Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 IV 9



125 IV 9

3. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 1. Dezember 1998 i.S. X.
gegen Staatsanwaltschaft für das Oberwallis (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 117 StGB und Art. 237 Ziff. 2 StGB; Verkehrssicherungspflicht
der Bergbahn- oder Skiliftunternehmen.

    Der Verantwortliche eines Bergbahn- oder Skiliftunternehmens ist
verpflichtet, ein ausreichendes Sicherheitsdispositiv aufzustellen,
welches verhindert, dass sich auf den Pisten Lawinenunfälle ereignen.

    Aufzählung einiger Elemente, die zu einem solchen Dispositiv gehören.

Sachverhalt

    A.- a) Die Rothornbahn AG betreibt in Zermatt die Luftseilbahn von
Blauherd aufs Unterrothorn und zudem weitere Skilifte und Sesselbahnen in
diesem Gebiet. Unter anderem unterhält sie die Rotweng- und Kummenpiste,
welche beide vom Unterrothorn aus wegführen. Im Bereich «Col» verzweigen
sich diese Pisten, indem die Kummenpiste nach Nordwesten unter der
Westflanke des Oberrothorns vorbeiführt, während die Rotwengpiste nach
rechts abzweigt und unter der Südwestflanke des Oberrothorns entlang führt.

    Am Montag, 18. April 1994, ca. 14.30 Uhr, fuhr der Skilehrer A. mit
sechs Gästen auf der zu diesem Zeitpunkt geöffneten Piste in Richtung
Blauherd. Bei der Verzweigung im Bereich «Col» befuhr er eine Traverse,
um in die Rotwengpiste zu gelangen.

    In diesem Moment löste sich eine Lawine an der Südwestflanke des
Oberrothorns und verschüttete die Traverse. A. setzte zu einer Schussfahrt
an und entging der Gefahr. Der hinter ihm fahrende B. wurde erfasst und
ungefähr 100 m mitgerissen, ohne verletzt zu werden. Der an dritter Stelle
fahrende C. sah die Lawine rechtzeitig und fuhr aus dem Gefahrenbereich.
D., E. und F., die an der vierten, fünften und sechsten Stelle fuhren,
wurden erfasst und mitgerissen. Der zuhinterst fahrende G. war schon vor
der Unfallstelle aus anderen Gründen gestürzt.

    D. verstarb am folgenden Tag an den erlittenen schweren Verletzungen.

    b) Nach den ersten Ermittlungen eröffnete das Untersuchungsrichteramt
Oberwallis am 17. Juli 1995 gegen X. und Y. eine Strafuntersuchung.

    X. ist Direktor der Rothornbahn AG und als solcher verantwortlich für
den Pistendienst. Ab dem 16. April 1994 und somit auch zum Zeitpunkt des
Unfalls am 18. April 1994 war er wegen eines Spitalaufenthaltes abwesend.

    Y. ist Pistenchef und hatte am Morgen des Unfalltags seine Arbeit
wieder aufgenommen, nachdem er vorher eine Woche abwesend gewesen war.

    B.- Das Bezirksgericht I von Visp verurteilte X. und Y. am

    3. September 1997 wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Störung
des öffentlichen Verkehrs zu Bussen von Fr. 1'000.-- bzw. Fr. 800.--.

    Am 6. Mai 1998 wies das Kreisgericht Oberwallis für den Bezirk Visp
eine Berufung des X. ab. Eine Berufung des Y. hiess das Gericht gut und
sprach ihn frei.

    C.- X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt,
das Urteil des Kreisgerichts Oberwallis aufzuheben.

    Das Bundesgericht hat diese abgewiesen, soweit es darauf eintrat.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz ist davon
auszugehen, dass im März 1994 schönes und warmes Wetter herrschte. Anfangs
April schlug die frühlingshafte Witterung in stark spätwinterliche
Verhältnisse um. Es wurde kalt, und vom 14. auf den 15. April waren
bedeutende Niederschläge zu verzeichnen, die auf die Altschneedecke fielen.
Die Lawine löste sich, als die neuen Schneeschichten auf der harten,
anfangs April wieder gefrorenen Altschneedecke abglitten. Dabei spielte
eine erneute Erwärmung in den drei dem Unfall vorangegangenen Tagen
eine Rolle. Diese wurde eventuell noch durch eine diffuse Strahlung,
die infolge Streuung an der das Oberrothorn umgebenden Wolkenschicht
entstanden war, verstärkt.

