Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 I 65



125 I 65

8. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 11.
Dezember 1998 i.S. Ruth Leutenegger und Mitbeteiligte gegen Kanton Thurgau
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Rechtsgleichheit bei der Festsetzung des Eigenmietwertes, Art. 4 BV;
Art. 9 StHG; § 23 des thurgauischen Steuergesetzes vom 14. September 1992,
in der Fassung vom 12. Mai 1997.

    Es ist kein nach Art. 9 StHG unzulässiger Abzug, wenn ein kantonales
Steuergesetz den Eigenmietwert tiefer als den Marktwert festsetzt (E. 2).

    Der steuerbare Eigenmietwert muss mindestens 60% des effektiven
Marktwertes betragen (E. 3).

    Ein Gesetz, das für die Festsetzung des Eigenmietwertes vom Marktwert
einen Abzug von genau 40% vornimmt, lässt sich verfassungskonform anwenden
(E. 4).

Sachverhalt

    Am 12. Mai 1997 erliess der Grosse Rat des Kantons Thurgau ein Gesetz,
wodurch das kantonale Steuergesetz vom 14. September 1992 (StG/TG) wie
folgt geändert wurde:
      Ǥ 23 Abs. 2 und 3 2 Der Mietwert von am Wohnsitz selbstgenutztem
      Wohneigentum ist aufgrund

    der ortsüblichen Verhältnisse und tatsächlichen Nutzung festzulegen.
      3 Zur Bildung und Förderung von am Wohnsitz selbstgenutztem
      Wohneigentum

    und zur Begünstigung der Selbstvorsorge wird von dem gemäss Absatz 2

    festgelegten Mietwert ein Abzug von 40 Prozent vorgenommen.
      § 43 Abs. 2 2 Zur Bildung und Förderung von am Wohnsitz
      selbstgenutztem Wohneigentum

    und zur Begünstigung der Selbstvorsorge wird zur Festlegung des

    Vermögenssteuerwertes vom Verkehrswert ein Abzug von 20 Prozent

    vorgenommen».

    Auf Antrag von 35 Mitgliedern des Grossen Rates wurde das Gesetz dem
Behördenreferendum unterstellt.

    Am 5. Juni 1997 erhoben Ruth Leutenegger, Verena Enz, Peter Hausammann,
Heinz Herzog, Peter Keller, Ernst Kunz, Markus Schär, Ernst Schlaginhaufen
sowie der Mieterverband des Kantons Thurgau staatsrechtliche Beschwerde
mit dem Antrag, der Beschluss des Grossen Rates vom 12. Mai 1997
sei für ungültig zu erklären und damit insbesondere die mit dieser
Abstimmung beschlossene Ergänzung und Änderung von § 23 Abs. 2 und 3
des Steuergesetzes.

    Das Bundesgericht sistierte das Verfahren bis zur Publikation des
Erwahrungsbeschlusses über die Volksabstimmung.

    Die Gesetzesänderung wurde in der Volksabstimmung vom 15. März 1998
angenommen. Der Regierungsratsbeschluss betreffend die Ergebnisse der
kantonalen Volksabstimmung vom 15. März 1998 wurde am 20. März 1998 im
Amtsblatt des Kantons Thurgau veröffentlicht. Mit Verfügung des Präsidenten
der II. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 20. Mai
1998 wurde das Verfahren wieder aufgenommen.

    Der Grosse Rat des Kantons Thurgau beantragte mit Vernehmlassung
vom 19. Juni 1998, die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit
darauf einzutreten sei.

    In dem vom Bundesgericht angeordneten zweiten Schriftenwechsel hielten
die Parteien an ihren Rechtsbegehren fest.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde im Sinne der Erwägungen ab,
soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von Art. 2 ÜbBest. BV
in Verbindung mit Art. 9 des Bundesgesetzes über die Harmonisierung der
direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG; SR 642.14), indem der
in § 23 Abs. 3 StG/TG vorgesehene Abzug vom Mietwert gegen die in Art. 9
StHG enthaltene, abschliessende Aufzählung der zulässigen Abzüge verstosse.

