Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 I 113



125 I 113

13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 5.
März 1999 i.S. S. gegen Haftrichter des Bezirksgerichtes Pfäffikon ZH
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 5 Ziff. 4 EMRK, Art. 9 Ziff. 4 UNO-Pakt II.

    Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei der Haftanordnung
sowie im Haftprüfungs- und Haftverlängerungsverfahren: Aus der
Bundesverfassung und den Menschenrechtsverträgen ergibt sich kein Recht
des Angeschuldigten auf persönliche Anhörung durch den Haftrichter im
Haftprüfungsverfahren. Ein solcher Anspruch kann allerdings (wie im Falle
der zürcherischen StPO) im kantonalen Prozessrecht gewährleistet sein
(E. 2a-b). Ein spezifischer Verzicht darauf lässt jedoch die übrigen
grundrechtlichen Gehörsansprüche, insbesondere auf Stellungnahme zum
Haftverlängerungsantrag des Untersuchungsbeamten, nicht dahinfallen
(E. 2c-d).

    Die Aufhebung des angefochtenen Haftbestätigungsentscheides in
Gutheissung der staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung des
rechtlichen Gehörs führt nicht zur Haftentlassung, was allein in den
Erwägungen des Bundesgerichtsentscheides festzuhalten ist; über die
Haftentlassung oder Haftbestätigung haben die kantonalen Behörden neu zu
befinden (E. 3).

Sachverhalt

    A.- S. wird der sexuellen Nötigung (Art. 189 StGB) und weiterer Delikte
dringend verdächtigt. Mit Verfügung vom 17. November 1998 ordnete der
Haftrichter des Bezirksgerichtes Pfäffikon ZH Untersuchungshaft gegen S.
an. Am 10. Februar 1999 stellte die Bezirksanwaltschaft Pfäffikon ZH einen
Haftverlängerungsantrag. Gleichentags verzichtete S. «auf eine Anhörung
durch den Haftrichter». Ebenfalls noch am 10. Februar 1999 verfügte
der Haftrichter des Bezirksgerichtes Pfäffikon ZH die Verlängerung der
Untersuchungshaft. Am 11. Februar 1999 ging per Fax die Stellungnahme
des Verteidigers zum Haftverlängerungsantrag der Bezirksanwaltschaft
beim Haftrichter ein. Gleichentags wurde der haftrichterliche Entscheid
an den Verteidiger versendet. Gegen den haftrichterlichen Entscheid
vom 10. Februar 1999 gelangte S. mit staatsrechtlicher Beschwerde an
das Bundesgericht. Dieses heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer rügt zunächst eine Verletzung des rechtlichen
Gehörs, da der angefochtene haftrichterliche Entscheid ergangen sei,
bevor er zum Haftverlängerungsantrag der Bezirksanwaltschaft habe Stellung
nehmen können.

    a) Art. 5 Ziff. 2 EMRK und Art. 9 Ziff. 2 UNO-Pakt II (SR 0.103.2)
gewährleisten das Grundrecht des Angeschuldigten, schon bei seiner
Festnahme über die Gründe seiner Verhaftung informiert und diesbezüglich
angehört zu werden. Art. 5 Ziff. 3 EMRK und Art. 9 Ziff. 3 UNO-Pakt
II schreiben sodann eine Vorführung des Angeschuldigten vor die
haftanordnende Behörde vor. Aus dem von Art. 4 BV und Art. 5 Ziff. 4
EMRK garantierten rechtlichen Gehör folgt schliesslich noch der Anspruch
des Inhaftierten, vor Erlass eines richterlichen Haftprüfungs- bzw.
Haftverlängerungsentscheides schriftlich oder mündlich Stellung nehmen zu
können. Nach der übereinstimmenden Praxis des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte und des Bundesgerichtes hat der Angeschuldigte
im Haftprüfungsverfahren das Recht, zu jeder Vernehmlassung der
Strafverfolgungsbehörde zu replizieren, und zwar unbekümmert darum,
ob die Behörde neue Tatsachen vorbringt oder nicht (BGE 120 IV 342
E. 2d S. 345; 116 Ia 295 E. 4a S. 300; 115 Ia 293 E. 4b S. 301;
114 Ia 84 E. 3 S. 87 f., 281 E. 4c S. 285; EGMR vom 21. Oktober 1986
i.S. Sanchez-Reisse c. CH, Série A, vol. 107, Ziff. 51; s. auch EGMR vom
18. Februar 1997 i.S. Nideröst-Huber c. CH, Rec. 1997-I, S. 101 = VPB 61
[1997] Nr. 108, Ziff. 24 ff.; vgl. ANDREAS DONATSCH, in: Donatsch/Schmid,
Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Zürich 1996/98, §
61 N. 17; MARC FORSTER, Rechtsschutz bei strafprozessualer Haft, SJZ 94
[1998] 2 ff./35 ff., 39 f.). Art. 5 Ziff. 4 EMRK verlangt demgegenüber
nicht, dass im Haftprüfungsverfahren eine mündliche Verhandlung vor dem
Haftrichter stattfinden müsste. Eine Vorführung vor die haftanordnende
Behörde hat (gestützt auf Art. 5 Ziff. 3 EMRK) lediglich bei der
Haftanordnung zu erfolgen. Das kantonale Strafprozessrecht kann
jedoch über diese grundrechtlichen Minimalansprüche hinausgehen und
eine richterliche Anhörung zusätzlich auch für das Haftprüfungs- und
Haftverlängerungsverfahren gewährleisten (Urteil des Bundesgerichtes vom
6. Oktober 1988 = EuGRZ 1989 S. 286 f. mit Hinweisen auf den zitierten
EGMR i.S. Sanchez-Reisse c. CH; vgl. DONATSCH, aaO, § 61 N. 12, 14; §
64 N. 30; § 65 N. 21; FORSTER, aaO, S. 39).

