Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 I 54



125 I 54

6. Auszug aus dem Urteil der II. OerA vom 17. November 1998 i.S. R. gegen
Kanton Basel-Stadt und Kanton Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 46 Abs. 2 BV; Steuerdomizil lediger Arbeitnehmer.

    Das Steuerdomizil von ledigen Arbeitnehmern befindet sich grundsätzlich
am Arbeitsort; mögliche Ausnahmen. Zusammenfassung der Rechtsprechung
(E. 2).

    Beweislast für einen vom Arbeitsort abweichenden Lebensmittelpunkt
(E. 3a).

    Arbeitsort als Steuerdomizil mangels familiärer Beziehungen zum
Wochenendaufenthaltsort (E. 3b).

Sachverhalt

    Dr. sc. nat. R. wurde am 25. Juni 1956 in S. auf Sardinien
geboren. Während seine Familie nach wie vor in Italien lebt, hält
er sich seit dem Jahre 1981 in der Schweiz auf. Von Zürich, wo er
an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) im Fach Chemie
doktorierte, zog er im Oktober 1987 nach A. (ZH). Dort wurde er im
Jahre 1994 eingebürgert; seither ist er schweizerisch-italienischer
Doppelbürger. R. ist unverheiratet, lebt allein und hat am B.-weg eine
2-Zimmer-Wohnung gemietet; Steuern bezahlte er bis anhin in A.

    Seit dem 1. September 1994 arbeitet R. für die X. AG in Basel, wo er
sich auf den 1. Juli 1995 als Wochenaufenthalter angemeldet hat. Zuerst
wohnte er in Basel in einer möblierten 11/2-Zimmer-Wohnung; am 15. August
1995 zog er nach C. (BS). Seit dem 1. März 1996 bewohnt er dort (allein)
eine 2-Zimmer-Wohnung an der D.-gasse.

    Am 23. August 1996 verfügte die Steuerverwaltung des Kantons
Basel-Stadt, R. sei ab dem 1. Januar 1997 im Kanton Basel-Stadt
steuerpflichtig.

    Diesen Entscheid bestätigte die Steuerverwaltung Basel-Stadt am
18. November 1996 auf Einsprache hin.

    Hiergegen hat R. am 19. Dezember 1996 beim Bundesgericht
staatsrechtliche Beschwerde eingereicht mit dem Antrag, den
Einspracheentscheid aufzuheben und festzustellen, dass er weiterhin
in A. im Kanton Zürich steuerpflichtig sei; er rügt eine Verletzung
von Art. 46 Abs. 2 BV (Doppelbesteuerungsverbot) und bestreitet das
Besteuerungsrecht des Kantons Basel-Stadt, wobei er aber auch die Frage
nach der Steuerhoheit des Kantons Zürich ab 1. Januar 1997 aufwirft.

    Das Bundesgericht hat die staatsrechtliche Beschwerde gegen den Kanton
Basel-Stadt abgewiesen und jene gegen den Kanton Zürich gutgeheissen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Bestreitet eine zur Veranlagung herangezogene Person die
Steuerhoheit des Kantons, muss grundsätzlich in einem Vorentscheid
rechtskräftig über die Steuerpflicht entschieden werden, bevor das
Veranlagungsverfahren fortgesetzt werden darf (BGE 123 I 289 E. 1a S. 291
f., mit Hinweisen). Vorliegend ist ein solcher Vorentscheid über die
Steuerhoheit (sog. Steuerdomizilentscheid) angefochten; er kann, wenn
die Verletzung von Art. 46 Abs. 2 BV gerügt wird, ohne Erschöpfung des
kantonalen Instanzenzugs direkt mit staatsrechtlicher Beschwerde beim
Bundesgericht angefochten werden (Art. 86 Abs. 2 OG; vgl. BGE 123 I 289
E. 1a S. 291 f.).

    b) Eine gegen Art. 46 Abs. 2 verstossende Doppelbesteuerung liegt vor,
wenn eine steuerpflichtige Person von zwei oder mehreren Kantonen für das
gleiche Steuerobjekt und für die gleiche Zeit zu Steuern herangezogen
wird (aktuelle Doppelbesteuerung) oder wenn ein Kanton in Verletzung
der geltenden Kollisionsnormen seine Steuerhoheit überschreitet und
eine Steuer erhebt, die einem anderen Kanton zustehen würde (virtuelle
Doppelbesteuerung; BGE 116 Ia 127 E. 2a S. 130).

