Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 III 322



125 III 322

55. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 14. Juli 1999 i.S. A.
AG gegen Bank X. (Berufung) Regeste

    Bürgschaft auf Zeit; fristgerechte Belangung des Bürgen (Art. 510
Abs. 3 OR).

    Art. 510 Abs. 3 OR erfasst bei der einfachen Bürgschaft
nur die verbürgte Hauptforderung, nicht auch die subsidiäre
Bürgschaftsforderung. Das Gebot, die Hauptforderung fristgerecht
geltend zu machen und beschleunigt zu verfolgen, gilt nicht für die
Bürgschaftsforderung (E. 3a/b). Eine anderslautende Vereinbarung der
Parteien vorbehalten, genügt es grundsätzlich, wenn der Gläubiger dem
Bürgen binnen vier Wochen nach beendetem Vorgehen gegen den Hauptschuldner
anzeigt, die Bürgschaft zu beanspruchen. Einer fristgebundenen
Klageanhebung bedarf es nicht (E. 3c/d).

Sachverhalt

    Am 20. Juli 1992 verpflichtete sich die Bank X. mit einfacher,
bis zum 1. August 1994 befristeter Bürgschaft gegenüber der Klägerin,
bis zu einem Höchstbetrag von Fr. 463'000.- für die Verpflichtungen
der neu zu gründenden Y. Immobilien GmbH aus deren Mietvertrag über
Geschäftsräumlichkeiten in Luzern zu haften. Am 7. Januar 1994 wurde
in der Wechselbetreibung der Klägerin gegen die Hauptschuldnerin der
Zahlungsbefehl aus- und am 1. Februar 1994 zugestellt. Am 24. Februar 1994
ersuchte die Hauptschuldnerin um Nachlassstundung. Am 25. Februar 1994
stellte die Klägerin gegen die Hauptschuldnerin das Konkursbegehren. Am 1.
März 1994 wurde das Konkurseröffnungsverfahren bis zum Entscheid über
die Nachlassstundung sistiert.

    Am 11. Juli 1994 wies die Klägerin den Bürgen darauf hin, dass sie ihn
zufolge Zahlungsunfähigkeit der Hauptschuldnerin in Anspruch nehme. Am
20. Juli 1994 erklärte der Bürge sich ausserstande, die Ansprüche der
Klägerin zu befriedigen, weil über die Hauptschuldnerin der Konkurs
nicht eröffnet sei. Am 28. Juli 1994 bestätigte die Klägerin dem Bürgen,
ihn in Anspruch zu nehmen, und liess ihn am 13. August 1994 vor den
Friedensrichter laden. Der Sühneversuch fand am 25. August 1994 statt
und verlief fruchtlos. Mit Schreiben vom 20. Oktober 1994 verzichtete
der Bürge unter Hinweis auf ein Telefongespräch des Vortags auf eine
erneute Durchführung der Friedensrichterverhandlung. Nachdem am 15. Juli
1994 das Nachlassstundungsgesuch und am 3. November 1994 ein Rekurs der
Hauptschuldnerin abgewiesen worden waren, wurde am 7. Dezember 1994 über
sie der Konkurs eröffnet.

    Mit Klage vom 22. März 1995 belangte die Klägerin den Bürgen auf
Bezahlung von Fr. 463'000.-. Das Amtsgericht Luzern-Stadt wies die Klage
am 13. Oktober 1997 mit der Begründung ab, die Klägerin habe mit der
Einreichung der Klage nach der Konkurseröffnung über die Hauptschuldnerin
zu lange zugewartet, um dem Erfordernis des rechtzeitig eingeschlagenen
und ohne erhebliche Unterbrechung verfolgten Rechtswegs von Art. 510
Abs. 3 OR zu genügen. Gleich entschied mit Urteil vom 15. März 1999 das
Obergericht des Kantons Luzern.

