Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 IV 199



125 IV 199

31. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 2. November 1999 i.S. P.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 189 StGB, Art. 190 StGB und Art. 200 StGB; sexuelle Nötigung
und Vergewaltigung, gemeinsame Begehung.

    Der Strafschärfungsgrund der gemeinsamen Begehung ist nicht nur
anwendbar auf Fälle der Gruppenvergewaltigung (unmittelbare Anwesenheit
aller Täter), sondern auch auf Fälle der Kettenvergewaltigung, jedenfalls
dann, wenn die anderen Beteiligten in der gleichen Wohnung "abrufbereit"
anwesend sind (E. 2).

    Art. 63 StGB; Strafzumessung.

    In einem extremen Fall sexuellen Missbrauchs verletzt die Verurteilung
des Haupttäters zu sechzehn Jahren Zuchthaus kein Bundesrecht (E. 4).

    Art. 47 OR; Genugtuung.

    Eine Genugtuungssumme in Höhe von Fr. 75'000.--, zugesprochen in einem
Fall gewaltsamer Freiheitsberaubung und Entführung sowie anschliessender
stundenlanger grausamer Kettenvergewaltigung, verletzt kein Bundesrecht
(E. 6).

Sachverhalt

    Das Kantonsgericht St. Gallen verurteilte P. am 5. März 1998 wegen
Freiheitsberaubung und Entführung, gemeinsamer grausamer Vergewaltigung
und sexueller Nötigung sowie Widerhandlung gegen die Verordnung über den
Erwerb und das Tragen von Schusswaffen durch jugoslawische Angehörige zu
sechzehn Jahren Zuchthaus; gleichzeitig verwies es ihn für die Dauer von
fünfzehn Jahren des Landes.

    Das Kassationsgericht des Kantons St. Gallen wies am 16. Dezember
1998 eine kantonale Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten ab, soweit
es darauf eintrat.

    P. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt
sinngemäss, das Urteil des Kantonsgerichts sei aufzuheben und die Sache
zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf  eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Die Vorinstanz verurteilte den Beschwerdeführer nicht nur
wegen grausamer Tatbegehung (Art. 189 Abs. 3, Art. 190 Abs. 3 StGB),
sondern erhöhte die Strafe überdies in Anwendung von Art. 200 StGB wegen
gemeinsamer Tatbegehung. Die Täter hätten das Opfer in der Night-Bar
gemeinsam eingeschüchtert und in Todesangst versetzt. Gemeinsam hätten
sie es in die Wohnung eines Bekannten verschleppt und genötigt, dort zu
verbleiben. Unter dem Druck dieses gemeinschaftlich ausgeübten Zwanges habe
das Opfer auf jeden Widerstand verzichtet. Im Ergebnis sei demnach auch die
Nötigung zu den sexuellen Handlungen gemeinsam ausgeführt, mithin gemeinsam
der Widerstand des Opfers gebrochen und es gefügig gemacht worden. Während
den einzelnen Übergriffen hätten sich die übrigen Angeklagten in der
gleichen kleinen Wohnung, und zwar im Wohnzimmer nebenan befunden. Dass das
Schlafzimmer und das Wohnzimmer durch eine Mauer getrennt gewesen seien,
ändere unter diesen Umständen nichts daran, dass während der sexuellen
Übergriffe fortwährend der Eindruck kollektiver Bedrohung bestanden habe.
Zudem hätten die übrigen Angeklagten im Wohnzimmer gleichsam abrufbereit
gewartet, bis sie sich am Opfer vergehen konnten. Damit aber wögen die
Angriffe der Angeklagten auf die sexuelle Integrität des Opfers schwerer
als die Tat eines Einzelnen.

