Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 V 355



125 V 355

56. Urteil vom 28. Juli 1999 i.S. Staatssekretariat für Wirtschaft gegen L.
und Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung
Regeste

    Art. 13 Abs. 1 und 2quater AVIG: Mindestbeitragszeit. Die
Mindestbeitragszeit von zwölf Monaten haben auch Versicherte zu erfüllen,
die bei Ablauf der ersten Rahmenfrist für den Leistungsbezug arbeitslos
sind.

Sachverhalt

    A.- L. bezog während einer ersten Rahmenfrist für den Leistungsbezug
ab 9. Februar 1996 Taggelder der Arbeitslosenversicherung. Vom
15. August 1996 bis 30. April 1997 war sie im Lehrverhältnis beim Hotel
D. AG erwerbstätig. Hernach bezog sie wiederum Taggelder. Mit Verfügung
vom 27. März 1998 lehnte die Arbeitslosenkasse des Kantons Thurgau einen
Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ab Beginn der am 9. Februar 1998
eröffneten zweiten Rahmenfrist ab, weil L. die Mindestbeitragszeit von 12
Monaten mit 8,607 Beitragsmonaten einer beitragspflichtigen Beschäftigung
nicht erfülle.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess die Rekurskommission
des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung mit Entscheid vom
9. September 1998 gut und wies die Arbeitslosenkasse an, die Ansprüche auf
Arbeitslosenentschädigung der Beschwerdeführerin zu erfüllen, soweit auch
die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Ferner verpflichtete
sie die Arbeitslosenkasse, dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin an
seine Aufwendungen Fr. 750.-- zu leisten.

    C.- Das Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit (ab
1. Juli 1999: Staatssekretariat für Wirtschaft [seco]) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheides.

    L. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Die Arbeitslosenkasse
beantragt die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 8 Abs. 1 lit. e AVIG hat Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung, wer die Beitragszeit erfüllt hat oder von der
Erfüllung der Beitragszeit befreit ist. Die Beitragszeit hat laut Art. 13
Abs. 1 AVIG erfüllt, wer innerhalb der dafür vorgesehenen Rahmenfrist für
die Beitragszeit (Art. 9 Abs. 3 AVIG) während mindestens sechs Monaten
eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat (Satz 1). Wird ein
Versicherter innert dreier Jahre nach Ablauf der Rahmenfrist für den
Leistungsbezug erneut arbeitslos, so muss er eine Mindestbeitragszeit
von zwölf Monaten aufweisen (Satz 2, in Kraft seit 1. Januar 1998). Laut
Art. 13 Abs. 2quater AVIG gelten nicht als Beitragszeit im Sinne dieses
Gesetzes beitragspflichtige Beschäftigungen, die im Rahmen einer durch
die Arbeitslosenversicherung finanzierten vorübergehenden Beschäftigung
ausgeübt worden sind (in Kraft seit 1. Januar 1997).

    b) Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, d.h. nach
Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zu Grunde liegenden Wertungen
ausgelegt werden. Eine historisch orientierte Auslegung ist für sich allein
nicht entscheidend. Anderseits vermag aber nur sie die Regelungsabsicht
des Gesetzgebers aufzuzeigen, welche wiederum zusammen mit den zu ihrer
Verfolgung getroffenen Wertentscheidungen verbindliche Richtschnur des
Richters bleibt, auch wenn er das Gesetz mittels teleologischer Auslegung
oder Rechtsfortbildung veränderten Umständen anpasst oder es ergänzt
(BGE 123 V 301 Erw. 6a mit Hinweisen).

Erwägung 2

    2.- Nach Auffassung des kantonalen Gerichts spricht der Wortlaut von
Art. 13 Abs. 1 Satz 2 AVIG ("Wird ein Versicherter ... erneut arbeitslos
...") unmissverständlich von erneutem Eintritt in die Arbeitslosigkeit.
Logischerweise könne nur derjenige Versicherte erneut von Stellenlosigkeit
betroffen werden, der diese zuvor überwunden habe. Ansonsten war und
bleibe er arbeitslos. Die fragliche Gesetzesbestimmung impliziere ganz
offensichtlich, dass der Versicherte innert dreier Jahre nach Beendigung
der vormals laufenden Rahmenfrist für den Leistungsbezug eine unter erhöhte
Anforderungen gestellte "Probezeit/Bewährungsprobe" zu durchlaufen habe.
Bewähren könne sich aber begriffsnotwendig nur derjenige, der das
belastende Ereignis überwinden konnte. Hinter der Verschärfung der
Beitragszeit von 6 auf 12 Monate für die zweite Rahmenfrist für den
Leistungsbezug stehe die Überlegung, dass ein Versicherter, der sich in
der ersten durch Erwerbsersatz oder Lohn aus Beschäftigungsprogramm mit
Hilfe der angebotenen arbeitsmarktlichen Massnahmen den Bedürfnissen
des Arbeitsmarktes anpassen konnte, durchaus Gelegenheit haben sollte,
eine Beschäftigung von mindestens 12 Monaten zu finden. Der Gesetzgeber
habe bei der Formulierung von Art. 13 Abs. 1 Satz 2 AVIG bewusst darauf
verzichtet, die bei Ablauf der vormaligen Rahmenfrist nach wie vor von
Arbeitslosigkeit betroffenen Versicherten den erhöhten Anforderungen
hinsichtlich der Beitragszeit zu unterwerfen.