    Das Bundesgericht heisst die eidgenössische Berufung der Klägerin
teilweise gut, hebt das angefochtene Urteil auf und weist die Streitsache
zu neuer Entscheidung an das Obergericht zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die von der Beklagten zu vertretende Bürgschaft bestimmt u.a.:
      «Diese Bürgschaft erlischt am 1. August 1994 endgültig, sofern der

    Gläubiger nicht mit spätestens an diesem Tage beim Schweizerischen

    Bankverein in Luzern eintreffenden Brief oder Telegramm erklärt,
dass er

    ihn aufgrund dieser Bürgschaft in Anspruch nehmen will. Im letzteren
Falle

    hat der Gläubiger ausserdem binnen vier Wochen den Rechtsweg zu
verfolgen.»

    Die Bürgschaft wurde damit im Sinne von Art. 510 Abs. 3 OR befristet,
wovon zu Recht auch die Vorinstanz und die Parteien ausgehen.

Erwägung 2

    2.- Ist die Bürgschaft nur für eine bestimmte Zeit eingegangen, so
erlischt die Verpflichtung des Bürgen, wenn der Gläubiger nicht binnen vier
Wochen nach Ablauf der Frist seine Forderung rechtlich geltend macht und
den Rechtsweg ohne erhebliche Unterbrechung verfolgt (Art. 510 Abs. 3 OR).

    Bei der einfachen Bürgschaft, wie eine hier zur Beurteilung steht,
hat der Gläubiger nach Massgabe dieser Bestimmung vorerst gegen den
Hauptschuldner vorzugehen (zur anderen Rechtslage bei der Solidarbürgschaft
vgl. BGE 54 II 289 E. 4; 56 III 154 sowie Giovanoli, Berner Kommentar,
N. 14 zu Art. 510 OR mit weiteren Hinweisen). Dies ergibt sich ohne
weiteres aus der dem Bürgen zustehenden Einrede der Vorausklage (Art. 495
OR) und ist in Lehre und Rechtsprechung unstreitig (BGE 108 II 199;
Urteil des Bundesgerichts vom 27.7.1988 in SJ 1988 641; GIOVANOLI, aaO,
N. 13a zu Art. 510 OR; OSER/SCHÖNENBERGER, Zürcher Kommentar, N. 20 f. zu
Art. 510 OR, insb. N. 23 e contrario; PESTALOZZI, Basler Kommentar, N. 13
zu Art. 510 OR; BECK, Das neue Bürgschaftsrecht, Zürich 1942, N. 40 zu
Art. 510 OR; GUHL, Das neue Bürgschaftsrecht der Schweiz, Zürich 1942,
S. 125; SCYBOZ, Garantievertrag und Bürgschaft, in SPR VII/2, S. 315 f.,
430; GUHL/MERZ/DRUEY, Das Schweizerische Obligationenrecht, 8. Aufl.,
S. 571; TERCIER, Les contrats spéciaux, 2e éd., S. 643 Rz. 5287; ENGEL,
Contrats de droit suisse, S. 612; HANS HEMMELER, Die Gründe für den
Untergang der Bürgschaft, Diss. Bern 1954, S. 53).

    Die Rechtsprechung unterstellt das Erfordernis der Rechtsverfolgung
ohne erhebliche Unterbrechung nach Art. 510 Abs. 3 OR einem strengen
Massstab. Sie begründet dies mit der Schutzfunktion der Norm zu Gunsten
des Bürgen, dem dadurch die Möglichkeit gegeben sei, die Hauptschuld zur
Liquidation und seine eigene unbefristete Verpflichtung zur Abklärung
und zur Erledigung zu bringen (BGE 64 II 191 E. 4; 108 II 199 E. 3a). Die
überwiegende Lehre teilt diese Auffassung (Nachweise in BGE 108 II 199 E.
3a, zustimmend ebenfalls PESTALOZZI, aaO, N. 14 zu Art. 510 OR; ENGEL,
aaO, S. 612; differenzierter OSER/SCHÖNENBERGER, aaO, N. 21 zu Art. 510
OR). Danach wird an der gesetzlichen Frist von vier Wochen für die Aufnahme
der Rechtsverfolgung für den Regelfall auch das Beschleunigungsgebot
gemessen, welches dem Gläubiger für die Rechtsverfolgung obliegt (BGE 64
II 191 E. 3; 108 II 199 E. 3a).

