Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 V 377



125 V 377

62. Auszug aus dem Urteil vom 29. November 1999 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen G. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
Regeste

    Art. 3 Abs. 3, Art. 8 Abs. 2 AHVG; Art. 19 AHVV: Beitragsbefreiung
wegen Geringfügigkeit des Einkommens aus Nebenerwerb. Das Führen
des Familienhaushaltes durch einen verheirateten Ehegatten gilt als
Haupttätigkeit, welche zur Beitragsbefreiung für ein geringfügiges
Einkommen aus einer nebenberuflich ausgeübten selbstständigen
Erwerbstätigkeit berechtigt.

Sachverhalt

    A.- Die verheiratete G. führt den Haushalt, während ihr Ehemann
erwerbstätig ist. Daneben arbeitet sie ca. 3 Stunden pro Woche bei sich zu
Hause als selbstständige Physiotherapeutin. Mit Verfügung vom 9. Juni 1997
verpflichtete die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen G. zur Bezahlung
des AHV/IV/EO-Mindestbeitrages von je Fr. 390.-- für die Jahre 1996 und
1997 (eingeschlossen Fr. 12.-- Verwaltungskostenbeitrag).

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde schrieb das Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 19. Februar 1998 in Bezug auf
das Beitragsjahr 1996 als gegenstandslos ab und hiess sie in Bezug auf
das Beitragsjahr 1997 gut.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, die Verfügung der
Ausgleichskasse für das Beitragsjahr 1997 sei unter Aufhebung des
kantonalen Entscheids zu bestätigen.

    G. lässt sich nicht vernehmen. Die Ausgleichskasse schliesst auf
Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Mit der 10. AHV-Revision wurde altArt. 3 Abs. 2 lit. b
AHVG, wonach die nichterwerbstätigen Ehefrauen von Versicherten von
der Beitragspflicht befreit waren, aufgehoben. Neu eingefügt wurde
Abs. 3, wonach u.a. bei nichterwerbstätigen Ehegatten von erwerbstätigen
Versicherten (lit. a) die eigenen Beiträge als bezahlt gelten, sofern der
Ehegatte Beiträge von mindestens der doppelten Höhe des Mindestbeitrages
bezahlt hat. Sofern eine verheiratete Person als Nichterwerbstätige
beitragspflichtig ist, bemessen sich ihre Beiträge auf Grund der Hälfte
des ehelichen Vermögens und Renteneinkommens (Art. 28 Abs. 4 AHVV, in
Kraft seit 1. Januar 1997).

    Beträgt das Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit Fr. 7'700.--
oder weniger im Jahr, so ist laut Art. 8 Abs. 2 AHVG der Mindestbeitrag
von Fr. 324.-- zu entrichten (Satz 1). Der Bundesrat kann anordnen,
dass von geringfügigen Einkommen aus einer nebenberuflich ausgeübten
selbstständigen Erwerbstätigkeit nur auf Verlangen des Versicherten
Beiträge erhoben werden (Satz 2). Als geringfügiger Nebenerwerb aus
selbstständiger Erwerbstätigkeit gilt nach Art. 19 AHVV ein Einkommen,
das Fr. 2'000.-- im Kalenderjahr nicht übersteigt.