    b) Nach zürcherischem Strafprozessrecht hat der Untersuchungsbeamte
dem Haftrichter von Amtes wegen die Fortsetzung der Untersuchungshaft
(insbesondere dann) zu beantragen, wenn seit der Anordnung der
Untersuchungshaft drei Monate vergangen sind und der Angeschuldigte kein
Gesuch um Entlassung gestellt hat (§ 65 Abs. 1 Ziff. 1 StPO/ZH). Das
weitere Verfahren richtet sich nach den §§ 61 und 62 StPO/ZH (§ 65 Abs. 2
StPO/ZH). Der Haftrichter «gibt dem Angeschuldigten und seinem Verteidiger
Gelegenheit, sich zu den Vorbringen der Untersuchungsbehörde zu äussern»
(§ 61 Abs. 1 Satz 1 StPO/ZH). Zu diesem Zweck gewährt er ihnen »Einsicht
in die vom Untersuchungsbeamten unterbreiteten Akten» (§ 61 Abs. 1 Satz
2 StPO/ZH). Auf Verlangen des Inhaftierten ist dieser vom Haftrichter
sogar «persönlich anzuhören» (§ 61 Abs. 1 Satz 3 StPO/ZH). Der Haftrichter
entscheidet «aufgrund der vorgelegten Akten und der Vorbringen der Parteien
über Fortsetzung oder Aufhebung der Untersuchungshaft» (§ 62 Abs. 1 Satz
1 StPO/ZH).

    c) Es ist nach dem Gesagten zwischen dem fundamentalen Anspruch
des Inhaftierten auf rechtliches Gehör (§ 61 Abs. 1 Satz 1 StPO/ZH)
und dem vom zürcherischen Verfahrensrecht vorgesehenen zusätzlichen
(fakultativen) Anspruch auf persönliche Anhörung durch den Haftrichter
(§ 61 Abs. 1 Satz 3 StPO/ZH) zu differenzieren (vgl. DONATSCH, aaO, §
61 N. 13, 16 f.; FORSTER, aaO, S. 39; NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht,
3. Aufl., Zürich 1997, Rz. 712a, 714a).

    aa) Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer am 10.  Februar 1999
auf einem amtlichen Formular, welches dem Haftverlängerungsantrag der
Bezirksanwaltschaft vom gleichen Datum angefügt wurde, «auf eine Anhörung
durch den Haftrichter» ausdrücklich verzichtet. Dem Haftverlängerungsantrag
vom 10. Februar 1999 (08.15 Uhr) konnte entnommen werden, dass der
Beschwerdeführer durch Rechtsanwalt Dr. Valentin Landmann amtlich
verteidigt war. Gleichentags wurde der Haftverlängerungsantrag dem
Haftrichter und dem Verteidiger überbracht. Unmittelbar danach, ebenfalls
noch am 10. Februar 1999, erging der angefochtene haftrichterliche
Entscheid. Eine Vernehmlassung des Beschwerdeführers oder seines
Verteidigers zum Haftverlängerungsantrag wurde nicht eingeholt. Ebenso
wenig wurden der Beschwerdeführer oder sein Verteidiger angefragt,
ob der Verzicht auf «eine Anhörung durch den Haftrichter» als Verzicht
auf jegliche Stellungnahme zum Haftverlängerungsantrag (im Sinne von §
61 Abs. 1 Satz 1 StPO/ZH) zu verstehen sei. Am 11. Februar 1999 (14.09
Uhr) reichte der Verteidiger per Fax seine schriftliche Stellungnahme zum
Haftverlängerungsantrag ein. Gleichentags wurde der (am Vortag erlassene)
angefochtene Entscheid an den Verteidiger versendet. Dieser erhielt den
angefochtenen Entscheid am 12. Februar 1999.