Erwägung 3

    3.- Die Vorinstanz unterstellt ebenfalls die Rechtsverfolgung des
Gläubigers gegenüber dem - einfachen - Bürgen dem Beschleunigungsgebot
nach Art. 510 Abs. 3 OR, hält es im vorliegenden Fall für missachtet, weil
die Klägerin erst rund drei Monate nach Kenntnis ihres Deckungsausfalls
bei der Hauptschuldnerin Klage gegen den Bürgen eingeleitet habe, und
schliesst daraus auf Befreiung der Beklagten.

    Ein Teil der Lehre vertritt die Auffassung, der Gläubiger habe nach
erfolglosem Vorgehen gegen den Hauptschuldner den Bürgen in gleicher Weise
und ohne erhebliche Unterbrechung zu belangen (OSER/SCHÖNENBERGER, aaO,
N. 22 zu Art. 510 OR, vgl. aber auch N. 24 zu diesem Artikel und unten lit.
b; SCYBOZ, aaO, S. 430), jedenfalls aber beförderlich in Anspruch zu nehmen
(PESTALOZZI, aaO, N. 15 zu Art. 510 OR; BECK, aaO, N. 45 zu Art. 510 OR;
TERCIER, aaO, S. 643 Rz. 5287). Das Bundesgericht hatte sich zu dieser
Frage soweit ersichtlich noch nicht zu äussern.

    Die Auffassung der Vorinstanz weckt Bedenken:

    a) Bei der in Art. 510 Abs. 3 OR genannten Forderung, welche der
Gläubiger fristgerecht geltend zu machen und beschleunigt zu verfolgen
hat, handelt es sich im Falle der einfachen Bürgschaft klarerweise
um die verbürgte Hauptforderung (E. 2 hievor). Die - subsidiäre -
Bürgschaftsforderung wird vom Gesetzestext in diesem Zusammenhang nicht
erfasst.

    b) Rechtfertigt sich die zeitliche Strenge in der Verfolgung der
Hauptforderung aus dem Interesse des Bürgen an einer Klärung von
Grundsatz und Umfang seiner Haftung (BGE 64 II 191 E. 4), aus der
Tendenz zur Erleichterung seiner Befreiung von einer in aller Regel
einseitig eingegangenen Verpflichtung und aus der Schwierigkeit der
Schadensbestimmung bei unterlassener oder verzögerter Geltendmachung der
Hauptforderung (GIOVANOLI, aaO, N. 15 zu Art. 510 OR), lässt sich das
Beschleunigungsgebot teleologisch nicht analog auf die Verfolgung der
Bürgschaftsforderung ausdehnen, weil diese Zielsetzungen nach Bereinigung
der Hauptforderung nicht mehr in Frage stehen, der Bürge des ihm in Art.
510 Abs. 3 OG gewährten Schutzes nicht mehr bedarf (in gleichem Sinne für
die Verfolgung des Solidarbürgen GIOVANOLI, aaO, N. 15 zu Art. 510 OR und
OSER/SCHÖNENBERGER, aaO, N. 24 zu Art. 510 OR). Das Interesse des Bürgen
beschränkt sich nach Sinn und Zweck der Ordnung diesfalls auf eine rasche
Kenntnisgabe seiner Inanspruchnahme, nicht aber auch auf beschleunigte
Rechtsverfolgung, da sich insoweit seine Situation von derjenigen eines
beliebigen Schuldners nicht mehr unterscheidet.

    c) In diese Richtung weist rechtsvergleichend auch § 777 BGB, der in
Abs. 1 bestimmt:
      «Hat sich der Bürge für eine bestehende Verbindlichkeit auf bestimmte

    Zeit

    verbürgt, so wird er nach dem Ablaufe der bestimmten Zeit frei,
wenn nicht

    der Gläubiger die Einziehung der Forderung unverzüglich nach Massgabe
des §

    772 betreibt, das Verfahren ohne wesentliche Verzögerung fortsetzt und

    unverzüglich nach der Beendigung des Verfahrens dem Bürgen anzeigt,
dass er

    ihn in Anspruch nehme...»

