Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 V 256



125 V 256

40. Auszug aus dem Urteil vom 26. Mai 1999 i.S. IV-Stelle des Kantons
Zürich gegen A. und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 42 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 IVG; Art. 35
Abs. 1 und Art. 37 IVV: Massgebender Hilflosigkeitsgrad. Bei Veränderungen
der Hilflosigkeit während der einjährigen Wartezeit ist unter Beizug
der Entschädigungsansätze in Art. 37 IVV der durchschnittliche
Hilflosigkeitsgrad zu ermitteln, welcher für die Berechnung der
Hilflosenentschädigung bei Beginn des Anspruches massgebend ist.

Sachverhalt

    A.- Der 1931 geborene X wurde am 9. Mai 1995 zum Bezug einer
Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung angemeldet. Gestützt
auf einen Bericht des Abklärungsdienstes der IV-Stelle des Kantons Zürich
vom 26. Juni 1995 erliess diese am 25. August 1995 zwei Verfügungen, mit
welchen sie A., der Ehefrau des am 23. Juli 1995 verstorbenen X, ab 1. März
bis 31. Mai 1995 eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit leichten
Grades und für die Monate Juni und Juli 1995 eine Hilflosenentschädigung
bei Hilflosigkeit schweren Grades zusprach.

    B.- Gegen die Verfügung vom 25. August 1995, mit welcher für die
Monate März bis Mai 1995 eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit
leichten Grades gewährt wurde, erhob A. Beschwerde mit dem Antrag auf
Zusprechung einer Entschädigung für schwere Hilflosigkeit ab 1. März 1995.

    In teilweiser Gutheissung der Beschwerde hob das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich den angefochtenen
Verwaltungsakt auf und stellte fest, für die Monate März bis Mai 1995
bestehe Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit
mittleren Grades (Entscheid vom 11. September 1998).

    C.- Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren
um Aufhebung des kantonalen Entscheides.

    A. äussert sich zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde, ohne einen Antrag
zu stellen. Das Bundesamt für Sozialversicherung schliesst auf Gutheissung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Die Beschwerdeführerin und die Vorinstanz stimmen zu Recht
darin überein, dass die einjährige Wartezeit im März 1994 begann und der
am 23. Juli 1995 verstorbene Ehemann der Beschwerdegegnerin ab März 1994
in leichtem Grade und ab Juni 1994 in schwerem Grade hilflos war.

    Streitig ist einzig die Frage, ob der Versicherte in der Zeit von März
bis Mai 1995 Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit
leichten oder aber mittleren Grades hatte, nachdem die Beschwerdegegnerin
gegen den vorinstanzlichen Entscheid, mit dem ihrem Begehren nur teilweise
entsprochen worden ist, selber nicht Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben
hat. Zu prüfen ist, ob und gegebenenfalls wie die Verschlimmerung der
Hilflosigkeit während der Wartezeit berücksichtigt werden kann.

    b) Die Vorinstanz ist zur Auffassung gelangt, es sei nicht einzusehen,
weshalb bei einer Invalidenrente allfällige Verschlechterungen der
Arbeitsfähigkeit während des Wartejahres einen Einfluss auf die Höhe der
Rente bei Beginn des Anspruchs haben könnten, die Hilflosenentschädigung
sich bei Beginn des Anspruchs jedoch danach bemessen sollte, in welchem
Ausmass ein Versicherter am Anfang des Wartejahres hilflos sei, und
eine allfällige Verschlimmerung seiner Hilflosigkeit erst drei Monate
nach Ablauf des Wartejahres berücksichtigt werden könnte. Bei einer
allfälligen Verschlimmerung der Hilflosigkeit während des Wartejahres
sei deshalb in Anknüpfung an die Entschädigungsansätze für die drei
Hilflosigkeitsgrade in Art. 37 IVV ein Durchschnittswert während der
Wartezeit zu berechnen. Im konkreten Fall ergebe sich bei drei Monaten
leichter und neun Monaten schwerer Hilflosigkeit während der Wartezeit
eine durchschnittliche Hilflosigkeit von 65% (3 x 20% plus 9 x 80% = 780%
: 12 = 65%). Demnach bestehe nach Ablauf der Wartezeit bereits Anspruch
auf eine Hilflosenentschädigung für eine Hilflosigkeit mittleren Grades.