    bb) Gemäss den vorliegenden Akten erging der angefochtene
haftrichterliche Entscheid vor dem Eintreffen der schriftlichen
Vernehmlassung des Inhaftierten vom 11. Februar 1999. Die damit
übereinstimmende Darstellung des Beschwerdeführers wird von den kantonalen
Behörden nicht bestritten. Es fragt sich, ob deren Vorgehen mit dem
Anspruch des Inhaftierten auf rechtliches Gehör vereinbar ist.

    d) Gerade weil es sich beim Haftrichter im einstufigen zürcherischen
System um die einzige richterliche Haftprüfungsinstanz handelt, darf an
die Gewährung des rechtlichen Gehörs kein tiefer Massstab angelegt werden
(Bundesgerichtsurteil vom 7. Oktober 1992 i.S. R. B., E. 3b = EuGRZ 1992 S.
554 ff.; vgl. FORSTER, aaO, S. 40). Zu berücksichtigen ist auch, dass es
bei Untersuchungshaft um einen schwerwiegenden Eingriff in die persönliche
Freiheit geht. Die fragliche Erklärung des Beschwerdeführers vom 10.
Februar 1999 («ich verzichte ausdrücklich auf eine Anhörung durch den
Haftrichter») kann jedenfalls nicht als klarer und unmissverständlicher
Verzicht auf jegliche (insbesondere auch schriftliche) Stellungnahme
des anwaltlich vertretenen Inhaftierten zum Haftverlängerungsantrag des
Untersuchungsbeamten interpretiert werden. Im angefochtenen Entscheid
wird denn auch ausdrücklich ausgeführt, der Beschwerdeführer habe in der
Erklärung vom 10. Februar 1999 - lediglich - «auf die mündliche Anhörung
durch den Haftrichter» verzichtet. Im Übrigen wurde die Erklärung vom 10.
Februar 1999 auf einem vorgedruckten Formular der Bezirksanwaltschaft
abgegeben, und die sprachliche Formulierung («eine Anhörung durch den
Haftrichter») wurde von den kantonalen Behörden gewählt. Ausserdem
war ihnen bekannt, dass die Rechte des Beschwerdeführers durch einen
Verteidiger gewahrt wurden. Falls der Haftrichter die Erklärung als
Verzicht auf jegliche Stellungnahme zum Haftverlängerungsantrag (im Sinne
von § 61 Abs. 1 Satz 1 StPO/ZH) interpretieren wollte, hätte er daher
zumindest den Beschwerdeführer bzw. dessen Verteidiger anfragen müssen, ob
tatsächlich ein Verzicht in diesem Sinne vorliege. Dies um so mehr, als §
61 Abs. 1 Satz 1 StPO/ZH ausdrücklich bestimmt, dass der Haftrichter «dem
Angeschuldigten und seinem Verteidiger Gelegenheit» gebe, «sich zu den
Vorbringen der Untersuchungsbehörde zu äussern». Statt dessen hat der
Haftrichter ohne weitere Abklärungen über den Haftverlängerungsantrag
entschieden. Ein solches Vorgehen verletzt das rechtliche Gehör des
Inhaftierten. Erschwerend kommt im vorliegenden Fall hinzu, dass der
Untersuchungsbeamte die Fortsetzung der Untersuchungshaft in seinem Antrag
vom 10. Februar 1999 mit neuen Argumenten begründete. Nachdem in seinem
Antrag vom 15. November 1998 die Haftanordnung noch (ausschliesslich)
auf den besonderen Haftgrund der Kollusionsgefahr gestützt worden war,
machte er im Haftverlängerungsantrag vom 10. Februar 1999 neu zusätzlich
Fortsetzungsgefahr geltend. Die vom Angeschuldigten dagegen erhobenen
Einwendungen hat der Haftrichter vor Erlass seines Entscheides nicht zur
Kenntnis genommen. Aber selbst wenn vom Untersuchungsbeamten keine neuen
Haftgründe vorgebracht worden wären, hätte der Angeschuldigte nach der
dargelegten Bundesgerichtspraxis einen formellen Anspruch auf Stellungnahme
gehabt (vgl. oben, E. 2a).

Erwägung 3

    3.- Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Seine
Verletzung führt zwar - ungeachtet der Frage der materiellrechtlichen
Begründetheit der Beschwerde - zur Gutheissung der Beschwerde und zur
Aufhebung des angefochtenen Entscheides, nicht aber zur Haftentlassung
des Beschwerdeführers. Vielmehr haben die kantonalen Behörden diesem
das rechtliche Gehör zu gewähren und unverzüglich neu über den
Haftverlängerungsantrag der Bezirksanwaltschaft zu entscheiden. Dem
Antrag auf Entlassung aus der Untersuchungshaft kann nach dem Gesagten
nicht stattgegeben werden.

    Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben
(Art. 156 Abs. 2 OG). Der Kanton Zürich hat dem anwaltlich vertretenen
Beschwerdeführer jedoch eine angemessene Parteientschädigung zu entrichten
(Art. 159 OG).