieses zu Recht auf die Beschwerde vom 17. März 1998 nicht
eingetreten ist.

    Die Vorinstanz hat erwogen, auf die Beschwerde könne nicht eingetreten
werden, soweit und sofern mit dieser beantragt werde, die Ausgleichskasse
sei zu verpflichten, über den Anspruch auf Witwenabfindung zu verfügen. Da
die Ausgleichskasse bereits am 11. März 1987 mit in formelle Rechtskraft
erwachsener Verfügung der Beschwerdeführerin eine Witwenabfindung
zugesprochen hat, verneinte das kantonale Gericht insoweit zu Recht ein
Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführerin. Anzumerken ist, dass die
Ausgleichskasse ihrerseits nicht befugt wäre, auf ein allfälliges Gesuch
der Beschwerdeführerin, erneut über den Anspruch auf Witwenabfindung zu
verfügen, einzutreten; nach der Rechtsprechung ist die Verwaltung nicht
berechtigt, nach rechtskräftiger Erledigung eines Versicherungsfalles
durch voraussetzungslosen Erlass einer zweiten Verfügung betreffend das
gleiche Rechtsverhältnis bei gleicher Sachlage dem Versicherten erneut
den Rechtsmittelweg zu öffnen (BGE 116 V 63 Erw. 3a).

    Zu entscheiden ist somit, ob das kantonale Gericht auch insofern zu
Recht auf Nichteintreten erkannt hat, als die Beschwerdeführerin darum
ersuchte, die Ausgleichskasse zur Auszahlung der ihr am 11. März 1987
zugesprochenen Witwenabfindung zu verpflichten.

Erwägung 2

    2.- a) Öffentlichrechtliche Geldforderungen sind auf dem Wege
der Schuldbetreibung nach dem Bundesgesetz über Schuldbetreibung
und Konkurs (SchKG; SR 281.1) einzutreiben (BGE 115 III 2 Erw. 3,
103 II 236 Erw. 4; AMONN/GASSER, Grundriss des Schuldbetreibungs-
und Konkursrechts, 6. Aufl., Bern 1997, S. 55 Rz. 4; HÄFELIN/MÜLLER,
Grundriss des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 3. Aufl., Zürich 1998, S. 238
Rz. 925 f.; IMBODEN/RHINOW/KRÄHENMANN, Verwaltungsrechtsprechung, Bd. I,
6. Aufl., Basel/Frankfurt a.M. 1986, S. 300 ff., und Ergänzungsband,
Basel/Frankfurt a.M. 1990, S. 159 f.). Formell rechtskräftige
Verwaltungsverfügungen stellen ebenso wie vollstreckbare gerichtliche
Urteile Rechtsöffnungstitel dar, gestützt auf welche der Gläubiger die
definitive Rechtsöffnung verlangen kann (Art. 80 Abs. 1 und 2 Ziff. 2
SchKG; IMBODEN/RHINOW/KRÄHENMANN, aaO, Ergänzungsband, S. 160). Allerdings
steht dem Schuldner im Rechtsöffnungsverfahren auch gegenüber einem
definitiven Rechtsöffnungstitel u.a. die Einrede der Verjährung zu, über
die der Rechtsöffnungsrichter zu entscheiden hat (Art. 81 Abs. 1 SchKG;
AMONN/GASSER, aaO, S. 122 ff., insbesondere Rz. 30 f., 52 und 62 f.).

    b) Aus dem Dargelegten ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin
die Möglichkeit gehabt hätte, die Witwenabfindung auf dem
Betreibungsweg einzufordern. Die Ausgleichskasse hätte diesfalls im
Rechtsöffnungsverfahren die Einrede der Vollstreckungsverwirkung erheben
können, worüber der Rechtsöffnungsrichter zu entscheiden gehabt hätte.

Erwägung 3

    3.- a) Zu beurteilen bleibt, ob über den Standpunkt der
Ausgleichskasse, das Begehren der Beschwerdeführerin auf Auszahlung
der Witwenabfindung sei zufolge Eintritts der Vollstreckungsverwirkung
abzuweisen, nur im Betreibungsverfahren entschieden werden kann. Auszugehen
ist davon, dass die Frage, ob ein Anspruch verjährt oder verwirkt ist,
eine solche des materiellen Rechts ist (BGE 118 II 450 Erw. 1b/bb;
AMONN/GASSER, aaO, S. 125 f. Rz. 52 ff., insbesondere 54). Dies gilt
für die Anspruchs- oder Festsetzungsverjährung oder -verwirkung ebenso
wie für die Vollstreckungsverjährung oder -verwirkung; denn es stellt
sich in beiden Fällen die Frage, ob ein als solcher nicht bestrittener
Rechtsanspruch zufolge Zeitablaufs nicht mehr gerichtlich durchgesetzt
werden kann oder erloschen ist. Zu beachten ist im Weitern, dass das
Institut der Verjährung oder Verwirkung einen allgemeinen Rechtsgrundsatz
des schweizerischen Verwaltungsrechts darstellt: Öffentlichrechtliche
Ansprüche unterliegen selbst beim Fehlen einer ausdrücklichen
Gesetzesbestimmung der Verjährung oder Verwirkung (ATTILIO R. GADOLA,
Verjährung und Verwirkung im öffentlichen Recht, in: AJP 1995 S. 47 ff.,
insbesondere S. 48; IMBODEN/RHINOW/KRÄHENMANN, aaO, Bd. I, S. 200 f.;
HÄFELIN/MÜLLER, aaO, S. 162 Rz. 628).

    b) Ob die Ausgleichskasse den Einwand der Vollstreckungsverwirkung
gestützt auf den erwähnten allgemeinen Rechtsgrundsatz oder auf eine
ausdrückliche Gesetzesbestimmung erhebt, kann hier offen bleiben. Fest
steht jedenfalls, dass sie mit der Verfügung vom 9. März 1998 über eine
materiellrechtliche Frage entschieden hat. Hiezu war sie befugt, nachdem
die Beschwerdeführerin die Auszahlung der ihr gestützt auf das AHVG am
11. März 1987 zugesprochenen Witwenabfindung verlangt hatte (vgl. Art. 128
Abs. 1 AHVV). Demzufolge hätte das kantonale Gericht seinerseits auf die
Beschwerde vom 17. März 1998 eintreten und die Frage entscheiden müssen,
ob die Ausgleichskasse zu Recht die Auszahlung der Witwenabfindung mit der
Begründung abgelehnt hat, der Anspruch sei verwirkt. Die Sache ist daher
an die Vorinstanz zurückzuweisen, welche vorab insbesondere entscheiden
wird, ob eine fünf- oder eine zehnjährige Frist zur Debatte steht. Ob es
sich dabei - gemäss Verfügung vom 9. März 1998 - um eine Verwirkungs-
oder - gemäss obiter dictum im Entscheid vom 25. August 1998 - um eine
Verjährungsfrist handelt, muss das kantonale Gericht auch im Falle der
Bejahung des Fristablaufs nicht entscheiden.