Erwägung 2

    2.- Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 46 Abs. 2
BV steht die Besteuerung des Einkommens und beweglichen Vermögens
unselbständig erwerbender Personen dem Kanton zu, in welchem sich deren
Steuerdomizil befindet. Darunter ist in der Regel der zivilrechtliche
Wohnsitz zu verstehen, d.h. der Ort, an dem sich die betreffende Person mit
der Absicht dauernden Verbleibens aufhält (Art. 23 Abs. 1 ZGB) bzw. wo der
Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen liegt (Urteil vom 20. Januar 1994 in:
ASA 63 S. 839 E. 2a). Keine entscheidende Bedeutung kommt diesbezüglich
dem polizeilichen Domizil zu: Das Hinterlegen der Schriften und das Ausüben
der politischen Rechte bilden - zusammen mit dem übrigen Verhalten der
betreffenden Person - blosse Indizien für den steuerrechtlichen Wohnsitz
(vgl. BGE 123 I 289 E. 2a S. 293 f., mit Hinweisen).

    a) Hält sich eine Person abwechslungsweise an zwei Orten auf,
namentlich wenn Arbeits- und sonstiger Aufenthaltsort auseinander fallen,
ist für die Ermittlung des Steuerwohnsitzes darauf abzustellen, zu welchem
der beiden sie stärkere Beziehungen unterhält. Der Lebensmittelpunkt
bestimmt sich dabei nach der Gesamtheit der objektiven, äusseren Umstände,
aus denen sich die Lebensinteressen erkennen lassen, nicht nach bloss
erklärten Wünschen der steuerpflichtigen Person (BGE 123 I 289 E. 2b
S. 294, mit Hinweisen); der steuerliche Wohnsitz ist insofern nicht
frei wählbar.

    b) Das Steuerdomizil von Unselbständigerwerbenden liegt grundsätzlich
am Arbeitsort, von dem aus sie für längere oder unbestimmte Zeit der
täglichen Erwerbstätigkeit nachgehen (vgl. BGE 123 I 289 E. 2b S. 294,
mit Hinweisen).

    aa) Eine Ausnahme besteht nach ständiger Rechtsprechung für
verheiratete Steuerpflichtige, die täglich oder an den Wochenenden
regelmässig zu ihrer Familie zurückkehren: Die durch persönliche und
familiäre Bande begründeten Beziehungen werden für stärker erachtet als
jene zum Arbeitsort; deshalb sind diese Steuerpflichtigen in der Regel am
Aufenthaltsort der Familie zu besteuern (vgl. Urteil vom 20. Januar 1994
in: ASA 63 S. 839 E. 2b; LOCHER, Die Praxis der Bundessteuern, III. Teil:
Doppelbesteuerung, § 3, I B, 2a Nrn. 1-3, 5, 9-12, 14, 16, 18, und dort
erwähnte Praxis); anders verhält es sich grundsätzlich nur, wenn sie in
leitender Stellung tätig sind (BGE 121 I 14 E. 4a S. 16; LOCHER, aaO, §
3, I B, 2a Nr. 9 und § 3, I B, 1b Nrn. 1-17).

    bb) Diese Praxis findet auch auf ledige Personen Anwendung, zählt
die Rechtsprechung doch Eltern und Geschwister ebenfalls zur Familie
des Steuerpflichtigen. Allerdings werden die Kriterien, nach welchen das
Bundesgericht entscheidet, wann anstelle des Arbeitsorts der Aufenthaltsort
der Familie als Steuerdomizil anerkannt werden kann, besonders streng
gehandhabt; dies folgt aus der Erfahrung, dass die Bindung zur elterlichen
Familie regelmässig lockerer ist als jene unter Ehegatten. Bei ledigen
Steuerpflichtigen ist vermehrt noch als bei verheirateten Personen
zu berücksichtigen, ob weitere als nur familiäre Beziehungen zum einen
oder anderen Ort ein Übergewicht begründen. Dadurch erhält der Grundsatz,
wonach das Steuerdomizil von Unselbständigerwerbenden am Arbeitsort liegt,
grösseres Gewicht: Selbst wenn ledige Steuerpflichtige allwöchentlich
zu den Eltern oder Geschwistern zurückkehren, können die Beziehungen
zum Arbeitsort überwiegen. Dies kann namentlich dann zutreffen,
wenn sie sich am Arbeitsort eine Wohnung eingerichtet haben, dort ein
Konkubinatsverhältnis haben oder über einen besonderen Freundes- und
Bekanntenkreis verfügen (vgl. Urteil vom 20. Januar 1994 in: ASA 63 S. 840
f. E. 2c, mit Hinweisen). Besonderes Gewicht haben in diesem Zusammenhang
auch die Dauer des Arbeitsverhältnisses und das Alter des Steuerpflichtigen
(vgl. Urteil vom 9. Dezember 1992 in: ASA 62 S. 446 E. 4).