    Demgegenüber vertritt die Beschwerdeführerin die Ansicht, die Höhe
der zu gewährenden Hilflosenentschädigung sei nach dem Ausmass der
während der Wartezeit bestehenden Hilflosigkeit und nach Massgabe
der nach zurückgelegter Wartezeit verbleibenden Hilflosigkeit
zu bestimmen. Vorliegend habe ab März 1994 zunächst nur leichte
Hilflosigkeit bestanden. Bei Ablauf der Wartezeit im März 1995 habe die
schwere Hilflosigkeit erst neun Monate angedauert, weshalb eine Erhöhung
der Hilflosenentschädigung - in Anwendung von Art. 88a Abs. 2 IVV - erst
drei Monate nach Anspruchsbeginn, somit auf den 1. Juni 1995, erfolgen
könne. Eine Durchschnittsberechnung der Hilflosigkeit in Prozenten während
der Wartezeit analog zu den Renten sei bei der Hilflosenentschädigung
nicht vorgesehen. Die Vorinstanz vermische mit ihrer prozentualen
Durchschnittsrechnung die Prüfung der Anspruchsberechtigung mit der
Berechnung der Leistung. Ferner beziehe sich die analoge Anwendung
von Art. 29 IVG nur auf die Auslegung des Begriffs der "dauernden"
Hilflosigkeit und biete keinen Anlass für eine Durchschnittsberechnung.

Erwägung 3

    3.- a) Der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung entsteht am
ersten Tag des Monats, in dem sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt
sind (Art. 35 Abs. 1 IVV). Als hilflos gilt nur, wer dauernd der Hilfe
Dritter oder der persönlichen Überwachung (Art. 42 Abs. 2 IVG) bzw. der
Dienstleistungen Dritter (Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV) bedarf. Dieses
Erfordernis ist nach ständiger Rechtsprechung und Verwaltungspraxis
erfüllt, wenn der die Hilflosigkeit begründende Zustand weitgehend
stabilisiert und im Wesentlichen irreversibel ist, wenn also analoge
Verhältnisse wie bei Art. 29 Abs. 1 lit. a IVG gegeben sind (Variante
1). Ferner ist das Erfordernis der Dauer als erfüllt zu betrachten,
wenn die Hilflosigkeit während eines Jahres (Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG)
ohne wesentlichen Unterbruch bestanden hat und voraussichtlich weiterhin
andauern wird (Variante 2). Im Fall der Variante 1 entsteht der Anspruch
auf Hilflosenentschädigung im Zeitpunkt, in dem die leistungsbegründende
Hilflosigkeit als bleibend vorausgesehen werden kann (Art. 29 IVV), und im
Fall der Variante 2 nach Ablauf eines Jahres, sofern weiterhin mit einer
Hilflosigkeit der vorausgesetzten Art zu rechnen ist (vgl. BGE 111 V 227
Erw. 3a; ZAK 1986 S. 487 Erw. 2b, 1983 S. 334 Erw. 3). Die Regeln über
die Entstehung des Rentenanspruches (Art. 29 Abs. 1 IVG) finden somit
sinngemäss Anwendung (BGE 105 V 67 Erw. 2 mit Hinweisen).

    Ändert sich in der Folge der Grad der Hilflosigkeit in erheblicher
Weise, so finden die Art. 86 bis 88bis IVV ("E. Die Revision der
Rente und der Hilflosenentschädigung") Anwendung (Art. 35 Abs. 3 Satz 1
IVV). Keine Revision liegt vor, wenn bei der erstmaligen Zusprechung einer
Hilflosenentschädigung für verschiedene Zeitabschnitte unterschiedliche
Entschädigungen zufolge unterschiedlicher Grade der Hilflosigkeit
zugesprochen werden; vielmehr handelt es sich diesfalls um eine erstmalige,
rückwirkende, abgestufte Zusprechung der Hilflosenentschädigung. Trotzdem
kommt in solchen Fällen Art. 88a IVV zur Anwendung, nicht hingegen
Art. 88bis IVV; diese hinsichtlich der erstmaligen, rückwirkenden,
abgestuften Zusprechung unterschiedlicher Invalidenrenten begründete
Rechtsprechung (BGE 121 V 275 Erw. 6b/dd, 109 V 126 f. Erw. 4a) ist auch
auf den vergleichbaren Fall der erstmaligen, rückwirkenden, abgestuften
Zusprechung einer Hilflosenentschädigung anzuwenden. Gemäss Art. 88a
Abs. 2 Satz 1 IVV ist bei einer Verschlimmerung der Hilflosigkeit die
anspruchsbeeinflussende Änderung zu berücksichtigen, sobald sie ohne
wesentliche Unterbrechung drei Monate angedauert hat.