    b) Das Bundesgericht hat bereits entschieden, dass das
Steuerharmonisierungsgesetz dem kantonalen Gesetzgeber die Freiheit
belässt, innert den Schranken von Art. 4 BV den steuerbaren Eigenmietwert
tiefer als den Marktmietwert festzusetzen (BGE 124 I 145 E. 3c S. 153
f.). Wenn der Gesetzgeber vorschreibt, dass der Eigenmietwert in einem
bestimmten Masse unterhalb des Marktmietwertes festzusetzen ist, so liegt
darin nicht die Einführung eines in Art. 9 StHG nicht vorgesehenen und
damit unerlaubten anorganischen Abzugs (BGE 124 I 145 E. 4b S. 155). Dass
im angefochtenen thurgauischen Gesetz diese Tieferbewertung redaktionell
als «Abzug» bezeichnet ist, vermag daran nichts zu ändern. Die Zulässigkeit
einer Tieferbewertung kann nicht von der blossen Redaktion des Gesetzes
abhängen. Die Rüge der Verletzung von Art. 2 ÜbBest. BV erweist sich
damit als unbegründet.

Erwägung 3

    3.- a) Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von Art. 4 BV, indem
der vorgesehene Abzug vom Marktmietwert den Grundsatz der Besteuerung
nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verletze.

    b) Im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle hebt das Bundesgericht
ein Gesetz nur auf, wenn es sich jeder verfassungskonformen Anwendung und
Auslegung entzieht, nicht jedoch, wenn es einer solchen in vertretbarer
Weise zugänglich ist (BGE 123 I 112 E. 2a S. 116; 122 I 18 E. 2a S. 20; je
mit Hinweisen). Das gilt auch für Normen, welche die Höhe des steuerbaren
Eigenmietwertes festlegen (BGE 124 I 145 E. 1g S. 150 f., 193 E. 3c
S. 195 f.). Dabei ist mit zu berücksichtigen, unter welchen Umständen die
betreffende Bestimmung zur Anwendung gelangen wird. Der Verfassungsrichter
hat die Möglichkeit einer verfassungskonformen Anwendung nicht nur abstrakt
zu untersuchen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit verfassungstreuer
Anwendung miteinzubeziehen, um das Risiko einer Verfassungsverletzung
möglichst gering zu halten (BGE 124 I 193 E. 3c S. 196; 123 I 112 E. 2c S.
117). Doch lässt die Möglichkeit, dass in besonders gelagerten Einzelfällen
die Anwendung der Norm zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führt, den
Erlass als solchen nicht verfassungswidrig werden (BGE 124 I 193 E. 3c S.
196, mit Hinweisen).

    c) Nach konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichts ergibt sich aus
Art. 4 BV, dass Steuerpflichtige in gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen
gleich zu besteuern sind. Indessen hat das Bundesgericht zugelassen,
dass der steuerbare Eigenmietwert tiefer festgesetzt werden kann als der
Marktmietwert. Das wird unter anderem mit der geringeren Disponibilität in
der Nutzung des Eigentums begründet sowie damit, dass die Selbstnutzung
anderer Vermögenswerte auch nicht besteuert wird. Zulässig ist auch das
Anliegen, die Selbstvorsorge durch Eigentumsbildung fiskalisch zu fördern
(Art. 34quater Abs. 6 sowie Art. 34sexies BV; BGE 124 I 193 E. 3a S. 194
f., mit Hinweisen). Solche Abzüge haben sich allerdings an die durch Art. 4
BV gesetzten Schranken zu halten. Mit Urteil vom 20. März 1998 hat das
Bundesgericht entschieden, dass für die Bemessung des Eigenmietwertes in
jedem Fall 60% des effektiven Marktwertes die untere Grenze dessen bilden,
was mit Art. 4 BV noch vereinbar ist (BGE 124 I 145 E. 4d S. 156 f., 193 E.
3b S. 195). Dabei ist jedoch zu beachten, dass eine mathematisch exakte
Gleichbehandlung jedes einzelnen Steuerpflichtigen aus praktischen Gründen
nie völlig erreichbar ist. Eine gewisse Schematisierung und Pauschalierung
des Abgaberechts ist unausweichlich und deshalb auch zulässig. Eine
generelle Regelung kann nicht allein schon deswegen verfassungswidrig sein,
weil sie dazu führt, dass in bestimmten Einzelfällen jemand anders belastet
wird als andere Steuerpflichtige in vergleichbaren Fällen, wäre doch sonst
praktisch überhaupt kein verfassungskonformes Steuergesetz denkbar. Eine
Verfassungswidrigkeit kann nur darin liegen, dass die Anwendung eines
Erlasses zwangsläufig in einer erheblichen Zahl von Fällen zu einer
verfassungswidrigen Ungleichbehandlung bestimmter Steuerpflichtiger
führt oder systematisch bestimmte Gruppen in verfassungswidriger Weise
benachteiligt (BGE 124 I 193 E. 3e S. 197).