    cc) Erfahrungsgemäss führt die Pflege familiärer Beziehungen zu
einer engeren Verbundenheit mit einem Ort als andere Kontakte; Konsequenz
dieses Umstandes ist, dass bei ledigen Steuerpflichtigen kaum Ausnahmen
vom Steuerdomizil am Arbeitsort vorkommen, wenn sie an jenem Ort, wo sie
die Wochenenden verbringen, keine familiären Beziehungen unterhalten. Nur
mit Zurückhaltung ist anzunehmen, dass die Beziehungen zum Ort der
Wochenendaufenthalte stärker sind als jene zum Arbeitsort. Dies ist im
Übrigen durchaus sachgerecht: Sinn und Zweck der direkten Steuern ist es,
die allgemeinen Leistungen abzugelten, welche das Gemeinwesen für seine
Mitglieder erbringt. Nun nehmen ledige Steuerpflichtige ohne Familie
die öffentliche Infrastruktur und die Leistungen des Gemeinwesens in
ungleich grösserem Masse an dem Ort in Anspruch, an welchem sie einer
Erwerbstätigkeit nachgehen und sich demzufolge mehrheitlich aufhalten,
als am Ort, wo sie ihre Freizeit verbringen. Diesbezüglich unterscheiden
sie sich von jenen Steuerpflichtigen, die über enge familiäre Bindungen
am Leben teilhaben, das sich am Aufenthaltsort der Familie abspielt. So
hat das Bundesgericht in einem kürzlich ergangenen Entscheid festgestellt,
das Steuerdomizil einer ledigen, 43-jährigen Frau, die über keine näheren
Familienangehörigen verfügt, liege dort, wo sie seit acht Jahren arbeitet
und während der Woche in einer möblierten 1-Zimmer-Wohnung lebt, ungeachtet
dessen, dass sie andernorts eine 2-Zimmer-Eigentumswohnung erworben hat,
in welcher sie regelmässig Wochenenden und Ferien verbringt, und dass sie
ihren ganzen Freundes- und Bekanntenkreis auch dort unterhält (vgl. Urteil
vom 2. September 1997 in: Praxis 87/1998 Nr. 4 S. 24 f. E. 2c).

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer macht geltend, er halte sich lediglich in
dem Masse in Basel auf, wie es seine berufliche Tätigkeit verlange; die
Freizeit (Wochenenden und Ferien) verbringe er regelmässig in A. Da er
zu diesem Ort die engsten persönlichen und affektiven Beziehungen habe,
liege sein steuerrechtlicher Wohnsitz dort.

    a) Der Beschwerdeführer wohnt und arbeitet während der Woche in C. bzw.
Basel. Wenn er sich in A. aufhält, lebt er dort grundsätzlich allein; es
handelt sich dabei nicht um einen Familienort im Sinne der dargestellten
Rechtsprechung, hat der Beschwerdeführer doch keine Familienangehörigen,
die in der Schweiz leben. Deshalb lässt sich aus den von ihm zitierten
Bundesgerichtsurteilen nichts zu seinen Gunsten ableiten; diese betreffen
allesamt den Wohnort der Familie. Ledige Steuerpflichtige ohne intensive
Kontakte zu nahen Familienangehörigen begründen nach dem Gesagten nur
ausnahmsweise dort ein Steuerdomizil, wo sie sich in ihrer Freizeit
aufhalten. Sie haben den Nachweis eines vom Arbeitsort abweichenden
Lebensmittelpunktes selbst zu erbringen, kann doch vom Kanton, in dem sie
ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen, nicht verlangt werden, das Überwiegen
ihrer persönlichen Beziehungen zum Arbeitsort zu beweisen (vgl. Urteil
vom 2. September 1997 in: Praxis 87/1998 Nr. 4 S. 25 E. 2c).