    b) Nach Auffassung der IV-Stelle soll eine während der
Wartezeit eingetretene Veränderung der Verhältnisse nicht in der
Weise Beachtung finden, dass sie sich bereits auf das Ausmass des
Anspruchs auf Hilflosenentschädigung ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der
Wartezeit auswirkt. Im Hinblick auf die vorliegend seit Juni 1994
bestehende schwere Hilflosigkeit habe im März 1995 demnach die schwere
Hilflosigkeit lediglich neun Monate angedauert, weshalb die Erhöhung der
Hilflosenentschädigung nach Massgabe von Art. 88a Abs. 2 IVV erst drei
Monate nach Entstehen des Anspruchs, d.h. per 1. Juni 1995 erfolgen
könne. Soweit die Beschwerdeführerin sich damit auf den Standpunkt
stellt, die erhöhte Hilflosigkeit müsse in jedem Fall zunächst zwölf
Monate bestanden haben, bevor sie sich anspruchsändernd auswirke,
kann ihr nicht gefolgt werden. Dies stünde im Widerspruch zum von der
Beschwerdeführerin ausdrücklich angeführten Art. 88a IVV und liefe im
Übrigen auf eine Betrachtungsweise hinaus, wie sie der Revision von
Renten der Invalidenversicherung nach Art. 41 IVG vor Inkrafttreten
des Art. 88a IVV am 1. Januar 1977 zu Grunde gelegen hat (vgl. BGE 121
V 272 Erw. 6a in fine mit Hinweisen; vgl. auch ZAK 1990 S. 135, wonach
die Wartezeit von einem Jahr sich nur auf die erstmalige Entstehung des
Hilflosenentschädigungsanspruchs bezieht). Falls die IV-Stelle mit ihrem
Einwand zum Ausdruck bringen möchte, eine Verschlimmerung der Hilflosigkeit
während der Wartezeit sei nur nach den Revisionsregeln gemäss Art. 86
ff. IVV und erst nach Entstehung des Anspruches zu berücksichtigen,
so ist ihr bezüglich der Massgeblichkeit der Revisionsbestimmungen für
Sachverhalte der vorliegenden Art teilweise beizupflichten. Richtig
ist dabei, dass sich die Art. 86 bis 88bis IVV auf die Revision einer
laufenden Hilflosenentschädigung (BGE 109 V 127 Erw. 4a) beziehen und
nur Anwendung finden, wenn sich der Grad der Hilflosigkeit "in der Folge"
(vgl. Art. 35 Abs. 3 Satz 1 IVV), somit tatsächlich nach Entstehung des
Hilflosenentschädigungsanspruchs in erheblicher Weise ändert (zum durch
ständige Rechtsprechung erweiterten Anwendungsbereich von Art. 88a IVV
vgl. Erw. 3a hievor). Damit ist jedoch, entgegen der Ansicht der IV-Stelle,
nicht ausgeschlossen, dass Veränderungen des Hilflosigkeitsgrades
während der Wartezeit bei der Zusprechung einer Hilflosenentschädigung
berücksichtigt werden können.

