Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 II 585



125 II 585

59. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 2. November
1999 i.S. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement gegen A.
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 17 Abs. 2 ANAG, Art. 8 EMRK; Verweigerung des Nachzugs des
jüngsten Sohnes aus der ersten Ehe einer Ausländerin.

    Die Nachzugsregelung von Art. 17 Abs. 2 dritter Satz ANAG ist auf den
Fall zugeschnitten, dass die eheliche Beziehung der gemeinsamen Eltern
intakt ist. Bei einem nachträglichen Nachzug von Kindern getrennt
lebender bzw. geschiedener ausländischer Eltern kann es daher zum
Vornherein nur um eine analoge Anwendung dieser Bestimmung gehen.

    Es widerspricht daher dem Gesetzeszweck nicht, wenn für den Nachzug
solcher Kinder deren Beziehung zu Drittpersonen mitberücksichtigt wird
(E. 2c).

Sachverhalt

    Die brasilianische Staatsangehörige A. wurde 1990 in Brasilien
von ihrem Ehemann geschieden. Die vier aus der Ehe hervorgegangenen
Kinder wurden unter ihre Obhut gestellt. Im Jahre 1992 heiratete sie den
Schweizer Bürger B. und erhielt im Rahmen des Familiennachzugs zunächst
eine Aufenthaltsbewilligung. Nach einem fünfjährigen Aufenthalt in der
Schweiz erhielt sie die Niederlassungsbewilligung, und rund ein Jahr
später wurde ihr das Schweizer Bürgerrecht verliehen.

    Am 1. November 1996 stellte A. ein Familiennachzugsgesuch für ihren
jüngsten Sohn F., das von der Fremdenpolizei des Kantons Aargau mit
Verfügung vom 24. November 1997, bestätigt durch Einspracheentscheid vom
9. Februar 1998, abgelehnt wurde. Eine dagegen eingereichte Beschwerde
wurde vom Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau mit Urteil vom
9. April 1999 gutgeheissen, der Entscheid der Fremdenpolizei vom 9. Februar
1998 aufgehoben und das Familiennachzugsgesuch betreffend F. bewilligt;
die Fremdenpolizei wurde angewiesen, den Aufenthalt von F. zu regeln.

    Gegen dieses Urteil hat das Eidgenössische Justiz- und
Polizeidepartement Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht
erhoben mit dem Antrag, es sei aufzuheben und die Verfügung der kantonalen
Fremdenpolizei, mit welcher das Familiennachzugsgesuch für F. abgewiesen
wurde, sei zu bestätigen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Zweck des Familiennachzugs gemäss Art. 17 Abs. 2 dritter Satz
des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung
der Ausländer (ANAG; SR 142.20) ist es, das familiäre Zusammenleben zu
ermöglichen. Sind die Eltern voneinander getrennt oder geschieden und hält
sich der eine Elternteil in der Schweiz, der andere aber im Ausland auf,
kann es nicht um eine Zusammenführung der Gesamtfamilie gehen. In solchen
Fällen entspricht es dem Gesetzeszweck nicht, einen bedingungslosen
Anspruch auf Nachzug der Kinder anzunehmen. Ein Nachzugsrecht setzt
vielmehr voraus, dass das Kind zu dem in der Schweiz lebenden Elternteil
die vorrangige familiäre Beziehung unterhält. Dabei kommt es nicht nur
auf die bisherigen Verhältnisse an, sondern es können auch nachträglich
eingetretene oder gar künftige Umstände wesentlich werden. Namentlich
kann nicht entscheidend sein, in welchem Land das Kind bisher seinen
Lebensmittelpunkt hatte, bliebe doch sonst ein Nachzugsrecht praktisch
immer wirkungslos. Zu berücksichtigen ist aber, bei welchem Elternteil das
Kind bisher gelebt hat bzw. wem die elterliche Gewalt zukommt; wenn sich
das Kindesinteresse in der Zwischenzeit geändert hat, so ist für eine
Anpassung der familienrechtlichen Verhältnisse in der Regel zunächst
der privatrechtliche Weg zu beschreiten. Vorbehalten bleiben Fälle,
in denen klare Anhaltspunkte für neue familiäre Abhängigkeiten oder
für eine wesentliche Verlagerung der Beziehungsintensitäten bestehen,
wie etwa beim Hinschied desjenigen Elternteils, der das Kind bisher
betreut hat (BGE 124 II 361 E. 3a S. 366; 118 Ib 153 E. 2b S. 159). Im
Übrigen wird das gesetzgeberische Ziel von Art. 17 Abs. 2 ANAG, das
familiäre Zusammenleben zu ermöglichen und rechtlich abzusichern, nicht
erreicht, wenn der in der Schweiz niedergelassene Ausländer jahrelang
von seinem Kind getrennt lebt und dieses erst kurz vor dem Erreichen
des 18. Alters-jahrs in die Schweiz holt. Eine Ausnahme kann nur gelten,
wenn die Familiengemeinschaft in der Schweiz aus guten Gründen erst nach
Jahren hergestellt wird; solche Gründe müssen sich aus den Umständen des
Einzelfalls ergeben (BGE 119 Ib 81 E. 3a S. 88; 115 Ib 97 E. 3a S. 101).

