Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 I 60



125 I 60

7. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 5.
November 1998 i. S. S. gegen Staatsanwaltschaft und Anklagekammer des
Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Persönliche Freiheit. §§ 105 und 106 StPO/TG.  Untersuchungshaft:
Fortsetzungs- und Fluchtgefahr, Verhältnismässigkeit.

    Voraussetzungen, unter denen Fortsetzungs- (E. 3a und 3b) und
Fluchtgefahr (E. 3a und 3c) (Fall eines Asylbewerbers) gegeben ist.

    Die Möglichkeit, dass die drohende Strafe bedingt ausgesprochen wird,
ist bei der Beurteilung der Untersuchungshaft auf ihre Verhältnismässigkeit
hin grundsätzlich nicht zu berücksichtigen (E. 3d).

Sachverhalt

    S. wurde am 2. April 1998 von der Kantonspolizei Thurgau aufgrund
eines Haftbefehls der Bezirksanwaltschaft Winterthur wegen des Verdachts,
verschiedene Einbruchdiebstähle begangen zu haben, verhaftet und tags
darauf vom Haftrichter des Bezirksgerichts Winterthur in Untersuchungshaft
gesetzt. In der Folge wurde das Strafverfahren vom Bezirksamt Bischofszell
(Thurgau) übernommen. Dieses liess sich S. zuführen und setzte ihn am
20. Juli 1998 in Untersuchungshaft. Am 25. Juli 1998 wies der Präsident
der Anklagekammer des Kantons Thurgau ein Haftentlassungsgesuch von
S. ab. Am 17. August 1998 bewilligte die Staatsanwaltschaft des Kantons
Thurgau die Verlängerung der Untersuchungshaft bis zum 31. Oktober 1998.

    Am 16. September 1998 wies das Bezirksamt Bischofszell ein
Haftentlassungsgesuch von S. ab und überwies die Sache dem Präsidenten
der Anklagekammer des Kantons Thurgau zur Prüfung. Dieser erkannte mit
Entscheid vom 22. September 1998:

    "1. Die vom Bezirksamt Bischofszell am 20. Juli 1998 angeordnete

    Untersuchungshaft war zulässig und es wird festgestellt, dass die

    Haftgründe der Flucht- und Fortsetzungsgefahr im Sinne von § 106
Absatz 1

    Ziffer 1 und 3 StPO nach wie vor gegeben sind."

    Am 30. September 1998 verfügte das Bezirksamt Bischofszell die
Entlassung von S. aus der Untersuchungshaft und seine Überweisung in den
vorzeitigen Strafvollzug auf den 1. Oktober 1998.

    Mit Eingabe vom 13. Oktober 1998 erhebt S. staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV gegen den Entscheid des
Präsidenten der Anklagekammer vom 22. September 1998 mit dem Antrag,
er sei aufzuheben. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Untersuchungs- und, nach Abschluss der Untersuchung,
Sicherheitshaft kann im Kanton Thurgau (u.a.) verhängt werden, wenn der
Angeschuldigte eines Vergehens oder Verbrechens dringend verdächtig ist
und Flucht- oder Fortsetzungsgefahr besteht (§ 105 Abs. 2 i.V.m. § 106
Abs. 1 Ziff. 1 und 3 und Abs. 3 der Strafprozessordnung vom 30. Juni
1970/5. November 1991; StPO/TG). Die Untersuchungshaft darf nur solange
aufrechterhalten werden, als ein Haftgrund besteht und sie die Dauer
der dem Angeschuldigten drohenden Freiheitsstrafe nicht überschreitet
(§ 106 Abs. 2 StPO/TG). Eine unter diesen Voraussetzungen angeordnete
Inhaftierung ist auch unter dem Gesichtswinkel der persönlichen Freiheit
grundsätzlich nicht zu beanstanden.

    b) Nicht umstritten ist, dass der allgemeine Haftgrund des dringenden
Tatverdachts gegeben ist. Der Beschwerdeführer hat im Laufe des Verfahrens
zugegeben, an einer Serie von Einbruchdiebstählen mit einer Deliktssumme
in der Grössenordnung von über 100'000 Franken beteiligt gewesen zu sein.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer macht indessen geltend, es bestehe weder
Flucht- noch Fortsetzungsgefahr.

    a) Die Anordnung von Untersuchungshaft wegen Fortsetzungsgefahr
ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verhältnismässig, wenn
einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und anderseits die zu
befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Die rein hypothetische
Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit,
dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus,
um eine Präventivhaft zu begründen (BGE 123 I 268 S. 270 unten).

    Für die Annahme von Fluchtgefahr genügt nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts die Höhe der dem Angeschuldigten drohenden Freiheitsstrafe
für sich allein nicht. Eine solche darf nicht schon angenommen werden,
wenn die Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr
müssen konkrete Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als
möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Höhe der
drohenden Freiheitsstrafe kann immer nur neben anderen, eine Flucht
begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE 117 Ia 69 E. 4a; 108
Ia 64 E. 3; 107 Ia 3 E. 6).

    b) Der Präsident der Anklagekammer hat im angefochtenen Entscheid
im Wesentlichen Fortsetzungsgefahr bejaht, weil der Beschwerdeführer,
nachdem er vom 6. bis zum 9. Februar 1998 wegen eines Einbruchdiebstahls
in Untersuchungshaft war, bereits in der Nacht vom 15. zum 16. Februar
1998 wieder straffällig wurde und anschliessend bis zu seiner erneuten
Verhaftung am 2. April 1998 die ihm nun vorgeworfene Diebstähle beging.