    c) Wie die Beschwerdeführerin zutreffend feststellt, bezieht
sich die analoge Anwendung von Art. 29 Abs. 1 IVG im Bereich der
Hilflosenentschädigung auf die gesetzlich geforderte Dauerhaftigkeit
der Hilflosigkeit. Dass die Rechtsprechung im Hinblick darauf bei
Hilflosigkeitsfällen der Variante 2 eine einjährige Wartezeit eingeführt
hat, spricht jedoch nicht für, sondern gegen die Auffassung der IV-Stelle,
wonach Veränderungen der Hilflosigkeit während der Wartezeit unbeachtlich
seien. Diese Wartezeit ist im Rentenbereich zu berücksichtigen, weil
die Variante 2 - im Gegensatz zur Variante 1 (BGE 111 V 23 Erw. 3b)
- von sich wandelnden Verhältnissen ausgeht. Beträgt im Rentenfall
die Arbeitsunfähigkeit zu Beginn der Wartezeit beispielsweise 30%,
steigt diese nach drei Monaten auf 50% und nach weiteren drei Monaten
auf 100% an, ergibt sich rückblickend für die einjährige Wartezeit eine
durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit von mindestens zwei Dritteln. Bei
einer Erwerbsunfähigkeit von entsprechend hohem Ausmass steht dem
Versicherten in diesem Fall nach Ablauf der Wartezeit bereits eine ganze
Rente zu (vgl. BGE 121 V 272 Erw. 6), obwohl die anfänglich bestehende
Arbeitsunfähigkeit - vorausgesetzt, sie hätte während der ganzen Wartezeit
unverändert weiter bestanden - nicht einmal für eine Viertelsrente
ausreichen würde. Entsprechend haben sich die Anforderungen an die
Dauerhaftigkeit gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG nicht nur im Renten-,
sondern ebenso im Hilflosigkeitsbereich niederzuschlagen. Richtig ist
folglich der Standpunkt der Vorinstanz, wonach auch im Hilflosigkeitsfall
Veränderungen während der Wartezeit schon auf den Zeitpunkt des Ablaufs
derselben zu beachten sind. Daran vermag nichts zu ändern, dass im
Rentenfall während der Wartezeit die Arbeitsunfähigkeit und danach die
Erwerbsunfähigkeit relevant ist, bei der Hilflosenentschädigung jedoch
sowohl während der Wartezeit als auch später allein die Hilflosigkeit zur
Diskussion steht. Gerade weil es in letzterem Fall während beider Phasen
um den Begriff der Hilflosigkeit geht, ist nicht einzusehen, weshalb sich
Veränderungen des Hilflosigkeitsgrades während der Wartezeit nicht auch auf
den Anspruch im Zeitpunkt dessen Beginns auswirken sollten. Das kantonale
Gericht hat somit vorliegend der Verschlimmerung der Hilflosigkeit des
Verstorbenen während der Wartezeit zu Recht Rechnung getragen.

Erwägung 4

    4.- Um im Rentenbereich die durchschnittliche prozentuale
Arbeitsfähigkeit während der Wartezeit ermitteln zu können, ist die
Verwaltung (und im Beschwerdefall der Richter) auf Unterlagen angewiesen,
die der Arzt und gegebenenfalls auch andere Fachleute zur Verfügung
zu stellen haben. Aufgabe des Arztes ist es, den Gesundheitszustand zu
beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich
welcher Tätigkeiten der Versicherte arbeitsunfähig ist (BGE 115 V 134
Erw. 2, 114 V 314 Erw. 3c, 105 V 158 f. Erw. 1). Demgegenüber wird der
Grad der Hilflosigkeit nicht in Prozenten, sondern nach Massgabe der
drei Stufen "leicht", "mittelschwer" und "schwer" ausgedrückt (Art. 36
IVV). Nach Art. 37 IVV beträgt die monatliche Hilflosenentschädigung bei
Hilflosigkeit schweren Grades 80%, bei Hilflosigkeit mittleren Grades
50% und bei Hilflosigkeit leichten Grades 20% des Mindestbetrages
der einfachen Altersrente gemäss Art. 34 Abs. 2 AHVG. Der Rückgriff
der Vorinstanz auf diese Entschädigungsansätze zur Ermittlung
des durchschnittlichen Hilflosigkeitsgrades während der Wartezeit
erweist sich bei dieser Ausgangslage als begründet. Eine Vermischung
der Anspruchsberechtigung mit der Leistungsberechnung findet dadurch,
entgegen dem in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebrachten Einwand,
nicht statt, da die Entschädigungsansätze des Art. 37 IVV vorliegend
lediglich zur Ermittlung eines durchschnittlichen Hilflosigkeitsgrades
bei sich während der Wartezeit verändernden Verhältnissen herangezogen
werden. Der angefochtene Entscheid, mit welchem - nach Massgabe einer im
Durchschnitt mittleren Hilflosigkeit während der Wartezeit - vom 1. März
bis zum 31. Mai 1995 eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit
mittleren Grades zugesprochen wird, ist daher zu bestätigen.