    b) Die Vorinstanz hat diese Grundsätze an sich nicht verkannt. Sie
ist jedoch der Auffassung, es komme beim Familiennachzug nach Art. 17
Abs. 2 dritter Satz ANAG nicht darauf an, welcher Fürsorge das Kind noch
bedürfe und ob die konkret erforderliche Fürsorge nicht besser weiterhin
von einem sonstigen Verwandten, zu dem ein enges Verhältnis bestehe,
erbracht werden könne. Der Familienbegriff von Art. 17 ANAG sei nicht
identisch mit jenem von Art. 8 EMRK (SR 0.101). Art. 17 Abs. 2 dritter
Satz ANAG statuiere einen Anspruch für ledige Kinder unter 18 Jahren auf
Einbezug in die Niederlassungsbewilligung ihrer Eltern. Lebten die Eltern
zusammen, sei nicht zu prüfen, ob das nachzuziehende Kind allenfalls
zu einer im Ausland lebenden Drittperson eine vorrangige (familiäre)
Beziehung unterhalte. Das Recht auf Nachzug eines Kindes stehe auch
einem einzelnen Elternteil zu, wenn die Eltern getrennt lebten oder
geschieden seien und die Zusammenführung der (Rest-) Familie bezweckt
werde. Dies gelte jedoch nicht vorbehaltlos, sondern nur dann, wenn die
Beurteilung der Eltern-Kind-Beziehung eine vorrangige familiäre Beziehung
zum nachzugsberechtigten Elternteil ergebe. Eine andere Auslegung von
Art. 17 Abs. 2 dritter Satz ANAG, insbesondere die Berücksichtigung einer
vorrangigen (familiären) Beziehung zu einer Drittperson, widerspreche
dem Zweck der rechtlichen Absicherung des Zusammenlebens der Gesamt-
bzw. Teilfamilie. Die Berücksichtigung weiterer Bezugspersonen bei der
Beurteilung der vorrangigen familiären Beziehung würde auch zu einer
ungerechtfertigten Diskriminierung alleinerziehender Eltern und ihrer
Kinder führen. Es sei nicht einsichtig, weshalb Kindern, die nur noch über
einen sorgeberechtigten Elternteil verfügen, der Familiennachzug mit dem
Argument verweigert werden könnte, sie hätten zu einer Drittperson eine
vorrangige (familiäre) Beziehung, wogegen bei Kindern in sogenannt intakten
Familien diese Frage überhaupt nicht aufgeworfen werde. Einer derartigen
Argumentation zu folgen, hiesse, den Ein-Eltern-Familien die Anerkennung
zu verweigern. Weiter stehe einer solchen Argumentation entgegen, dass
die Beziehung von Kindern zu Drittpersonen - insbesondere im Hinblick auf
die Beurteilung unter dem Gesichtspunkt von Art. 17 ANAG - gar nicht als
familiäre Beziehung bezeichnet werden könne, da diese Bestimmung lediglich
die Kernfamilie (Eltern und ihre Kinder) schütze. Bei der Ergründung der
vorrangigen familiären Beziehung seien demzufolge Beziehungen der Kinder zu
Drittpersonen unbeachtlich. Einzig wenn kein Anspruch auf Familiennachzug
gestützt auf Art. 17 Abs. 2 ANAG bestehe, sei eine weitergehende Prüfung
gestützt auf Art. 8 EMRK angezeigt. Im Gegensatz zu Art. 17 Abs. 2
ANAG beschränke sich der Schutzbereich von Art. 8 EMRK nicht auf die
Kernfamilie, sondern erstrecke sich auf die Beziehung zwischen allen
nahen Verwandten, die in der Familie eine wesentliche Rolle spielen
könnten. Beim Nachzug eines Kindes sei im Hinblick auf den erweiterten
Familienbegriff dementsprechend nicht nur eine vorrangige (familiäre)
Beziehung zum nachzugsberechtigten Elternteil im Vergleich zum andern
Elternteil, sondern auch im Vergleich zu Drittpersonen erforderlich.

