Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 I 412



125 I 412

38. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. Oktober 1999 i.S.
A. gegen B. Canada Ltd., C. Trust Company und D. Trust Corporation
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 86 Abs. 1 OG; Anfechtbarkeit einer Verfügung des Kantonsgerichts-
präsidenten über die Freigabe von gepfändeten Vermögenswerten im Rahmen
der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung nach Art. 36 und Art. 37 Abs. 1
und 2 LugÜ.

    Für das Rechtsbehelfsverfahren nach dem Lugano-Übereinkommen
ist das Kantonsgericht zuständig, und zwar unbesehen um den Ausgang
des erstinstanzlichen Verfahrens vor dem Rechtsöffnungs- bzw. dem
Vollstreckungsrichter. Mit dem Kantonsgericht ist die oberste, für den
ganzen Kanton zuständige Zivil- bzw. Handelsgerichtsbehörde gemeint. Die
Regelung nach der Zuger Zivilprozessordnung, wonach sowohl gegen den
Einspracheentscheid des Kantonsgerichtspräsidenten als auch gegen den
Entscheid der Justizkommission des Obergerichts die staatsrechtliche
Beschwerde ergriffen werden kann, widerspricht dem übergeordneten
Staatsvertrag (E. 1b). Überweisung der Sache an die Justizkommission
(E. 1c).

Sachverhalt

    A.- Die B. Canada Ltd., die C. Trust Company und die D. Trust
Corporation (Treuhänderinnen von Pensionskassen der B. Corporation,
Canada) erstatteten gegen A. Strafanzeige im Kanton Tessin und klagten
ihn (nebst anderen) zivilrechtlich vor dem High Court in London ein. Am
23. Mai 1997 erliess der High Court zivilrechtliche sichernde Massnahmen
(sog. Mareva Injunctions), die der Kantonsgerichtspräsident im Kanton Zug
(als Einzelrichter) mit Verfügung vom 27. Februar 1998 zum Teil anerkannte
und vollstreckbar erklärte, wobei er A. im Wesentlichen untersagte, sein
Vermögen in der Schweiz zu vermindern oder darüber zu verfügen. Hiergegen
reichte A. den Rechtsbehelf gemäss Art. 36 f. des Übereinkommens
vom 16. September 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die
Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
(Lugano-Übereinkommen, LugÜ; SR 0.275.11) ein. Das Verfahren ist noch
hängig.

    Das Hauptverfahren vor dem High Court in London wurde mit Entscheiden
vom 20. Mai und 12. Juni 1998 beendet. A. wurde verurteilt, den Ansprechern
ca. 234 Mio. CAN$ und ca. 125 Mio. US$ zu bezahlen. Auch für diese
Entscheide ersuchten die Ansprecherinnen den Kantonsgerichtspräsidenten im
Kanton Zug um Anerkennung und Vollstreckbarerklärung im Sinne des LugÜ. Mit
Verfügung vom 29. Oktober 1998 entsprach der Kantonsgerichtspräsident (als
Rechtsöffnungsrichter) dem Ersuchen und ordnete als Sicherungsmassnahme
die provisorische Pfändung in Analogie zu Art. 83 Abs. 1 SchKG bis zum
Höchstbetrag von 4 Mio. Franken an (Betrag des geschätzten Vermögens von A.
in der Schweiz). A. ergriff auch gegen diesen Entscheid den Rechtsbehelf
gemäss Art. 36 f. LugÜ. Das Verfahren ist ebenfalls noch hängig.

    B.- Am 14. Mai 1999 ersuchte A. den Kantonsgerichtspräsidenten, das
Betreibungsamt Z. anzuweisen, aus provisorisch gepfändeten Bankguthaben Fr.
22'950.- an die Kantonalbank X. zu überweisen. Er sei nicht in der Lage,
die halbjährlich fällig werdenden Zins- und Amortisationsraten für seine
Festzinshypothek auf der Ferienhausliegenschaft im Kanton Graubünden zu
bezahlen und müsse die Kündigung der Hypothek gewärtigen, wenn er seinen
Pflichten nicht nachkomme.