    b) Die Beitragsbefreiung für einen geringfügigen Nebenerwerb im
Rahmen des Grenzbetrages setzt - abgesehen vom Einverständnis der
Beitragspflichtigen - eine Haupttätigkeit voraus. Diese kann in einer
selbstständigen oder unselbstständigen Erwerbstätigkeit, darüber hinaus
aber auch in einer nichterwerblichen Beschäftigung, namentlich in der
Besorgung des Familienhaushaltes bestehen (BGE 113 V 246 Erw. 4c). Der
Aufgabenbereich als Hausfrau und Mutter galt denn auch seit jeher als eine
zur Befreiung von der Beitragspflicht für nebenberuflichen Bagatellerwerb
führende Haupttätigkeit (EVGE 1964 S. 145 Erw. 2 mit Hinweisen; ZAK 1954
S. 112, 1951 S. 417). Dementsprechend hielt die Verwaltungsweisung in
der Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherung über den Bezug der
Beiträge (WBB) in der bis 31. Dezember 1996 gültigen Fassung fest, dass
das von einer Frau erzielte Einkommen, deren Haupttätigkeit im Führen des
eigenen Familienhaushaltes bestehe, als Nebenerwerb gelte (Rz. 2087). Mit
Inkrafttreten des mit der 10. AHV-Revision eingeführten Grundsatzes
der allgemeinen Beitragspflicht der Nichterwerbstätigen (vgl. CADOTSCH,
Die 10. AHV-Revision im Bereich der Beiträge, in: CHSS 1996 S. 234)
änderte das BSV Rz. 2087 WBB dahingehend ab, dass das Führen des eigenen
Familienhaushaltes nicht mehr als Haupterwerb gilt.

    c) Verwaltungsweisungen sind für den Sozialversicherungsrichter nicht
verbindlich. Er soll sie bei seiner Entscheidung mit berücksichtigen,
sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung
der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Er weicht anderseits
insoweit von Weisungen ab, als sie mit den anwendbaren gesetzlichen
Bestimmungen nicht vereinbar sind (BGE 123 V 72 Erw. 4a, 122 V 253 Erw. 3d,
363 Erw. 3c, je mit Hinweisen).

Erwägung 2

    2.- a) Streitig ist, ob Versicherte, die zur Hauptsache einen
Haushalt führen, die Beitragsbefreiung für geringfügiges Einkommen aus
einer nebenberuflich ausgeübten selbstständigen Erwerbstätigkeit gemäss
Art. 8 Abs. 2 Satz 2 AHVG in Verbindung mit Art. 19 AHVV weiterhin
beanspruchen können. Im Hinblick auf die Aufhebung der Beitragsbefreiung
der nichterwerbstätigen Ehefrau im Rahmen der 10. AHV-Revision
wurde Rz. 2087 WBB dahingehend geändert, dass die Führung des eigenen
Familienhaushaltes nicht mehr als für die Beitragsbefreiung vorausgesetzte
Haupttätigkeit gilt. Es ist zu prüfen, ob die Gesetzesrevision Anlass zu
einer Änderung der durch die Rechtsprechung erfolgten Auslegung des im
Rahmen der 10. AHV-Revision unverändert belassenen Art. 8 Abs. 2 Satz 2
AHVG im Sinne der modifizierten Rz. 2087 WBB geben kann.