    c) Eine solche Unterscheidung hat das Bundesgericht in seiner Praxis
indessen nie gemacht. Es hat im Gegenteil bei einem nachträglichen
Familiennachzug einer Teilfamilie unter dem Gesichtspunkt von Art. 17
Abs. 2 ANAG immer die Beziehungen der Kinder zu weiteren Betreuungspersonen
ebenfalls in Betracht gezogen. So hat es in BGE 124 II 361 E. 3a S. 366
ausgeführt, auch wenn Art. 17 Abs. 2 dritter Satz ANAG sowie Art. 8
EMRK unter anderem die familiäre Beziehung getrennt lebender Eltern
zu ihren Kindern schützten, räumten diese Bestimmungen grundsätzlich
nicht demjenigen Elternteil ein Recht auf Nachzug eines Kindes ein, der
freiwillig ins Ausland verreist sei und ein weniger enges Verhältnis zum
Kind habe als der andere Elternteil "oder sonstige Verwandte, die für das
Kind sorgen", wenn er seine bisherigen Beziehungen zum Kind weiterhin
pflegen könne. Im Urteil vom 23. Februar 1999 i.S. Rexhepallari hat es
dementsprechend massgebend darauf abgestellt, dass die nachzuziehenden
Kinder seit vielen Jahren (im Ausland) bei den Grosseltern gelebt und
von diesen erzogen worden waren. Auch im Urteil vom 30. September 1998
i.S. Karagöz war entscheidend, dass die Grossmutter die vorrangige
Beziehungsperson der Kinder gewesen war. In dem ebenfalls den Kanton
Aargau betreffenden Urteil vom 26. Juli 1999 i.S. EJPD c. Krasniqi
wurde der Nachzug eines Teils der Kinder nur deswegen bewilligt, weil
die Grossmutter, welche die im Kosovo zurückgelassenen Kinder seit
Jahren betreut hatte, inzwischen verstorben war und insofern neue
Betreuungsbedürfnisse entstanden waren. Das Bundesgericht hat aber
ausdrücklich darauf hingewiesen, es genüge nicht, dass im Verhältnis
zwischen den Kindern und ihren Eltern eine vorrangige Beziehung der
Kinder zum in der Schweiz wohnenden Vater bestehe; die Bewilligung des
nachträglichen Familiennachzugs setze zusätzlich voraus, dass er sich
als zu deren Pflege notwendig erweisen müsse; dies sei insbesondere dann
nicht der Fall, wenn im Heimatland alternative Betreuungsmöglichkeiten zur
Verfügung stünden, die dem Kindeswohl besser entsprächen, beispielsweise
weil dadurch vermieden werden könne, die Kinder aus ihrer bisherigen
Umgebung und dem ihnen vertrauten Beziehungsumfeld herauszureissen (E. 4c
des zitierten Urteils).