    Der Kantonsgerichtspräsident (als Rechtsöffnungsrichter) wies das
Gesuch am 25. Juni 1999 zur Zeit ab. Er erwog, es sei auf Grund der von
den Gesuchsgegnerinnen namhaft gemachten Vermögensdispositionen A. nicht
auszuschliessen, dass dieser noch über freie Vermögenswerte verfüge,
und die Verwertung des Grundpfandes könnte ohnehin frühestens Ende März
2000 stattfinden, so dass dem Gesuchsteller derzeit kein Schaden drohe.

    C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 29. Juli 1999 beantragt A. dem
Bundesgericht, die Verfügung des Kantonsgerichtspräsidenten aufzuheben
und die Sache zu neuer Entscheidung an diesen zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit der bei ihm
eingereichten Beschwerden von Amtes wegen und mit freier Kognition (BGE
125 II 293 E. 1a; 124 I 11 E. 1).

    b) Die staatsrechtliche Beschwerde ist nur gegen letztinstanzliche
kantonale Entscheide (Endentscheide und Zwischenentscheide) zulässig (Art.
86 Abs. 1 OG). Vorliegend stellt sich die Frage, ob der angefochtene
Entscheid kantonal letztinstanzlich ist. Der Kantonsgerichtspräsident
hatte bzw. hat über die Vollstreckbarkeit und die angeordneten
Sicherungsmassnahmen im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens nach Art. 36 f.
LugÜ entschieden bzw. noch zu entscheiden, nachdem er die umstrittenen
Anordnungen bereits erstinstanzlich - als Rechtsöffnungsrichter
gemäss Art. 31 f. LugÜ - getroffen hat (vgl. Art 226bis Abs. 1
ZPO/ZG). Art. 226bis ZPO/ZG sieht für das Rechtsbehelfsverfahren zwei
verschiedene Zuständigkeiten vor. Hat der Kantonsgerichtspräsident
den Antrag auf Anerkennung und Vollstreckung abgelehnt, so kann der
Antragsteller bei der Justizkommission des Obergerichts Beschwerde gemäss
Art. 208 ff. ZPO/ZG einlegen (Art. 226bis Abs. 4 Satz 1 ZPO/ZG). Hat er dem
Antrag aber entsprochen, so kann der Schuldner Einsprache erheben, über die
wiederum der Kantonsgerichtspräsident entscheidet (Art. 226bis Abs. 5 Satz
1 ZPO/ZG). Sowohl gegen den Entscheid der Justizkommission des Obergerichts
als auch gegen den Einspracheentscheid des Kantonsgerichtspräsidenten kann
die staatsrechtliche Beschwerde ergriffen werden (Art. 226bis Abs. 4 und
5 je Satz 2 ZPO/ZG). Für das Rechtsmittel an das Bundesgericht entspricht
diese Regelung Art. 37 Abs. 2 und Art. 41 LugÜ, wonach gegen den Entscheid,
der über den Rechtsbehelf ergangen ist, staatsrechtliche Beschwerde beim
Bundesgericht eingelegt werden kann. Im Rechtsbehelfsverfahren ist laut
Art. 37 Abs. 1 LugÜ die Zuständigkeit des Kantonsgerichts (tribunal
cantonal/-tribunale cantonale) gegeben, und zwar unbesehen um den
Ausgang des erstinstanzlichen Verfahrens vor dem Rechtsöffnungs- bzw. dem
Vollstreckungsrichter (vgl. Art. 32 Abs. 2 LugÜ). Die Erläuterungen in der
Botschaft zum LugÜ (BBl 1990 II 265 ff., insbesondere S. 328 Ziff. 237.4)
stellen klar, dass der Begriff des Kantonsgerichts stellvertretend
für die oberste kantonale Gerichtsbehörde in Zivil- und Handelssachen
(in mehreren Kantonen auch Obergericht genannt) verwendet wird. Die
Zuständigkeit eines unteren kantonalen Gerichts sieht der Staatsvertrag
für das Rechtsbehelfsverfahren nicht vor.