    b) Das BSV macht in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Wesentlichen
geltend, nach der bisherigen Rechtsprechung setze eine nebenberufliche
selbstständige Erwerbstätigkeit begriffsnotwendig einen Hauptberuf voraus,
und zwar eine unselbstständige Erwerbstätigkeit. Ausnahmen hätten bloss
zu Gunsten nichterwerbstätiger Ehefrauen und Witwen gegolten, deren
Hauptbeschäftigung in der Besorgung ihres eigenen Familienhaushaltes
bestehe, welchem Wirken die Bedeutung eines Berufes beigemessen
werde. Die Ausnahmen beruhten ohne den geringsten Zweifel darauf, dass
nichterwerbstätige Ehefrauen von Versicherten sowie nichterwerbstätige
Witwen bis Ende 1996 generell nicht beitragspflichtig gewesen seien. Auf
nicht von der Beitragspflicht als Nichterwerbstätige befreite Personen
mit einer nichterwerblichen Haupttätigkeit sei Art. 19 AHVV denn auch nie
angewendet worden, also insbesondere nicht auf allein stehende Personen
sowie auf Frauen, deren Ehemann der schweizerischen Versicherung nicht
unterstellt gewesen sei. Administrativ-organisatorische Überlegungen
seien zur Begründung der Rechtsprechung bloss hilfsweise herangezogen
worden. Ausserdem gelte es zu beachten, dass Art. 8 Abs. 2 AHVG eine
Ausnahme vom Grundsatz schaffe, wonach von jedem Erwerbseinkommen
Beiträge zu erheben seien, und deshalb keine ausdehnende Interpretation
ertrage. Art. 8 Abs. 2 Satz 2 AHVG und Art. 19 AHVV hätten zwar in der
10. AHV-Revision keine Änderungen erfahren. Jedoch sei in deren Rahmen der
Grundsatz der allgemeinen Beitragspflicht eingeführt worden. Folgerichtig
seien die erwähnten generellen Beitragsbefreiungen für nichterwerbstätige
Ehefrauen und Witwen aufgehoben worden. Im Zuge der erforderlichen
Bereinigungen im Zusammenhang mit der 10. AHV-Revision seien deshalb
auch die Verwaltungsweisungen betreffend Nebenerwerb an die neuen
rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst worden. Unter Berücksichtigung
auch des Umstandes, dass Art. 8 Abs. 2 AHVG nicht ausdehnend ausgelegt
werden sollte, sei die Praxisänderung begründet, weil trotz Art. 3
Abs. 3 AHVG längst nicht mehr alle Ehefrauen von Versicherten von der
Beitragspflicht als Nichterwerbstätige befreit seien. Nachdem Art. 3 Abs. 2
lit. c AHVG ersatzlos aufgehoben worden sei, gelte Entsprechendes erst
recht für die nichterwerbstätigen Witwen. Fehl gehe weiter die Meinung,
bei Nichtanwendung von Art. 19 AHVV würden die betroffenen Personen um
die Beitragsbefreiungsmöglichkeit nach Art. 3 Abs. 3 AHVG gebracht. Die
Befreiung nach Art. 3 Abs. 3 AHVG beziehe sich nur auf die Beiträge als
Nichterwerbstätige, nie auf solche, die - wie diejenigen nach Art. 8
AHVG - auf dem Erwerbseinkommen erhoben würden. Nichterwerbstätig
könne selbstverständlich auch sein, wer auf dem Erwerbseinkommen den
Mindestbeitrag entrichtet habe. Nicht einzuleuchten vermöge, weshalb in
einem solchen Fall eine verheiratete Person hinsichtlich der Beiträge, die
sie als Nichterwerbstätige grundsätzlich schulde, nicht von der Befreiung
nach Art. 3 Abs. 3 AHVG profitieren könne. Es treffe denn auch nicht zu,
dass der Begriff der Nichterwerbstätigkeit nicht einheitlich ausgelegt
werde. Administrative Gründe vermöchten dagegen nicht aufzukommen. Darauf
abgestützte Argumente träten mit der fortschreitenden Entwicklung der
EDV ohnehin immer mehr in den Hintergrund.