Erwägung 3

    3.- Die Betrachtungsweise der Vorinstanz verkennt Sinn und Zweck der
Rahmenfristen, den Begriff des Arbeitslosen im Sinne von Art. 10 Abs. 3
AVIG und die mit der verschärften Beitragszeit von 12 Monaten verfolgte
gesetzgeberische Absicht.

    a) Die Bedeutung des Aufeinanderfolgens von Rahmenfristen liegt
u.a. darin, dass ein neuer Leistungsbeginn eröffnet wird und damit
einhergehend eine Neuüberprüfung aller Anspruchsvoraussetzungen
stattfindet. Nicht nur muss sich der Versicherte wieder auf dem
Arbeitsamt melden, worauf der Stichtag festgelegt wird, sondern
die Anspruchsvoraussetzung der Beitragszeit ist wiederum zu
erfüllen (NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Rz. 98). Dabei gilt als arbeitslos im
Sinne des Gesetzes lediglich diejenige Person, die sich beim Arbeitsamt
ihres Wohnorts zur Arbeitsvermittlung gemeldet hat (Art. 10 Abs. 3 AVIG),
weshalb nach Ablauf der Rahmenfrist für den Leistungsbezug wiederum
eine Anmeldung zum Leistungsbezug erforderlich ist (vgl. auch Art. 9
Abs. 4 AVIG: "...beansprucht der Versicherte wieder Leistungen ..."). Aus
diesem Erfordernis der neuen Anmeldung für eine wiederholte Rahmenfrist
ergibt sich, dass nach der gesetzlichen Konzeption auch eine Person,
die nach Ablauf der ersten Rahmenfrist weiterhin arbeitslos ist, als
erneut arbeitslos zu betrachten ist. Insoweit erfasst der Wortlaut von
Art. 13 Abs. 1 Satz 2 AVIG ("Wird ein Versicherter ...erneut arbeitslos";
"l'assuré qui se retrouve au chômage..."; "l'assicurato che, ...,
ridiviene disoccupato..") auch eine ununterbrochen arbeitslose Person,
die sich nach Ablauf der Rahmenfrist wiederum zum Leistungsbezug anmeldet.

