Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 IV 30



125 IV 30

6. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 13. Januar 1999 i.S. R.
gegen Bundesamt für Polizeiwesen Regeste

    Art. 47 Abs. 3 IRSG, Art. 62 Abs. 2 IRSG. Auslieferungshaftbefehl.
Sicherstellung von Gegenständen und Vermögenswerten.

    Erlässt das Bundesamt für Polizeiwesen, dem dabei ein weites Ermessen
zusteht, zulässigerweise nur eine Sicherstellungsverfügung, obwohl sich
unter den sicherzustellenden Gegenständen auch solche befinden, die
voraussichtlich nicht auszuliefern sind, aber zur Kostendeckung verwendet
werden sollen, hat auch diese ihre Grundlage allein in Art. 47 Abs. 3
IRSG, weshalb dagegen ausschliesslich die Beschwerde an die Anklagekammer
gegeben ist (E. 1).

    Die Sicherstellung gemäss Art. 47 Abs. 3 IRSG kann ausnahmsweise in
Ergänzung eines zuvor erlassenen Auslieferungshaftbefehls auch noch verfügt
werden, wenn der Beschuldigte bereits ausgeliefert worden ist (E. 2).

Sachverhalt

    Mit Telex vom 22. Juni 1998 ersuchte Interpol Wiesbaden/D gestützt auf
einen Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 15. Mai 1998 um Festnahme
des deutschen Staatsangehörigen R. zum Zwecke der Auslieferung. Nachdem
dieser am 7. September 1998 in San Nazzaro/TI festgenommen worden war,
erliess das Bundesamt für Polizeiwesen am 10. September 1998 gegen R. einen
Auslieferungshaftbefehl.

    Der Vertreter des Beschuldigten ersuchte am 3./4. November 1998
die Staatsanwaltschaft des Kantons Tessin, ihm die Schlüssel für die
Wohnung des Beschuldigten in Locarno auszuhändigen, damit er für diesen
dort verschiedene persönliche Gegenstände sowie Vermögenswerte an sich
nehmen könne.

    Nachdem das Bundesamt für Polizeiwesen Interpol Wiesbaden über
dieses Vorhaben informiert hatte, ersuchte diese am 10. November
1998 um Sicherstellung aller als Beweismittel dienenden Unterlagen und
Schriftstücke des Beschuldigten. Gleichzeitig wurde ein formelles Ersuchen
um Herausgabe der zu beschlagnahmenden Gegenstände in Aussicht gestellt.

    Mit Verfügung vom 11. November 1998 ersuchte das Bundesamt für
Polizeiwesen die Staatsanwaltschaft des Kantons Tessin, in der Wohnung
des Beschuldigten sämtliche als Beweismittel im ausländischen Verfahren in
Frage kommenden Unterlagen und Schriftstücke sicherzustellen. Gleichzeitig
wurde die Sicherstellung sämtlicher Vermögenswerte in der Wohnung
bzw. einem Schliessfach des Beschuldigten bis zu einem Betrag von
Fr. 10'000.-- verfügt.

    Mit Beschwerde vom 27. November 1998 beantragt R. der Anklagekammer
des Bundesgerichts, die Verfügung vom 11. November 1998 aufzuheben und
die sichergestellten Gegenstände und Vermögenswerte herauszugeben.

    Das Bundesamt für Polizeiwesen beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

    Mit Entscheid vom 1. Dezember 1998 bewilligte das Bundesamt für
Polizeiwesen die Auslieferung von R. an Deutschland.

    Am 10. Dezember 1998 wurde er an Deutschland ausgeliefert.

    Das Bundesgericht hat die Beschwerde teilweise gutgeheissen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Die Sicherstellung nach Art. 47 Abs. 3 des Bundesgesetzes
über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG; SR 351.1) ist eine
vorläufige prozessuale Massnahme zur Beweissicherung bzw. zur Sicherung
des durch die strafbare Handlung erzielten unrechtmässigen Gewinnes; sie
muss sich daher auf jene Gegenstände und Vermögenswerte beschränken, die
als Beweismittel dienen können oder aus der strafbaren Handlung herrühren
(BGE 121 IV 41 E. 4b). Nach Art. 62 Abs. 2 IRSG kann persönliches Eigentum
des Verfolgten zur Deckung der Kosten des Auslieferungsverfahrens verwendet
werden, soweit es nicht auszuliefern ist.

    b) Daraus folgt, dass eine Sicherstellung nicht unzulässig ist,
wenn sich unter den sicherzustellenden Gegenständen solche befinden,
die voraussichtlich nicht auszuliefern sind, aber zur Kostendeckung
Verwendung finden können. Das Bundesamt für Polizeiwesen kann dabei,
muss aber nicht, zwei separate Sicherstellungsverfügungen unter Angabe,
welche Gegenstände unter welchem Titel sicherzustellen sind, erlassen. Bei
der Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten ist ihm ein, aus der Natur
der Sache gerechtfertigter, weiter Spielraum des Ermessens zuzugestehen,
kann doch im Einzelfall im Voraus unter Umständen nur schwer gesagt werden,
was unter welchem Titel sichergestellt werden kann, zumal auch mit einer
Ergänzung des Auslieferungsgesuches gerechnet werden muss.