    Der Beschwerdeführer macht unter Hinweis auf die herrschende Lehre
geltend, die Qualifikation des Art. 200 StGB setze die Anwesenheit
des Täters bei der Tat voraus. Diese Voraussetzung sei hier nicht
erfüllt. Die Vornahme der sexuellen Handlungen sei je einzeln erfolgt. Als
der Beschwerdeführer mit dem Opfer sexuell verkehrte, habe er sich mit
diesem allein in einem Zimmer befunden.

    b) Wird eine strafbare Handlung gegen die sexuelle Integrität
(Art. 187 ff. StGB) gemeinsam von mehreren Personen ausgeführt, so
kann der Richter die Strafe erhöhen, darf jedoch das höchste Mass der
angedrohten Strafe nicht um mehr als die Hälfte überschreiten. Dabei ist
er an das gesetzliche Höchstmass der Strafart gebunden (Art. 200 StGB).

    Wie der Beschwerdeführer zu Recht geltend macht, wird in der Lehre
für die Anwendung des Art. 200 StGB zusätzlich gefordert, dass die
Mittäter - auch wenn sie sich an der sexuellen Handlung als solcher
nicht beteiligen - bei der Tat selbst anwesend sein müssen (STRATENWERTH,
Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 5. Auflage, S. 163 N. 18;
JENNY, Kommentar zum schweizerischen Strafgesetzbuch, Art. 200 N. 3;
TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Auflage,
Art. 200 N. 2). In der Folge ist zu prüfen, ob diese Einschränkung im
Sinne des Gesetzes ist und ob bejahendenfalls die Anwesenheit der Mittäter
im Wohnzimmer, als der Beschwerdeführer das Opfer im Nebenzimmer sexuell
missbrauchte, den Tatbestand der gemeinsamen Begehung erfüllt.

    Der Tatbestand der gemeinsamen Begehung (Art. 200 StGB) ist dem
Tatbestandsmerkmal der Bandenmässigkeit nachempfunden, wobei jedoch
der Wille inskünftiger Verübung von Delikten nicht gegeben sein muss
(Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des
Militärstrafgesetzes vom 26. Juni 1985, BBl 1985 II 1095 f.). Das Auftreten
als Bande wird besonders pönalisiert, weil der Zusammenschluss die Täter
psychisch und physisch stärkt und eine Umkehr gegenseitig erschwert,
was sie besonders gefährlich macht (BGE 78 IV 227 E. 2; TRECHSEL, aaO,
Art. 139 N. 16). Art. 200 StGB wurde vor allem im Hinblick auf gemeinsame
Vergewaltigungen geschaffen (Botschaft, aaO, 1095) und ist zugeschnitten
auf Fälle sogenannter Gruppen- oder Kettenvergewaltigungen, die aufgrund
ihrer besonderen Belastung für das Opfer und der erhöhten Gefährlichkeit
des Angriffs besonders gravierend sein können (Peter Hangartner,
Selbstbestimmung im Sexualbereich - Art. 188 bis 193 StGB, Diss. St. Gallen
1997, S. 178 mit Hinweisen). Eine Gruppenvergewaltigung ist gegeben,
wenn mehrere Täter das Opfer gleichzeitig sexuell missbrauchen; in dieser
Konstellation sind alle Täter unmittelbar anwesend. Anders verhält es
sich bei einer Kettenvergewaltigung: Hier ist es denkbar, dass jeweils
nur ein Täter beim erzwungenen Geschlechtsverkehr unmittelbar anwesend
ist und sich die anderen Täter nicht notwendig im gleichen Zimmer befinden
wie das Opfer. Aber auch eine Kettenvergewaltigung stellt eine besondere
Belastung für das Opfer dar, und die Absprache der Täter untereinander
führt auch zu einer erhöhten Gefährlichkeit des Angriffs. In solchen
Fällen ist deshalb Art. 200 StGB ebenfalls anzuwenden, jedenfalls dann,
wenn, wie im vorliegenden Fall, die anderen Beteiligten in der gleichen
Wohnung quasi "abrufbereit" anwesend sind.

    c) Nach den verbindlichen Feststellungen versetzten die vier Täter
das Opfer bereits bei der Entführung insbesondere auch durch massive
psychische Drohungen in Todesangst. Sie verschleppten die Frau in eine
kleine Wohnung und missbrauchten sie dort sexuell der Reihe nach und zum
Teil mehrmals. Während sich die Täter in einem Zimmer mit Matratze einzeln
an der Frau sexuell vergingen, schauten die anderen Täter "abrufbereit"
im angrenzenden Wohnzimmer fern. Zwischen den sexuellen Übergriffen
musste sich die Frau im Badezimmer waschen und als sie z.B. einmal von
dort ins Wohnzimmer zurückkam und bat, sie doch nach Hause zu fahren, da
sie Kinder im Kindergarten habe, setzte ihr einer der vier mit den Worten
"was willst du?" ein Messer an den Hals.