    Das ist nicht zu beanstanden. Der Beschwerdeführer konnte sich mit
den Lebensbedingungen, wie sie ihm in der Schweiz angeboten wurden,
offensichtlich nicht abfinden. So beklagte er sich am 10. September
1998 gegenüber dem Vize-Statthalter des Bezirksamtes Bischofszell in der
Untersuchung über die ungenügende Höhe der Unterstützung und fügte auf
den anschliessenden Vorhalt, es gebe in der Schweiz viele Asylbewerber,
die mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Geld auskämen, hinzu: "Ich
glaube, es gibt nicht viele Asylbewerber, die nicht irgendetwas machen,
um den Lebensstandard zu verbessern". Damit hat der Beschwerdeführer
nicht nur deutlich gemacht, dass er die ihm zur Verfügung gestellte
Unterstützung von monatlich Fr. 480.-- unzumutbar tief findet. Er hat
auch gezeigt, dass er willens und fähig ist, diese auf kriminelle Weise
aufzubessern und sich davon auch durch eine Strafuntersuchung nicht
abhalten lässt. Auf jeden Fall hat er mit der nahtlosen Fortsetzung
seiner Straftaten trotz der eingeleiteten Untersuchung und der ersten
Untersuchungshaft eine Unverfrorenheit an den Tag gelegt, die gegenwärtig
nicht erlaubt anzunehmen, er lasse sich durch die inzwischen erlittene
längere Untersuchungshaft von weiteren Straftaten abhalten. Seine
ökonomische Situation ist nach wie vor die gleiche, und nachdem sein
Asylgesuch inzwischen abgewiesen und ihm eine Ausreisefrist angesetzt
wurde, hat er in der Schweiz praktisch nichts mehr zu verlieren und
ist die Warnwirkung eines Freiheitsentzuges entsprechend gering. Daran
vermag nichts zu ändern, dass er bei der oben angeführten Einvernahme
dann anführte, er sehe jetzt ein, dass er auf dem falschen Weg sei. Es
besteht daher nicht bloss die hypothetische Möglichkeit eines Rückfalls;
die Rückfallprognose erscheint vielmehr als sehr ungünstig. Angesichts der
ihm zur Last gelegten Höhe der Deliktssumme sind auch Delikte schwerer
Natur zu befürchten, weshalb die Bejahung der Fortsetzungsgefahr seine
verfassungsmässigen Rechte nicht verletzt.

    c) Der aus dem Kosovo stammende Beschwerdeführer kam nach seinen
eigenen Angaben mit gefälschten slowenischen Reisepapieren nach Italien
und danach am 18. Februar 1997 als Asylbewerber in die Schweiz. Sein
Asylgesuch wurde, wie erwähnt, inzwischen abgewiesen und das Bundesamt
für Flüchtlinge setzte ihm am 4. Dezember 1997 eine Ausreisefrist an, die
in der Zwischenzeit abgelaufen ist. Es ist somit kein plausibler Grund
ersichtlich, der ihn von einer Flucht abhalten und veranlassen könnte,
eine allfällige Freiheitsstrafe freiwillig anzutreten. Der Umstand,
dass sein Bruder in Winterthur lebt, ist jedenfalls dazu nicht geeignet,
schon weil eine allfällige Flucht des Beschwerdeführers die Beziehung
der beiden Brüder keineswegs auf Dauer unterbinden müsste. Da er zudem,
wie seine Einreise zeigt, offensichtlich auch gewillt und in der Lage
ist, sich nötigenfalls gefälschte Reisedokumente zu beschaffen, hat der
Präsident der Anklagekammer im angefochtenen Entscheid Fluchtgefahr ohne
Verfassungsverletzung bejaht.

    d) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Staatsanwaltschaft beantrage
eine Strafe von unter 18 Monaten, sodass er mit dem bedingten Strafvollzug
rechnen könne. Die weitere Inhaftierung sei daher willkürlich.

    Der Beschwerdeführer befindet sich seit rund 7 Monaten in Haft. Er
tut nicht dar, dass der voraussichtliche Strafantrag von rund 18 Monaten
überrissen wäre, und das ist auch nicht ersichtlich. Es kann daher
vorläufig noch nicht die Rede davon sein, die erstandene Untersuchungshaft
rücke in grosse Nähe der dem Beschwerdeführer drohenden Strafe. Dass bei
diesem Strafantrag die Gewährung des bedingten Strafvollzugs möglich ist,
ist dabei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts grundsätzlich nicht zu
berücksichtigen (BGE 124 I 208 E. 6). Im Übrigen ist der Beschwerdeführer
darauf hinzuweisen, dass der bedingte Strafvollzug auch einem Ersttäter
nicht in jedem Fall zu gewähren ist, sondern nur, wenn ihm eine gute
Prognose gestellt werden kann (Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB). Das steht
in seinem Fall nach dem unter b) Gesagten jedenfalls keineswegs von
vornherein fest.