    Erlässt das Bundesamt für Polizeiwesen im dargelegten Sinne
in haltbarer Weise nur eine Sicherstellungsverfügung, obwohl sich
unter den sicherzustellenden Gegenständen auch solche befinden,
die voraussichtlich nicht auszuliefern sind, hat diese ihre Grundlage
allein in Art. 47 Abs. 3 IRSG, weshalb dagegen auch ausschliesslich die
Beschwerde an die Anklagekammer nach Art. 48 Abs. 2 IRSG gegeben ist. Eine
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach Art. 25 IRSG an das Bundesgericht (vgl.
dazu unveröffentlichte Urteile der Anklagekammer vom 20. September 1996
und der

    I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 12. Februar 1997 i.S. H. gegen
Bundesamt für Polizeiwesen) fällt lediglich in Betracht, wenn eine
Sicherstellung von Gegenständen von vornherein nur zum Zwecke der
Kostendeckung erfolgt; aus der Zulässigkeit der Verwendung des Eigentums
des Verfolgten zu diesem Zwecke nach Art. 62

    Abs. 2 IRSG ergibt sich auch eine gesetzliche Grundlage für deren
vorsorgliche Sicherstellung (vgl. die analoge Praxis zu Art. 58 StGB und
10 SBG: BGE 124 IV 313, E 3), und damit der Beschwerdeweg nach Art. 25
IRSG und nicht nach Art. 48 Abs. 2 IRSG.

    c) Wie die Liste der sichergestellten Gegenstände zeigt, befinden sich
darunter als Vermögenswerte lediglich ein Bargeldbetrag von Fr. 2'500.--,
ein Aktienzertifikat über 34 Aktien à Fr. 1'000.-- sowie eine Einzelaktie
im Nominalwert von Fr. 1'000.-- der Realstate AG. Diese sichergestellten
Aktien könnten indessen nach Auffassung des Beschwerdegegners sehr wohl
auch als Beweismittel im ausländischen Strafverfahren dienen. Es ist somit
davon auszugehen, dass voraussichtlich ausser dem Bargeld alle gemäss
Sicherstellungsprotokoll sichergestellten Gegenstände als Beweismittel in
Frage kommen. Deshalb liegt nach dem Gesagten eine Sicherstellungsverfügung
nach Art. 47 Abs. 3 IRSG vor, gegen die die Beschwerde an die Anklagekammer
des Bundesgerichts gegeben ist.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 47 Abs. 3 IRSG verfügt das Bundesamt für Polizeiwesen
allenfalls gleichzeitig mit dem Erlass des Auslieferungsbefehls, welche
Gegenstände und Vermögenswerte sichergestellt bleiben oder sicherzustellen
sind.

    Dem Beschwerdeführer ist darin beizupflichten, dass diese
Sicherstellung grundsätzlich gleichzeitig mit dem Erlass des
Auslieferungsbefehls erfolgt. Im vorliegenden Fall wurde der
Auslieferungshaftbefehl am 10. September 1998 erlassen; die angefochtene
Sicherstellung von Gegenständen als Beweismittel wurde indessen erst am
11. November 1998 verfügt.

    Wenn das Bundesamt für Polizeiwesen erst im weiteren Verlauf des
Verfahrens Kenntnis davon erhält, dass sich irgendwo noch als Beweismittel
im ausländischen Strafverfahren in Frage kommende Gegenstände befinden
könnten, ist es jedoch zulässig, die Sicherstellung auch nach dem Erlass
des Auslieferungshaftbefehls in Ergänzung desselben zu verfügen; dies kann
auch noch geschehen, wenn der Beschuldige bereits ausgeliefert worden ist
(unveröffentlichter Entscheid der Anklagekammer vom 5. März 1997 i.S. K.
und A. gegen Bundesamt für Polizeiwesen, E. 6a; vgl. auch BGE 121 IV 41 E.
4b sowie Art. 22 IRSV [SR 351.11]).

    Das Bundesamt für Polizeiwesen hat offensichtlich erst durch die
Anfrage des Vertreters des Beschwerdeführers vom 3./4. November 1998
davon Kenntnis erhalten, dass der Beschwerdeführer, welcher bei seiner
Befragung als vorübergehenden Aufenthaltsort Fürstenaubruck/GR angab, auch
in Locarno über eine Wohnung verfügt. Es ist daher nicht zu beanstanden,
dass der Beschwerdegegner erst zu diesem Zeitpunkt und nachdem die
deutschen Behörden darum ersucht haben, die Sicherstellung der als
Beweismittel in Frage kommenden Gegenstände verfügte.