    d) Gestützt auf diese Grundsätze hat das Bundesgericht eine
zürcherische Regelung aufgehoben, welche vorsah, dass der Eigenmietwert
«in der Regel» auf 60% des Marktwertes festzulegen sei. Denn damit
wollte der Gesetzgeber bewusst einen Spielraum eröffnen, der mehr oder
weniger weit unter die verfassungsrechtliche Untergrenze von 60% reichte
(BGE 124 I 145 E. 5b S. 157). Das Bundesgericht hat dabei ausgeführt,
die angefochtene Bestimmung wäre als zulässig zu betrachten, wenn sie
die 60% nicht als Regelwert, sondern als Mindestwert festlegte (BGE
124 I 145 E. 5c S. 157). Es hat ferner eine Zürcher Schätzungsmethode
als verfassungswidrig erklärt (von einer Aufhebung aus Gründen der
Rechtssicherheit indessen abgesehen), welche zwar nicht direkt eine
Prozentzahl als Schranke oder Zielgrösse festsetzte, aber in ihrer
praktischen Anwendung dazu führte, dass ein beträchtlicher Teil der
Einzelwerte unterhalb der verfassungsrechtlichen Untergrenze von 60%
lag (BGE 124 I 193 E. 3f S. 197 f. und E. 5 S. 201 f.). Hingegen hat
das Bundesgericht eine schaffhausische Volksinitiative als zulässig
erklärt, welche den Eigenmietwert auf «im Maximum 70% der Marktmiete»
festsetzen wollte. Denn der damit festgesetzte Spielraum zwischen der
verfassungsrechtlichen Untergrenze von 60% und der gesetzlichen Obergrenze
von 70% liess eine verfassungskonforme Anwendung zu (nicht publiziertes
Urteil des Bundesgerichts vom 25. März 1998 i.S. A., E. 6c und E. 7a).

    e) Die angefochtene Bestimmung des thurgauischen Steuergesetzes ist
im Lichte der dargestellten Grundsätze zu überprüfen.

Erwägung 4

    4.- a) Nach § 23 Abs. 2 StG/TG ist der Mietwert zunächst aufgrund der
ortsüblichen Verhältnisse festzulegen. Von dem so festgelegten «Mietwert»
wird alsdann gemäss § 23 Abs. 3 StG/TG für das am Wohnort selbstgenutzte
Wohneigentum ein Abzug von 40% vorgenommen. Daraus ergibt sich ein
steuerbarer Eigenmietwert von 60%. Der Wortlaut des Gesetzes entspricht
somit den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Zu prüfen ist jedoch,
ob seine Anwendung zwangsläufig zu verfassungswidrigen Ergebnissen
führen wird.

    b) Die Beschwerdeführer machen geltend, schon der nach § 23 Abs. 2
StG/TG festgesetzte «Mietwert» liege in der Praxis 10-20% unter dem
Marktwert. Das wird vom Grossen Rat bestritten. Empirische Zahlen über das
Verhältnis des effektiven Mietzinses bzw. des Marktzinses zum festgelegten
steuerrechtlichen Mietwert liegen nicht vor. Aus dem Wortlaut des Gesetzes
ergibt sich jedenfalls nicht, dass der «Mietwert» 10-20% tiefer zu schätzen
sei als der Marktwert. Auf der Grundlage des bisherigen Rechts hat der
Regierungsrat am 24. November 1992 eine Verordnung über die Steuerschätzung
der Grundstücke erlassen, welche durch Weisungen des Departementes
für Finanzen und Soziales konkretisiert wurde. Danach entspricht der
Ertragswert dem kapitalisierten marktkonformen Mietwert des Grundstücks
(§ 13 der Verordnung und Ziff. 3 der Weisungen zu § 13). Aber selbst wenn
die Anwendung dieser Weisungen zur Folge hätte, dass der «Mietwert» bisher
tiefer geschätzt wurde als der Marktwert, wäre dies nicht ausschlaggebend.
Denn die Verfassungsmässigkeit eines Gesetzes beurteilt sich nicht danach,
wie dieses durch untergesetzliche Ausführungsbestimmungen konkretisiert
wird; vielmehr ergeben sich umgekehrt aus der Verfassung Anforderungen an
die Ausgestaltung der das Gesetz ausführenden Bestimmungen. Das Gesetz
kann ohne weiteres verfassungskonform so ausgelegt werden, dass mit dem
«Mietwert» der Marktwert gemeint ist. Sollten die regierungsrätlichen
Ausführungsvorschriften oder die Weisungen der Verwaltung etwas anderes
festlegen, so wären sie entsprechend zu ändern.