    Soweit ersichtlich, fordern Lehre und Rechtsprechung im Falle der
einfachen Bürgschaft (Regelbürgschaft nach deutschem Recht) strikte eine
Anzeige nach Beendigung des Verfahrens gegen den Hauptschuldner, nicht aber
eine fristgebunden darauf folgende Klageerhebung (MünchKomm/HABERSACK,
N. 11 zu § 777 BGB). Aus dem Vertrauensgrundsatz wird allenfalls eine
vorsorgliche Mitteilung an den Bürgen über die Einleitung des Verfahrens
gegen den Hauptschuldner und die mögliche Inanspruchnahme der Bürgschaft
gefordert (STAUDINGER/HORN, N. 13 zu § 777 BGB), die Anzeige vor
Zeitablauf, d.h. vor Beendigung des Verfahrens gegen den Hauptschuldner
aber nur im Falle der Solidarbürgschaft (selbstschuldnerische Bürgschaft
nach deutschem Recht) als fristwahrend anerkannt (MünchKomm/HABERSACK,
N. 12 zu § 777 BGB; STAUDINGER/HORN, N. 15 zu § 777 BGB, je mit Hinweisen
auf die Rechtsprechung).

    d) Aus Sinn und Zweck der gesetzlichen Ordnung muss auch nach
schweizerischem Recht genügen, dass der Gläubiger den einfachen Bürgen
nach Belangung des Hauptschuldners in Anspruch nimmt, d.h. ihm anzeigt,
dass er die Bürgschaft geltend macht. Damit ist die zu vermeidende
Ungewissheit des Bürgen behoben und ihm die Möglichkeit eingeräumt,
sich über seine allfällige Verbindlichkeit Rechenschaft zu geben. Einer
fristgebundenen Klageanhebung bedarf es aus dem Gesetzeszweck nicht.

    Zu prüfen bleibt, wann der Gläubiger dem Bürgen die Inanspruchnahme
rechtswahrend anzuzeigen hat. Eine der deutschen Regelung entsprechende
ausdrückliche Vorschrift kennt das schweizerische Recht nicht. Damit ist
vorab den Parteien anheim gestellt, die Modalitäten der Inanspruchnahme
autonom zu regeln. Haben sie sich darüber nicht verständigt, ist wiederum
aus dem Gesetzeszweck zu fordern, dass der Gläubiger dem Bürgen innert
nützlicher Frist nach beendetem Vorgehen gegen den Hauptschuldner anzeigt,
die Bürgschaft in Anspruch zu nehmen, wobei insoweit die Vierwochenfrist
von Art. 510 Abs. 3 OR durchaus analog herangezogen werden kann. Steht
nach dem Gesagten aber die rechtzeitige Information des Bürgen als
Regelungsziel im Vordergrund, genügt auch eine dem Bürgen bereits vor
beendetem Vorgehen gegen den Hauptschulder angezeigte Inanspruchnahme,
sofern sie hinreichend bestimmt gehalten ist, um jede Unsicherheit über
die Rechtsstellung des Adressaten auszuschliessen.

    e) Die Parteien haben im Bürgschaftsvertrag vereinbart, die Klägerin
habe dem Bürgen spätestens am 1. August 1994 die Inanspruchnahme
schriftlich anzuzeigen. Eine zusätzliche spätere Anzeige haben sie nicht
vereinbart. Bereits aus der vom Bürgen zufolge dessen Formularvertrags
zu vertretenden Unklarheitenregelung folgt daher, dass die Anzeige vor
Fristablauf nach Treu und Glauben als hinreichend zu gelten hat. Nach
den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz aber nahm die Klägerin
die Bürgschaft mit Mitteilung vom 11. Juli 1994 in Anspruch, nach Vertrag
mithin rechtzeitig. Hinzu kommt, dass die Klägerin bereits am 13. August
1994 gerichtliche Schritte gegen den Bürgen einleitete, womit dieser über
seine verbindliche Inanspruchnahme spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht
mehr im Unklaren sein konnte.

    Nach dem Gesagten ging die Klägerin damit im Sinne von Art. 510 OR
rechtzeitig gegen den Bürgen vor und erweist sich die von der Vorinstanz
angenommene Verwirkung der Bürgschaft als bundesrechtswidrig. Dies führt
zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids.