Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 II 315



125 II 315

30. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 1. Juni 1999 i.S. N. gegen Anwaltskommission des Kantons Thurgau
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Zulassung zur Rechtspraktikantentätigkeit einer in einem anderen Kanton
über eine entsprechende Bewilligung verfügenden Person; Kostenfreiheit
des Zulassungsentscheids (Art. 4 Binnenmarktgesetz, BGBM).

    Wer in einem Kanton die Rechtspraktikantenbewilligung hat, verfügt
nicht über einen Fähigkeitsausweis im Sinne von Art. 4 Abs. 2 BGBM. Damit
besteht kein Anspruch darauf, dass ein weiterer Kanton über die Zulassung
als Rechtspraktikant in einem kostenlosen Verfahren entscheidet.

Sachverhalt

    Die Anwaltskammer des Kantons St. Gallen erteilte lic.iur. N. am 23.
März 1998 die Rechtspraktikantenbewilligung für das Gebiet des Kantons St.
Gallen; sie erhob dafür eine Gebühr von Fr. 100.--. In der Folge wurde N.
auch die Rechtspraktikantenbewilligung für den Kanton Appenzell A.Rh.
erteilt, wobei das Obergericht des Kantons Appenzell A.Rh. keine Gebühr
erhob. Am 14. November 1998 reichte N. sodann beim Obergericht des
Kantons Thurgau ein Gesuch um Erteilung der Rechtspraktikantenbewilligung
ein. Die Anwaltskommission des Kantons Thurgau entsprach dem Gesuch am
7. Dezember 1998 und erteilte N. gestützt auf die Vereinbarung zwischen
dem Kantonsgericht St. Gallen und dem Obergericht des Kantons Thurgau vom
Dezember 1973 (publiziert in: Rechenschaftsbericht des Obergerichts des
Kantons Thurgau [RBOG/TG] über das Jahr 1973, S. 88) die Bewilligung, unter
der Verantwortung von Rechtsanwalt lic.iur. G., St. Gallen, als Praktikant
vor den thurgauischen Gerichten aufzutreten. Für diese Bewilligung erhob
die Anwaltskommission eine Verfahrensgebühr von Fr. 400.--.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 12. Januar 1999 beantragt N.,
den Entscheid der Anwaltskommission vom 7. Dezember 1998 unter Kosten-
und Entschädigungsfolge aufzuheben. Er rügt eine Verletzung von Art. 2
ÜbBest.BV.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 2
ÜbBest. BV) schliesst in Sachgebieten, welche die Bundesgesetzgebung
abschliessend geregelt hat, eine Rechtsetzung durch die Kantone aus. In
Sachgebieten, die das Bundesrecht nicht abschliessend ordnet, dürfen die
Kantone nur solche Vorschriften erlassen, die nicht gegen den Sinn und
Geist des Bundesrechts verstossen und dessen Zweck nicht beeinträchtigen
oder vereiteln (BGE 125 II 56 E. 2b S. 58; 123 I 313 E. 2b S. 316 f.).

    Der Beschwerdeführer anerkennt, dass § 8 des thurgauischen
Anwaltsgesetzes vom 8. Mai 1996 (AnwG) eine genügende gesetzliche Grundlage
für die Gebührenerhebung darstellt. Er behauptet sodann nicht, dass die
Anwaltskommission bei der Festsetzung der Gebühr gegen die in § 8 AnwG
erwähnte Verordnung des Grossen Rates des Kantons Thurgau vom 13. Mai
1992 über die Gebühren der Strafuntersuchungs- und Gerichtsbehörden
(Gebührenverordnung) verstossen habe. Der Beschwerdeführer macht jedoch
geltend, dass Art. 4 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 1995 über
den Binnenmarkt (Binnenmarktgesetz, BGBM; SR 943.02) der Erhebung einer
Gebühr entgegenstehe; der angefochtene - auf willkürfreier Auslegung des
kantonalen Rechts beruhende - Entscheid verletze daher Art. 2 ÜbBest.BV.
Wie es sich damit verhält, prüft das Bundesgericht frei (vgl. BGE 123 I
313 E. 2b S. 317 mit Hinweisen).

    b) Gemäss Art. 4 Abs. 1 BGBM gelten kantonale oder kantonal anerkannte
Fähigkeitsausweise zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit auf dem gesamten
Gebiet der Schweiz, sofern sie nicht Beschränkungen (des freien Zugangs zum
Markt) nach Art. 3 BGBM unterliegen. Art. 4 Abs. 2 BGBM bestimmt, dass bei
Beschränkungen nach Art. 3 BGBM die betroffene Person Anspruch darauf hat,
dass in einem einfachen, raschen und kostenlosen Verfahren geprüft wird,
ob ihr aufgrund ihres Fähigkeitsausweises der freie Zugang zum Markt
zu gewähren ist oder nicht. Soweit die Kantone in einer interkantonalen
Vereinbarung die gegenseitige Anerkennung von Fähigkeitsausweisen vorsehen,
gehen deren Vorschriften dem Binnenmarktgesetz vor (Art. 4 Abs. 4 BGBM).

    aa) Der Beschwerdeführer macht geltend, dass die ihm vom Kanton
St. Gallen erteilte Rechtspraktikantenbewilligung einen Fähigkeitsausweis
im Sinne von Art. 4 BGBM darstelle. Er begründet dies wie folgt: Die
Zulassung als Rechtspraktikant im Kanton St. Gallen sei von qualifizierten
Voraussetzungen abhängig; nach dem vom Kantonsgericht des Kantons St.
Gallen am 22. April 1994 erlassenen Prüfungs- und Bewilligungsreglement
für Rechtsanwälte unterliege der Praktikant bis auf die Anwaltsprüfungen
den gleichen Zulassungsbedingungen wie der Rechtsanwalt (Ausbildung,
Überprüfung der Vertrauenswürdigkeit); in der praktischen Berufsausübung
bestehe zwischen der Tätigkeit des Rechtsanwaltes und derjenigen des
Rechtspraktikanten weitgehende Deckungsgleichheit, der hauptsächliche
Unterschied bestehe einzig darin, dass der Rechtspraktikant nur unter der
Aufsicht und der Verantwortung eines zugelassenen Rechtsanwaltes tätig
sein dürfe; gegen aussen handle der Rechtspraktikant anwaltlich.

    bb) Nach seinem Wortlaut regelt Art. 4 Abs. 2 BGBM den Tatbestand, da
jemand gestützt auf einen in einem ersten Kanton (Domizilkanton) erworbenen
«Fähigkeitsausweis» in einem weiteren Kanton (Freizügigkeitskanton)
zum Markt zugelassen werden und darüber in einem kostenlosen Verfahren
entschieden haben will. Als Fähigkeitsausweis wird gemeinhin ein Ausweis
bezeichnet, welcher dem Inhaber definitiv attestiert, über die Fähigkeit
zur Ausübung einer bestimmten (Erwerbs-)tätigkeit zu verfügen. Aus der
bundesrätlichen Botschaft vom 23. November 1994 zum Binnenmarktgesetz (BBl
1995 I 1213 ff.) ergibt sich klar, dass mit Fähigkeitsausweis im Sinne
von Art. 4 BGBM ein solcher eigentlicher Ausweis, ein Fähigkeitszeugnis,
gemeint ist (S. 1266 f.).

    Die Rechtspraktikantenbewilligung ist dem Fähigkeitsausweis als
Rechtsanwalt in keiner Weise gleichzusetzen. Sie wird gerade erteilt,
um dem Praktikanten zu ermöglichen, die Ausbildung als Rechtsanwalt
abzuschliessen und überhaupt erst zur Prüfung zugelassen zu werden,
nach deren (allfälligem) Bestehen er den Fähigkeitsausweis (das
Rechtsanwaltspatent) erwirbt. Der Praktikant darf denn auch nicht
selbständig, sondern nur - und für eine befristete Zeit - unter der
Verantwortung eines patentierten Rechtsanwalts, bei dem er angestellt
ist, die einem Anwalt vorbehaltene Tätigkeit ausüben, wie dies im Falle
des Beschwerdeführers denn auch in der ursprünglichen Bewilligung vom
23. März 1998 für den Kanton St. Gallen sowie in den gestützt darauf
erteilten Freizügigkeits-Bewilligungen der Kantone Appenzell A.Rh. und
Thurgau ausdrücklich festgehalten ist. Die Praktikantenbewilligung
steht in ähnlichem Verhältnis zum Anwaltspatent wie der Lernfahrausweis
zum Führerausweis; wer den Lernfahrausweis erwirbt, ist nicht befähigt,
selbständig ein Motorfahrzeug zu führen, und hat eben nicht Anspruch auf
den entsprechenden Fähigkeitsausweis.

    Nur wenn der Domizilkanton durch Ausstellen eines Fähigkeitszeugnisses
abschliessend dokumentiert, dass eine Person zur Ausübung einer bestimmten
Tätigkeit in der Lage ist, muss Gleichwertigkeit der Zulassungsbedingungen
in Domizil- und Freizügigkeitskanton vermutet werden (vgl. BGE 125
II 56 E. 4b S. 61 f.). Allein diese Vermutung rechtfertigt es, den
Freizügigkeitskanton dazu zu verpflichten, gemäss Art. 4 Abs. 2 BGBM
in einem einfachen, raschen und kostenlosen Verfahren über den freien
Zugang zum Markt, eben über die Gleichwertigkeit der Fähigkeitsausweise
zu befinden. Fehlt ein Fähigkeitsausweis im beschriebenen Sinn, stellt
sich die Frage der Gleichwertigkeit nicht, und Art. 4 Abs. 2 BGBM kommt
nicht zur Anwendung.

    Dass die Rechtspraktikantenbewilligung nicht einem Fähigkeitsausweis
gleichgestellt werden darf, ergibt sich eigentlich schon aus der
Zielsetzung des Binnenmarktgesetzes. Dieses will gewährleisten, dass
Personen für die Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit auf dem gesamten Gebiet
der Schweiz freien und gleichberechtigten Zugang zum Markt haben (Art. 1
Abs. 1 BGBM). Ziel der vom Kanton St. Gallen erteilten Bewilligung
ist es nicht, dem Beschwerdeführer den freien Zugang zum Markt als
Anbieter von Dienstleistungen/Arbeitsleistungen zu gewähren (vgl. Art. 2
Abs. 1 BGBM) und in dem Sinn eine Erwerbstätigkeit zu bewilligen. Wohl
übt der Rechtspraktikant insofern auch eine Erwerbstätigkeit aus,
als er vom Anwalt, unter dessen Aufsicht er arbeitet, einen Lohn
bezieht. Der Erwerbszweck hat jedoch keine eigenständige Bedeutung und
tritt hinter dem eigentlichen Zweck der Praktikantenbewilligung zurück,
dem Anwaltsstagiaire zu ermöglichen, sich praktisch auf die - spätere -
Berufsausübung vorzubereiten.

    c) Nach dem Gesagten regelt Art. 4 BGBM die Anerkennung der von einem
Kanton erteilten Rechtspraktikantenbewilligung durch andere Kantone bzw.
das entsprechende Verfahren und die Frage der Verfahrensgebühren nicht.
Unerheblich ist, dass die Kantone St. Gallen und Thurgau im Dezember 1973
eine Vereinbarung betreffend gegenseitige Zulassung von Rechtspraktikanten
getroffen haben. Gemäss Art. 4 Abs. 4 BGBM gehen zwar die Vorschriften
von interkantonalen Vereinbarungen über die gegenseitige Anerkennung von
Fähigkeitsausweisen den Vorschriften des Binnenmarktgesetzes vor. Die
Rechtspraktikantenbewilligungen werden durch die fragliche Vereinbarung
aber nicht zu Fähigkeitsausweisen im Sinne des Binnenmarktgesetzes
gemacht; die Vereinbarung selber erklärt sodann in Ziff. 1 Abs. 2 die
Gerichte ausdrücklich für «befugt, für die Prüfung des Gesuchs und die
Zulassung eine Gebühr zu erheben» (RBOG/TG 1973 S. 88); sie räumt damit
den Rechtspraktikanten gerade hinsichtlich der Gebühren keine über das
Binnenmarktgesetz hinausgehenden Garantien ein.

    Dass nebst Art. 4 BGBM weitere Bestimmungen des Binnenmarktgesetzes der
angefochtenen Gebührenerhebung entgegenstünden, macht der Beschwerdeführer
nicht geltend.

    Die Gebührenregelung des Kantons Thurgau bzw. die gestützt darauf
erhobene Gebühr von Fr. 400.-- verstösst somit nicht gegen den Sinn und
Geist des Binnenmarktgesetzes und beeinträchtigt oder vereitelt den von
diesem verfolgten Zweck nicht. Art. 2 ÜbBest. BV ist nicht verletzt.