    Es besteht kein Anlass, von dieser Praxis abzuweichen. Mit ihrer
gegenteiligen Auffassung verkennt die Vorinstanz (wie auch MARC SPESCHA,
Handbuch zum Ausländerrecht, Bern/Stuttgart/Wien 1999, S. 172 ff.,
S. 174) letztlich namentlich, worauf das Bundesgericht schon in BGE
118 Ib 153 E. 2b S. 159 hingewiesen hat, nämlich dass Wortlaut und
Sinn von Art. 17 Abs. 2 dritter Satz ANAG auf den Nachzug gemeinsamer
Kinder zugeschnitten sind und damit den Nachzug von Kindern getrennter
bzw. geschiedener Eltern direkt gar nicht erfassen. Es kann daher in
solchen Fällen zum Vornherein nur um eine analoge Anwendung gehen, weshalb
auch nicht gesagt werden kann, die Berücksichtigung der Beziehungen der
Kinder zu Drittpersonen widerspreche dem Gesetz. Zwar will Art. 17 Abs. 2
ANAG das familiäre Zusammenleben innerhalb der Kernfamilie (bestehend aus
Eltern und gemeinsamen Kindern) gewährleisten; dies hat indessen nichts
mit der Frage zu tun, welche Voraussetzungen für den Familiennachzug
erforderlich sind, wenn diese Familie nicht mehr besteht. Insofern kommt
es auf den der Bestimmung zugrunde liegenden Familienbegriff nicht an. In
der Berücksichtigung der Beziehungen zu weiteren Betreuungspersonen
liegt schliesslich auch keine Diskriminierung der Kinder getrennter
bzw. geschiedener Eltern, denn solche Kinder befinden sich zum Vornherein
nicht in der gleichen Lage wie die Kinder verheirateter Eltern, die nach
der Vorstellung des Gesetzgebers regelmässig zusammen mit dem vorerst in
der Heimat zurückgebliebenen Elternteil nachgezogen werden (vgl. Art. 38
f. der Verordnung über die Begrenzung der Zahl der Ausländer vom 6. Oktober
1986, BVO, SR 823.21), weshalb sich bei ihnen die Frage der Beziehungen
zu Drittpersonen im Normalfall gar nicht stellt.

    d) Im vorliegenden Fall heiratete die Beschwerdegegnerin, deren Ehe
im Jahre 1990 geschieden worden war, am 21. Februar 1992 den Schweizer
Bürger B. und erhielt in der Folge die Aufenthaltsbewilligung. Die vier
Kinder, die bei der Scheidung unter ihre Obhut gestellt worden waren,
liess sie in ihrer brasilianischen Heimat zurück, wo sie offenbar von den
Grosseltern betreut wurden. Ein Familiennachzugsgesuch stellte sie erst
am 1. November 1996, und nur für den Sohn F., der damals als einziges der
Kinder das 18. Alters- jahr noch nicht überschritten hatte, obwohl sie
gestützt auf Art. 8 EMRK von Anfang an einen Anspruch auf Familiennachzug
hätte geltend machen können. Hierzu wäre sie wirtschaftlich, jedenfalls
nachdem ihr Ehemann im Jahre 1994 ein Einfamilienhaus erworben hatte,
auch in der Lage gewesen. Plausible Gründe für den nachträglichen
Familiennachzug bringt die Beschwerdegegnerin nicht vor. Insbesondere
behauptet sie nicht, dass sich die Betreuungsverhältnisse in Brasilien,
wo sich die Geschwister des Sohnes und dessen Vater weiterhin aufhalten,
inzwischen geändert hätten. Unter diesen Umständen verstiess die kantonale
Fremdenpolizei nicht gegen Bundesrecht, wenn sie das Familiennachzugsgesuch
abwies. Sie durfte dabei auch berücksichtigen, dass es nicht dem Sinn
und Zweck des Instituts des Familiennachzugs entspricht, wenn ein Kind
erst nach Absolvierung der Schulpflicht nachgezogen wird, um ihm in
der Schweiz eine bessere berufliche Ausbildung zu ermöglichen und das
wirtschaftliche Fortkommen zu sichern. Ein eigentlicher Rechtsmissbrauch
ist dabei entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht erforderlich.

    e) Aus Art. 8 EMRK lassen sich in einem Fall wie dem vorliegenden keine
weitergehenden Ansprüche ableiten. Im Übrigen hatte das nachzuziehende Kind
schon im Zeitpunkt der Ausfällung des angefochtenen Entscheids das 18.
Altersjahr überschritten, weshalb sich die Beschwerdegegnerin ohnehin
nicht auf diese Bestimmung berufen kann (vgl. BGE 120 Ib 257 E. 1e und
f S. 261-263).

    f) Zusammenfassend ist deshalb festzustellen, dass der angefochtene
Entscheid der Vorinstanz, gemäss welchem der Familiennachzug von
F. bewilligt wurde, Bundesrecht verletzt.