    Die Vorinstanz verweist zu Recht darauf, dass das Opfer unter dem
Druck des gemeinschaftlich ausgeübten Zwanges auf jeden weiteren Widerstand
verzichtete, und dass der Umstand der räumlichen Abtrennung zwischen dem
Wohnzimmer und dem Zimmer, wo die sexuellen Misshandlungen stattfanden,
an der fortwährenden kollektiven Bedrohung nichts änderten und dass das
gleichsam abrufbereite Warten der anderen Täter im Wohnzimmer, um sich am
Opfer zu vergehen, für es zusätzlich erniedrigend gewesen sei. Wenn die
Vorinstanz unter diesen Umständen Art. 200 StGB zur Anwendung brachte,
hat sie kein Bundesrecht verletzt (vgl. E. 2b). Zutreffend hat sie eine
enge Auslegung des Begriffs der Anwesenheit der Mittäter verworfen und
dabei vielmehr beurteilt, welche Wirkung von der Präsenz der Mittäter in
der Wohnung ausging. Damit erweist sich die Beschwerde in diesem Punkt
als unbegründet.

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 63 StGB.

    Nachdem der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde kein Erfolg beschieden
war und die Vorinstanz zu Recht den Strafgrund der gemeinsamen Begehung
bejahte, sind die meisten Einwände des Beschwerdeführers unbeachtlich. Dass
er einer Bande angehörte, die als illegale Schleuser und Schlepper tätig
war und zudem bei jugoslawischen Gastwirten in Berlin Geld erpresste, hat
die Vorinstanz verbindlich festgestellt; dass er deswegen nicht verurteilt
wurde, hat sie ausdrücklich erwähnt und damit berücksichtigt. Folglich ist
aber auch die Unschuldsvermutung nicht verletzt. In diesem Zusammenhang ist
vielmehr entscheidend, dass der Beschwerdeführer bereits wegen schwerer
räuberischer Erpressung, gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlicher
Körperverletzung zu 4 1/2 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war.

    Der Beschwerdeführer macht geltend, die ausgefällte Freiheitsstrafe
von sechzehn Jahren erscheine für die vorliegenden Delikte geradezu
als drakonisch. Die Vorinstanz bewege sich hier im Rahmen des
Strafmasses für eher schwere Tötungsdelikte. Indessen sei als
Massstab doch grundsätzlich die Praxis bei anderen Sexualdelikten
heranzuziehen. Inwiefern die Vorinstanz bei der Strafzumessung von nicht
wesentlichen Beurteilungsmerkmalen ausgegangen wäre oder sie falsch
gewichtet hätte, zeigt der Beschwerdeführer nicht auf. Die ausgesprochene
Strafe ist zwar für Sexualdelikte sehr hoch, doch handelt es sich auch
um ein ausserordentlich schweres Sexualdelikt, verbunden mit zusätzlich
mehreren erschwerenden Elementen. So führt die Vorinstanz unter anderem
aus, "abgesehen davon, dass (der Beschwerdeführer) dem Opfer keine
schweren Körperverletzungen zufügte, lässt sich ein qualvollerer und
demütigenderer sexueller Missbrauch kaum vorstellen." Angesichts der
wesentlichen Beurteilungsmerkmale liegt die ausgesprochene Strafe im Rahmen
des vorinstanzlichen Ermessens. Im Übrigen ist der Beschwerdeführer darauf
hinzuweisen, dass das Opfer eine Vergewaltigung gleichsam als psychischen
Tod erlebt. So hält die Vorinstanz gestützt auf einen Arztbericht vom
Februar 1998 fest, dass das Opfer trotz intensiver Psychotherapie und
Betreuung durch die Familienberatungsstelle nur sehr langsam Fortschritte
erziele, nach wie vor an Krisen mit plötzlich auftretenden Ängsten bis
hin zu Panikattacken und auch Suizidalität leide.