    b) Dem Beschwerdeführer gelingt es nicht, eine stärkere Verbindung
mit A. als mit Basel nachzuweisen: Seine persönlichen Beziehungen zum
Kanton Zürich erscheinen nicht unbedeutend; sie reichen jedoch nicht
aus, um die Bindung aufzuwiegen, welche zu Basel bzw. C. aufgrund der
täglichen Arbeit und des Verweilens während der Woche besteht. Nach
eigenen Angaben handelt es sich beim Verhältnis des Beschwerdeführers mit
K. nicht um ein Konkubinat, sondern um eine "feste Partnerschaft"; beide
haben eine eigene Wohnung, verbringen jedoch angeblich die Wochenenden
gemeinsam in A. bzw. Zürich. Da die Partner nicht zusammen leben, ist die
bestehende Beziehung nicht derart eng, dass ihr bei der Bestimmung des
Steuerdomizils grösseres Gewicht beizumessen wäre. Auch der Einbürgerung
in A. kommt in Anbetracht der Lebensgeschichte des Beschwerdeführers keine
grosse Bedeutung zu; dieser verfügt abgesehen vom Bürgerrecht über keine
intensiven Beziehungen zu diesem Ort, ist er doch dort weder aufgewachsen
noch zur Schule gegangen. Er hat vielmehr in Zürich doktoriert, wo er
damals auch gewohnt hat. Nach A. ist er erst im Alter von 31 Jahren
gezogen; in den dort ortsansässigen Vereinen ist er nicht aktiv. Dem
Instruktionskurs, den er bei der Zivilschutzorganisation von A. absolviert
hat, ist diesbezüglich keine Bedeutung beizumessen. Abgesehen von den
unmittelbaren Nachbarn lebt der grosse Teil der Bekannten, auf die er sich
mittels schriftlicher Bestätigungen beruft, in der Stadt Zürich und nicht
in A. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer offenbar einen Teil seiner
Wochenenden mit K. in deren Wohnung an der E.-strasse in Zürich verbringt,
verdeutlicht weiter, dass er nicht speziell mit seinem bisherigen Wohnort
A., sondern mehr mit dem Raum Zürich insgesamt verbunden ist.

    Unerheblich ist, dass der Beschwerdeführer nur wegen eines
unfreiwilligen Stellenverlustes in Basel arbeitet und gedenkt, möglichst
bald wieder in Zürich erwerbstätig zu sein. Im Zeitpunkt, ab dem der Kanton
Basel-Stadt das Besteuerungsrecht beansprucht, war der Beschwerdeführer
40 Jahre alt und seit knapp 21/2 Jahren bei der X. AG tätig; von einer
blossen Zwischenlösung, die nur vorübergehender Natur wäre, kann demnach
nicht die Rede sein. Weiter fällt ins Gewicht, dass der Beschwerdeführer
in Basel bereits die dritte Wohnung gemietet hat, die - wie jene in A. -
immerhin über zwei Zimmer verfügt und die er selbst möbliert hat. Trotz
der Chorproben, die der Beschwerdeführer häufig am Mittwochabend in
Zürich besucht, hält er sich mehrheitlich in Basel auf. Es erscheint
wenig glaubwürdig, dass er dort weder zu Berufskollegen noch zu Nachbarn
irgendwelche Beziehungen geknüpft hat. Überdies wird er wohl - entgegen
der Behauptung in der Beschwerdeschrift - seine Besorgungen zu einem
guten Teil unter der Woche in Basel erledigen müssen; er wird kaum alles
bis zum Wochenende aufschieben können.

    c) Die Kritik des Beschwerdeführers am Einspracheentscheid der
kantonalen Steuerverwaltung ist unbegründet. Diese hat - entgegen den
Vorbringen in der Beschwerdeschrift - ausführlich und verständlich
dargelegt, welche Gründe sie zum angefochtenen Entscheid bewogen
haben. Im Übrigen war sie zur Vornahme weiterer Sachverhaltsabklärungen
nicht verpflichtet. Aufgrund der bekannten Umstände oblag es dem
Beschwerdeführer, selbst den Beweis seiner überwiegenden persönlichen
Beziehungen zu A. zu erbringen (vgl. E. 3a). Die kantonale Steuerverwaltung
muss sich ferner nicht vorwerfen lassen, ihre Haltung zum Steuerdomizil
des Beschwerdeführers gewechselt zu haben: Es lag für die Zeit vor dem
1. Januar 1997 keineswegs eine Anerkennung des Wochenaufenthalterstatus des
Beschwerdeführer vor. Die Steuerverwaltung Basel-Stadt muss sich bereits
deshalb nicht auf eine Veränderung der tatsächlichen Begebenheiten berufen
können, um ihren heutigen Standpunkt einnehmen zu dürfen.