    c) Auszugehen ist vom Zweck der in Art. 8 Abs. 2 Satz 2 AHVG
vorgesehenen Beitragsbefreiung wegen Geringfügigkeit des Einkommens aus
Nebenerwerb und der dazu ergangenen Rechtsprechung. Der Gesetzgeber führte
diese Beitragsbefreiung "im Interesse der Vereinfachung der Verwaltung
und zwecks Vermeidung einer zu weit gehenden Erfassung kleiner und
kleinster Nebenverdienste" ein (Botschaft des Bundesrates zum Entwurf
eines Bundesgesetzes betreffend die Abänderung des Bundesgesetzes über die
Alters- und Hinterlassenenversicherung vom 9. Juni 1950, BBl 1950 II 193;
ausführlich zur Entstehungsgeschichte BGE 113 V 244 ff. Erw. 4b; vgl. auch
BGE 125 V 5 Erw. 4c). In ZAK 1951 S. 417 und 1954 S. 112 befand das Eidg.
Versicherungsgericht, dass im vorliegenden Zusammenhang auch das Wirken
als Hausfrau und Mutter die Bedeutung eines Berufes habe, sodass die in
untergeordnetem Umfang erwerbstätige Hausfrau die Beitragsbefreiung in
Anspruch nehmen könne. Dabei wurde der grundsätzlichen Beitragspflicht
bei Erwerbstätigkeit die Beitragsbefreiung der nichterwerbstätigen
Ehefrauen von Versicherten einerseits und für nebenberufliche Tätigkeit
anderseits gegenübergestellt. Beide Beitragsbefreiungsgründe wurden
bei nebenberuflicher Tätigkeit einer im Hauptberuf als Hausfrau und
Mutter tätigen Versicherten als gegeben erachtet, und es wurde darauf
hingewiesen, dass es sich mit der gesetzlich statuierten Beitragsbefreiung
der nichterwerbstätigen Hausfrauen schlecht vertragen würde, wenn sie wegen
einer untergeordneten Nebenbeschäftigung doch beitragspflichtig würden. Zum
gleichen Schluss würden administrativ-organisatorische Überlegungen
führen. In EVGE 1964 S. 146 Erw. 3 wurde die verwaltungsökonomische
Begründung in den Vordergrund gestellt. Die Rechtsprechung wurde in BGE
113 V 246 Erw. 4c schliesslich dahingehend zusammengefasst, dass die zur
Beitragsbefreiung vorausgesetzte Haupttätigkeit in einer selbstständigen
oder unselbstständigen Erwerbstätigkeit, darüber hinaus aber auch in
einer nichterwerblichen Beschäftigung, namentlich in der Besorgung des
Familienhaushaltes, bestehen könne.

    Diese Überlegungen bleiben unter dem neuen Recht nach wie vor
aktuell. Das Eidg. Versicherungsgericht nahm in ZAK 1951 S. 417
nebst anderen Begründungen auch Bezug auf die Beitragsbefreiung der
nichterwerbstätigen Ehefrau, die nicht aufgehoben werden dürfe, indem diese
Versicherten wegen eines geringfügigen Nebenverdienstes beitragspflichtig
erklärt würden, obwohl das Gesetz Nebentätigkeiten grundsätzlich nicht
der Beitragspflicht unterstelle. Zwar sind die nichterwerbstätigen
Ehegatten gemäss dem seit 1. Januar 1997 in Kraft stehenden Art. 3
Abs. 3 AHVG nicht mehr beitragsbefreit. Indessen gilt laut Art. 3 Abs. 3
lit. a AHVG ihr Beitrag als bezahlt, sofern der in der AHV versicherte
Ehegatte Beiträge von mindestens der doppelten Höhe des Mindestbeitrages
bezahlt hat. Diese neue gesetzliche Bestimmung würde ebenso wie die
aufgehobene von Art. 3 Abs. 2 lit. b AHVG unterlaufen, wenn der zur
Hauptsache nichterwerbstätige Ehegatte einer versicherten Person auf einer
geringfügigsten Erwerbstätigkeit Beiträge bezahlen müsste. Sodann haben
die verwaltungsökonomischen Gründe nicht an Bedeutung verloren (vgl. hiezu
die bei GION PIEDER CASAULTA/ROLF LINDENMANN, Vollzugsprobleme rund um
das AHVG, in: SZS 1998 S. 237 f. geschilderten Beispiele). Entscheidendes
Gewicht kommt jedoch dem Umstand zu, dass das Wirken als Haufrau und Mutter
auch unter dem neuen Recht die Bedeutung eines Berufes hat, was in den
rentenbildenden Erziehungs- und Betreuungsgutschriften (Art. 29sexies und
Art. 29septies AHVG) zum Ausdruck kommt. Eine Änderung der Rechtsprechung
zu Art. 8 Abs. 2 Satz 2 AHVG lässt sich daher nicht mit dem im Rahmen der
10. AHV-Revision eingeführten Grundsatz der allgemeinen Beitragspflicht
der Nichterwerbstätigen rechtfertigen. Unter diesen Umständen erweist
sich Rz. 2087 WBB als gesetzwidrig.