    Das Bundesamt für Justiz vertritt zwar in seinen «Erläuterungen
zur Geldvollstreckung im Hinblick auf das Inkrafttreten (des LugÜ) am
1. Januar 1992» (in BBl 1991 IV 313 ff., insb. S. 318) die Auffassung,
das Rechtsbehelfsverfahren sollte im Falle des Widerspruchs des
Vollstreckungsschuldners als Einsprache- und nicht als eigentliches
Rechtsmittelverfahren aufgefasst werden. Zweckmässigerweise werde die
Einsprache durch die erlassende Instanz selbst geprüft. Sie erfülle
damit nachträglich den Gehörsanspruch und nehme eine ergänzende
Rechtskontrolle wahr. In diesem Sinne lasse sich der in Art. 37 Abs. 1
LugÜ enthaltene unbestimmte Begriff Kantonsgericht konkretisieren. Eine
derartige Ordnung des Rechtsmittelsystems wird grundsätzlich als zulässig
erachtet (Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 6. Aufl., Heidelberg
1998, N. 1 zu Art. 37 EuGVÜ), und der Kanton Zug ist der Empfehlung des
Bundesamtes mit dem am 25. Juni 1992 eingefügten Art. 226bis ZPO offenbar
gefolgt. Indessen hat die Schweiz für eine solche Regelung insofern keine
Grundlage geschaffen, als sie im LugÜ das Rechtsbehelfsverfahren sowohl bei
positiver als auch bei negativer erstinstanzlicher Beurteilung des Antrags
in die Hände des Kantonsgerichts gelegt hat. Dass dieser Begriff der
Konkretisierung im Sinne des Bundesamtes zugänglich sei, trifft nicht zu.
So geht denn auch aus der Botschaft hervor, dass mit dem Kantonsgericht
(allein) die oberste, für den ganzen Kanton zuständige Zivil- bzw.
Handelsgerichtsbehörde gemeint ist (vgl. BBl 1990 II 328 Ziff. 237.4,
ferner S. 327 Ziff. 237.2 a.E.). Für eine Auslegung, wie sie das Bundesamt
vorschlägt, besteht daher kein Raum (ebenso STAEHELIN, in: Kommentar zum
Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. I, N. 33 zu Art. 30a
SchKG, S. 222; CHRISTOPH LEUENBERGER, Lugano-Übereinkommen: Verfahren
der Vollstreckbarerklärung ausländischer «Geld»-Urteile, in AJP 1992
S. 965 ff., S. 969 Ziff. 1.6; H.U. WALDER, Anerkennung und Vollstreckung
von Entscheidungen, in: IVO SCHWANDER, Das Lugano-Übereinkommen,
St. Gallen 1990, S. 152; Y. DONZALLAZ, La convention de Lugano, Bern
1997, vol. II, N. 3922). Die Einspracheregelung gemäss Art. 226bis
Abs. 5 ZPO/ZG widerspricht demnach dem übergeordneten Staatsvertrag
(Art. 2 UebBest. BV in Verbindung mit Art. 113 Abs. 3 BV). Dies bedeutet,
dass kein kantonal letztinstanzlicher Entscheid vorliegt.

    c) Das Bundesgericht verzichtet in konstanter Praxis ausnahmsweise
auf das Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges, wenn
an der Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs ernsthafte Zweifel bestehen (BGE
120 Ia 194 E. 1d S. 198; 116 Ia 442 E. 1a). Derartige Zweifel sind hier
nach dem Ausgeführten nicht am Platz. Die Beurteilung der Begehren des
Beschwerdeführers fällt deshalb in die Zuständigkeit der Justizkommission
des Zuger Obergerichts (Art. 226bis Abs. 4 ZPO/ZG analog i.V.m. Art. 37
Abs. 1 LugÜ; Art. 15 Abs. 2 GOG/ZG i.V.m. Art. 208 ff. ZPO/ZG). Auf
die staatsrechtliche Beschwerde ist mangels Letztinstanzlichkeit des
angefochtenen Entscheids nicht einzutreten. Da die interessierende
zivilprozessuale Norm auf ein unzutreffendes Rechtsmittel hingewiesen
hat und dem Beschwerdeführer daraus kein Nachteil erwachsen darf
(vgl. Art. 107 Abs. 3 OG, BGE 124 I 255 E. 1a/aa), wird die Beschwerde
an die Justizkommission des Obergerichts des Kantons Zug zur Behandlung
überwiesen (BGE 125 I 313 E. 5 S. 320, mit Hinweisen).