    Der Hinweis des Beschwerdeführers auf ein Urteil des Obergerichts
Zürich geht fehl. In jenem Fall lagen offenbar weder stundenlange
Kettenvergewaltigung vor, noch Drohung mit einer Waffe, noch grausame
sexuelle Nötigung usw., weshalb der erwähnte Fall mit demjenigen des
Beschwerdeführers nicht vergleichbar ist.

    Insgesamt hat die Vorinstanz somit bei der Strafzumessung kein
Bundesrecht verletzt.

Erwägung 6

    6.- Schliesslich beanstandet der Beschwerdeführer die Zusprechung einer
Genugtuungssumme von Fr. 75'000.-- an das Opfer als eine Verletzung von
Bundesrecht (Art. 47 OR); dabei verweist er auf den Ausgang des kantonalen
Kassationsverfahrens und die Ausführungen zum Verschulden bei der
Strafzumessung. Zudem sei die zugesprochene Genugtuungssumme "exorbitant"
hoch, und es gehe nicht an, die (bestrittenen) "Begangenschaften eher
bei den Tötungsdelikten einzuordnen."

    Die Vorinstanz berücksichtigte bei der Bemessung der Genugtuung, dass
das Verschulden der vier Haupttäter äusserst schwer wiege, was sich auch
in den langen Freiheitsstrafen ausdrücke. Das Opfer sei gegen seinen Willen
in eine ihm unbekannte Wohnung entführt worden, wo es den Tätern schutzlos
ausgeliefert gewesen sei. Es sei während Stunden festgehalten, mehrfach
vergewaltigt und sexuell genötigt, (insbesondere auch vom Beschwerdeführer)
schwer gedemütigt und immer wieder mit dem Tode bedroht worden. Die
verbrecherischen Taten hätten nicht nur verheerende Auswirkungen auf seine
berufliche Tätigkeit, welche es nicht mehr auszuüben vermöge, sondern auch
auf die Freizeit und das Familienleben, insbesondere die Partnerbeziehung.
Die Gutachten sprächen ebenfalls eine deutliche Sprache: Das Opfer leide
an posttraumatischen Belastungsstörungen. Dabei handle es sich um eine
verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation
aussergewöhnlicher Bedrohung, die bei fast jedem eine tiefe Verstörung
hervorrufen würde. Es könne sich nicht mehr konzentrieren, sei nur noch
vermindert leistungsfähig, spalte seine Emotionalität ab, habe ständige
Panikattacken und massivste Berührungsängste und verfalle immer wieder
in Depressionen. Zum bisherigen Therapieverlauf werde festgehalten, dass
Fortschritte nur sehr langsam erzielt würden. Das Opfer leide nach wie vor
an Krisen mit plötzlich auftretenden Ängsten und Suizidalität. Aufgrund
der bis zum Ereignis vorhandenen gesunden Persönlichkeitsstruktur und auch
der grundsätzlich positiven Lebenseinstellung räume der Therapeut dem Opfer
mittelfristig eine günstige Chance ein, sich mit ärztlicher Behandlung und
Psychotherapie von den traumatisierenden Erlebnissen befreien zu können.

    Wenn die Vorinstanz erwägt, dass der Anspruch auf eine hohe Genugtuung
kaum in Frage gestellt würde, wenn das Opfer körperlich statt seelisch
in diesem Ausmass "verstümmelt" worden wäre, einen Vergleich mit
Genugtuungssummen zieht, die bei schweren Körperverletzungen oder
Tötungsdelikten zugesprochen werden, und im vorliegenden Fall eine
Genugtuung in der Höhe von Fr. 75'000.- als angemessen erachtet, so
verletzt sie kein Bundesrecht.