    b) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz liegt der Verschärfung der
Mindestbeitragszeit auf 12 Monate in einer wiederholten Rahmenfrist
nicht der Gedanke der Bewährung zu Grunde. Durch den Ausbau der
arbeitsmarktlichen Massnahmen im Rahmen der zweiten Teilrevision des AVIG
von 1995 beabsichtigte der Gesetzgeber vielmehr die rasche und dauerhafte
Wiedereingliederung der arbeitslosen Personen in den Arbeitsprozess
(GERHARDS, Grundriss des neuen Arbeitslosenversicherungsrechts, S. 155;
NUSSBAUMER, aaO, Rz. 533). Er ging dabei davon aus, mit Hilfe der
angebotenen arbeitsmarktlichen Massnahmen sei der Leistungsbezüger in der
Lage, sich den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes anzupassen und genügend
rasch wieder eine Dauerstelle zu finden (GERHARDS, aaO, S. 73 Rz. 11,
S. 110). Gleichzeitig dehnte er die Höchstzahl der Taggelder auf 520 aus
(Art. 27 AVIG). Diese Neukonzeption verband er mit einer quantitativen
Verschärfung der Mindestbeitragszeit für eine Folgerahmenfrist, sofern
sich eine arbeitslose Person innerhalb von drei Jahren seit Ablauf
der Rahmenfrist erneut zum Leistungsbezug meldet (Art. 13 Abs. 1
Satz 2 AVIG). Damit verfolgte er das Ziel, die schnelle Rückkehr der
Ausgesteuerten ins System der Arbeitslosenversicherung zu verhindern
und die Leistungen der Arbeitslosenversicherung auf zwei Jahre zu
beschränken (NUSSBAUMER, aaO, Rz. 165 und 559). Zu diesem Zwecke legte er
überdies fest, dass mit der Teilnahme an von der Arbeitslosenversicherung
finanzierten Beschäftigungsprogrammen keine Beitragszeiten erworben werden
können (Art. 13 Abs. 2quater AVIG). Mit beiden Massnahmen wollte er die
Leistungen der Arbeitslosenversicherung auf zwei Jahre limitieren und für
die anschliessende Zeitspanne Kantone und Gemeinden (Arbeitslosen- und
Sozialhilfe) in Pflicht nehmen (Amtl.Bull. 1995 N 1118 [Berichterstatter
David] und 1995 S 622 [Berichterstatterin Beerli]; vgl. dazu auch
NUSSBAUMER, aaO, Rz. 165 und 559). Nach der Absicht des Gesetzgebers
sollten mithin gerade bei Langzeitarbeitslosen die Leistungen auf zwei
Jahre begrenzt sein und der Kreislauf eines in der neuen Rahmenfrist
fortdauernden Leistungsbezugs unterbrochen werden (vgl. dazu die Voten
im Parlament, die in diesem Zusammenhang von "circulus vitiosus",
"cercle diabolique" und "perpetuum mobile" sprachen, Amtl.Bull. 1994 N
1567 f. [Berichterstatter David und Couchepin, Bundesrat Delamuraz],
Amtl.Bull. 1995 S 94 [Berichterstatterin Beerli]). Namentlich wurden
auch Anträge, dass Personen über 55 Jahre in der zweiten Rahmenfrist
wenigstens 85 Taggelder mit der Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen
erwerben können, von beiden Kammern abgelehnt (Amtl.Bull. 1994 N 1569,
1995 N 1120, 1995 S 94 [zuerst Zustimmung] und 623). Die Beschränkung
des Versicherungsschutzes auf zwei Jahre kommt schliesslich auch im
Leistungsausschluss des Art. 60 Abs. 4 letzter Satz AVIG zum Ausdruck,
wonach Personen, die ihren Anspruch auf normale und besondere Taggelder
(Art. 7 Abs. 2 lit. a und b AVIG) ausgeschöpft haben, nicht einmal mehr
Leistungen für Kursbesuche nach Art. 61 Abs. 3 AVIG beanspruchen können.

    Dieser mit der Verschärfung der Mindestbeitragszeit und
der Neukonzeption der arbeitsmarktlichen Massnahmen verbundenen
gesetzgeberischen Absicht läuft die Auffassung der Vorinstanz diametral
zuwider. In erster Linie hatte der Gesetzgeber mit der verschärften
Mindestbeitragszeit diejenigen Versicherten im Auge, die im Zeitpunkt des
Ablaufs der Rahmenfrist trotz arbeitsmarktlichen Massnahmen immer noch
arbeitslos waren und in diesem Zeitpunkt in keinem Arbeitsverhältnis
standen. Es ist denn auch kein Grund ersichtlich, inwiefern diese
Versicherten anders behandelt werden sollten als frühere Leistungsbezüger,
die wieder eine Stelle gefunden hatten und bei Ablauf der Rahmenfrist
eine unselbstständige Erwerbstätigkeit ausübten, später aber wieder
arbeitslos wurden.

    c) Aus dem Gesagten folgt, dass die Beschwerdegegnerin nur dann
Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hätte, wenn sie zu Beginn der
zweiten Rahmenfrist am 9. Februar 1998 sich über eine beitragspflichtige
Beschäftigung von mindestens einem Jahr in der Rahmenfrist für die
Beitragszeit vom 9. Februar 1996 bis 8. Februar 1998 ausweisen könnte, was
unbestrittenermassen nicht der Fall ist. Sollte sie im offenbar derzeit
laufenden arbeitsgerichtlichen Prozess gegen die frühere Arbeitgeberin
und Lehrmeisterin noch zusätzliche Lohnforderungen durchsetzen können,
die zu insgesamt einer Beitragszeit von mindestens einem Jahr führen, so
steht es ihr frei, sich mit einem Revisionsgesuch an die zuständige Instanz
zu wenden. Entgegen ihrer Auffassung liegt in der auf den 1. Januar 1998
in Kraft gesetzten Verschärfung der Mindestbeitragsdauer schon deswegen
keine unzulässige Rückwirkung (vgl. auch BGE 112 V 220), weil sie erst
verzögert auf einen Zeitpunkt nach dem allgemeinen Inkrafttreten der
zweiten Teilrevision des AVIG auf den 1. Januar 1996/1. Januar 1997
erfolgt ist.

Erwägung 4

    4.- (Unentgeltliche Verbeiständung)