    Nach Auffassung der Vorinstanz ist es offensichtlich, dass die
rechtzeitige Sperrung der Piste oder die künstliche Auslösung der Lawine
den eingetretenen Erfolg vermieden hätte.

    b) In Bezug auf die persönliche Verantwortung stellte die Vorinstanz
fest, dass der Beschwerdeführer bei der Rothornbahn als deren Direktor
betreffend Öffnung oder Schliessung einer Piste das letzte Wort hat,
wobei darüber in einem Team, bestehend aus ihm, dem Pistenchef und
allenfalls noch einem dritten erfahrenen Mitarbeiter, entschieden wird. In
Abwesenheit des Beschwerdeführers wird ebenfalls in einem Team entschieden,
dem der Pistenchef, der Rettungschef und allenfalls ein weiterer erfahrener
Mitarbeiter angehören.

    Am 16. und 17. April waren nun aber weder der Beschwerdeführer noch
der Pistenchef anwesend, und für den Fall der Abwesenheit dieser beiden
Personen war überhaupt nichts in Bezug auf die Zuständigkeit für die
Pistensicherung geregelt. Insbesondere war für die beiden Abwesenden kein
Stellvertreter bestimmt. Statt dessen vertraute der Beschwerdeführer auf
die Eigeninitiative seiner Untergebenen.

    Die Vorinstanz warf dem Beschwerdeführer vor, er habe es unterlassen,
eine klare und straffe Organisation aufzuziehen.

    c) Den Verantwortlichen der Bahn war die Gefahr von Lawinenniedergängen
im fraglichen Gebiet bekannt. Der Beschwerdeführer wusste, dass in der
Südwestflanke des Oberrothorns verschiedentlich künstlich Lawinen ausgelöst
worden waren, die die zu diesen Zeitpunkten jeweils geschlossene Traverse
zur Rotwengpiste verschüttet hatten. Nachdem vom 14. auf den 15. April
grössere Neuschneemengen gefallen waren, begab er sich denn auch mit zwei
Mitarbeitern ins Skigebiet Unterrothorn, und es wurden Handsprengungen
vorgenommen und Lawinen ausgelöst.

    Entgegen dem üblichen Vorgehen wurde allerdings die auf die Kummen-
und Rotwengpiste hinunterführende West- und Südwestflanke des Oberrothorns
nicht gesprengt, da dies für gewöhnlich aus einem Helikopter heraus
geschieht und am 15. April kein Flugwetter herrschte.

    Die Vorinstanz kam zum Schluss, unter den gegebenen Umständen hätte
für die Verantwortlichen eine Sperrung der gefährdeten Piste auf der
Hand gelegen.

    d) Da diese Sperrung unterblieben ist, hat der Beschwerdeführer seine
Mitarbeiter nach Auffassung der Vorinstanz «in eine falsche Sicherheit
gewiegt». Zudem stellte er trotz der unsicheren Wetterlage nicht sicher,
dass die täglich anfallenden Informationen für die Beurteilung der
Lawinengefahr aufgezeichnet und weitergeleitet wurden. Dasselbe unterliess
er in Bezug auf die getroffenen Massnahmen. Der Pistenchef, der seine
Arbeit am Morgen des 18. April nach einer einwöchigen Abwesenheit wieder
aufnahm, erhielt denn auch von seinen Mitarbeitern nur unvollständige
Auskünfte (z.B. über die Orte, an denen Sprengungen vorgenommen oder solche
unterlassen worden waren), und es fehlten ihm deshalb wichtige Indizien,
die für die Beurteilung der Lawinensituation von Bedeutung gewesen wären.

    Die Vorinstanz kam zum Schluss, dem Pistenchef könne nicht vorgeworfen
werden, die Piste am Unglückstag geöffnet zu haben, weil er an den
Vortagen abwesend war und aufgrund der mangelhaften Organisation keine
eigentliche Übergabe der Verantwortung mit detaillierten Informationen
über die Situation und die Vorkommnisse an den Vortagen erfolgte.

    e) Gesamthaft gesehen warf die Vorinstanz dem Beschwerdeführer vor,
aufgrund der Umstände hätte er die Kummen- und Rotwengpiste an den Tagen
vor dem Unfall nicht öffnen dürfen. Hätte er zudem eine klare und straffe
Organisation aufgezogen und die Weitergabe der anfallenden Informationen
sichergestellt, hätte der Pistenchef am 18. April 1994 mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit die Pisten nicht geöffnet. Aufgrund der
mangelnden Organisation und fehlenden Verantwortlichkeitsregelung sei es
schliesslich zum Lawinenunfall gekommen.