    c) Im Unterschied zum zitierten Zürcher Entscheid hat vorliegend
der thurgauische Gesetzgeber nicht bewusst in Kauf genommen, dass die
Eigenmietwerte auch tiefer als 60% liegen können. Der Grosse Rat führt
in seiner Vernehmlassung an das Bundesgericht aus: «Gemäss dem klaren
Wortlaut und dem Sinn der angefochtenen Gesetzesänderung beträgt der
für selbstgenutztes Wohneigentum am Wohnsitz vorzunehmende Abzug 40%
der Marktmiete, keinesfalls mehr». In der Duplik bringt er vor: «Da
der Eigenmietwert zwingend und ohne Ausnahme auf 60% des Marktmietwertes
festzulegen ist, kann er definitionsgemäss in keinem Fall tiefer oder höher
als 60% des Marktmietwertes zu stehen kommen». Das Gesetz will somit den
Eigenmietwert auf 60% der Marktmiete festlegen, keineswegs tiefer. Der
Kanton ist bei dieser klaren Aussage des Grossen Rates zu behaften.

    d) Mit der angefochtenen Regelung ist freilich die gesetzliche
Obergrenze gleich hoch wie die verfassungsmässige Untergrenze. Dadurch
wird jeglicher Spielraum verunmöglicht. Das schliesst indessen die
Möglichkeit einer verfassungskonformen Anwendung nicht aus. Je geringer
dieser Spielraum ist, desto strengere Anforderungen sind an die Genauigkeit
der Schätzung zu stellen, damit die verfassungsmässige Untergrenze von
60% nicht unterschritten wird. Der Kanton hat sicherzustellen, dass diese
Anforderungen erfüllt werden. Wie er das erreicht, haben die thurgauischen
Behörden festzulegen. Es ist nicht Sache des Bundesgerichts, den kantonalen
Behörden eine bestimmte Schätzungsmethode vorzuschreiben.

    e) Im Unterschied zu der in BGE 124 I 193 beanstandeten Zürcher
Regelung beruht die thurgauische Mietwertfestlegung nicht auf einer
pauschalen Methode, sondern auf einer Bewertung von Einzelobjekten.
Das bietet vermehrt Gewähr für eine verfassungskonforme Praxis. Dass
auch diese Methode gewisse schematisierende Elemente enthält, liegt in
der Natur der Sache und führt noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der
darauf gestützten Werte (vorne E. 3c).

    f) Zweifel an der Verfassungsmässigkeit könnten sich daraus ergeben,
dass der Marktwert im Laufe der Zeit beträchtlich schwanken kann. Das
Fehlen eines Spielraumes hat zur Folge, dass die einmal festgesetzten
Mietwerte schon bei relativ geringfügigen Schwankungen der Marktwerte
unter die verfassungsrechtliche Untergrenze von 60% fallen können. Indessen
legt das Gesetz selber nicht fest, in welchen Zeitabständen die Mietwerte
festzusetzen sind. Es wird Sache der rechtsanwendenden Behörden sein,
eine Regelung zu treffen, die bei Schwankungen der Marktwerte eine
Anpassung der Mietwerte erlaubt und sicherstellt, dass der Abzug auch
bei geänderten Verhältnissen maximal 40% des Marktwertes beträgt.

    g) Gesamthaft ergibt sich, dass das angefochtene Gesetz unter Beachtung
der vorstehenden Erwägungen verfassungskonform angewendet werden kann und
jedenfalls nicht zwangsläufig und systemimmanent zu verfassungswidrigen
Ergebnissen führt.