Erwägung 2

    2.- Die Verurteilung des Beschwerdeführers verletzt kein Bundesrecht.

    a) Eine Unternehmung wie die Rothornbahn AG ist verpflichtet, für die
Sicherheit der hier in Frage stehenden Piste zu sorgen. Sie hat deshalb
alle Sicherheitsvorkehren zu treffen, die einen Unfall wie den vorliegenden
verhindern. Dazu gehört insbesondere die Pflicht, ein ausreichendes
Sicherheitsdispositiv aufzustellen (vgl. BGE 122 IV 103 E. VI S. 126;
121 IV 10 und 109 E. 3; MARTIN SCHUBARTH, Sicherheitsdispositiv und
strafrechtliche Verantwortlichkeit im Eisenbahnverkehr, SJZ 1996, S. 37
ff.; THOMAS KOLLER, Das Von-Roll-Urteil und die Organisationshaftung -
Rezeption einer genuin zivilistischen Betrachtungsweise im Strafrecht? SJZ
1996, S. 409 ff.; HANS SCHULTZ, Die strafrechtliche Rechtsprechung des
Bundesgerichts im Jahre 1996, ZBJV 1997, S. 403 ff.; HEINZ HAUSHEER, Die
privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts in den Jahren 1995 und
1996, Haftpflicht- und Privatversicherungsrecht, ZBJV 1997, S. 438 ff.).

    Zu einem ausreichenden Sicherheitsdispositiv gehört die Bestimmung der
Person, die für die Sicherheit der Piste zuständig und verantwortlich ist.
Eine solche Person ist insbesondere auch für den Fall zu bezeichnen, dass
die primär Verantwortlichen (z.B. der Direktor und sein Stellvertreter)
abwesend sind. Es ist mangelhaft, sich darauf zu verlassen, dass in einem
solchen Fall andere erfahrene Mitarbeiter von sich aus die Verantwortung
übernehmen und das Notwendige vorkehren.

    Damit die verantwortliche Person die genannten Fragen prüfen und
Entscheidungen treffen kann, muss sie über die notwendigen Informationen
verfügen. Zu einem ausreichenden Sicherheitsdispositiv gehört, dass diese
Informationen laufend aufgezeichnet, gesammelt, soweit nötig ausgewertet
und weitergegeben werden. Es ist unhaltbar, wenn ein für die Sicherheit
Verantwortlicher nach einer mehrtägigen Abwesenheit nicht über alle zur
Einschätzung der Gefahrensituation notwendigen Umstände informiert wird.

    Selbstverständlich muss schliesslich klar geregelt sein, dass Skipisten
nur geöffnet werden dürfen, wenn ihre Sicherheit hinreichend abgeklärt
werden kann und auch abgeklärt worden ist. Im Zweifelsfall muss eine
lawinengefährdete Piste geschlossen bleiben.

    Die Vorinstanz kam zu Recht zum Schluss, der Beschwerdeführer
habe unterlassen, durch die Ausarbeitung eines hinreichenden
Sicherheitsdispositivs sicherzustellen, dass am Unglückstag die richtigen
Massnahmen zur Verhinderung des Unfalls getroffen wurden.

    b) Was der Beschwerdeführer vorbringt, dringt nicht durch. Entgegen
seiner Ansicht besteht zwischen dem mangelhaften Sicherheitsdispositiv und
dem eingetretenen Unglück ein Kausalzusammenhang. Nach der Feststellung der
Vorinstanz hätte der Pistenchef am 18. April die Piste nicht geöffnet,
wenn ihm die während seiner Abwesenheit angefallenen Informationen
mitgeteilt worden wären. Durch ein genügendes Sicherheitsdispositiv mit
organisierter Weitergabe aller relevanten Informationen wäre der Unfall
also vermieden worden.

    Eine lückenlose Verantwortlichkeitsregelung und eine umfassende
Sammlung und Weitergabe von relevanten Informationen sind auch generell
geeignet, dass lawinengefährdete Pisten gesperrt und Unfälle verhindert
werden. Dies entspricht der allgemeinen Erfahrung und steht ausser Zweifel.