Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 III 312



125 III 312

54. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Mai 1999 i.S.
Beretta gegen Zürich Versicherungs-Gesellschaft (Berufung) Regeste

    Art. 42 OR. Kapitalisierter Schadenersatz für künftigen Erwerbsausfall;
Kapitalisierungszinsfuss.

    Entwicklung der Rechtsprechung zum Kapitalisierungszinsfuss (E. 2).

    Stellungnahmen in der Lehre (E. 3).

    Wirtschaftliches Umfeld (E. 4).

    Massgeblichkeit des durchschnittlichen Realertrags (E. 5).

    Zumutbare Anlagen (E. 6).

    Festhalten am Zinsfuss von 3,5% (Bestätigung der Rechtsprechung)
(E. 7).

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Im vorliegenden Berufungsverfahren ist einzig noch die
Frage streitig, mit welchem Zinssatz der Schaden aus dem künftigen
Verdienstausfall des Klägers zu kapitalisieren ist; in allen übrigen
Punkten ist das Urteil des Kantonsgerichts unangefochten geblieben. Die
Vorinstanz hat auf den Kapitalisierungszinsfuss von 3,5% abgestellt,
den das Bundesgericht seit 1946 in konstanter Praxis anwendet. Der
Kläger strebt eine Änderung der Rechtsprechung an. Er schlägt vor, den
Kapitalisierungszinsfuss auf 1,5%, eventuell auf 2%, subeventuell auf 2,5%
zu senken. Die Beklagte steht demgegenüber auf dem Standpunkt, der Satz
von 3,5% sei nach wie vor angemessen, weshalb sich eine Praxisänderung
nicht rechtfertige.

Erwägung 2

    2.- Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Kapitalisierung
von künftigem Erwerbsausfall reicht weit zurück. Im ausgehenden
19. und beginnenden 20. Jahrhundert berechnete das Bundesgericht den
kapitalisierten Schadenersatz unter Anwendung eines Zinssatzes von 3,5%
nach den Barwerttafeln, die Charles Soldan im Jahre 1895 vorgelegt
hatte (La responsabilité des fabricants et autres chefs d'exploitations
industrielles, Lausanne 1895, S. 87 ff., Anhänge II-IV, insbesondere
Anhang III: «Table suisse de mortalité pour le sexe masculin»). Vom so
ermittelten Betrag nahm es allerdings mit Rücksicht auf die Vorteile,
welche die Kapitalabfindung für den Geschädigten hat, im Allgemeinen
einen Abzug vor, den es im Regelfall auf 20%, zuweilen aber auch etwas
höher oder niedriger ansetzte (vgl. BGE 25 II 105 E. 3 S. 112 ff.; 31
II 405 E. 3 S. 410; 31 II 623 E. 6 S. 630 ff.). In den Jahren 1917 und
1918 erschienen die Barwerttafeln von PAUL PICCARD (Haftpflichtpraxis und
Soziale Unfallversicherung, Zürich 1917, S. 146 ff.; Barwerttafeln zur
Kapitalisierung von Unfall- und anderen Renten, Bern 1918, S. 9 ff.). Sie
enthielten die Zahlen für die Kapitalisierung von auf Mortalität gestellten
Annuitäten mit Zinssätzen von 3,5%, 4%, 4,5% oder 5%. Unter Hinweis auf
die Ausführungen PICCARDS (aaO, Haftpflichtpraxis, S. 124 ff.) entschied
sich das Bundesgericht im Jahre 1919 für einen Kapitalisierungszinsfuss
von 4,5% (BGE 45 II 215 ff.). Im Gegenzug gab es die Praxis pauschaler
Abzüge für die Vorteile der Kapitalabfindung auf (BGE 46 II 50 S. 53;
vgl. auch 50 II 190 E. 3 S. 195). In einem Urteil aus dem Jahre 1927
schloss es allerdings angesichts der damaligen Geldmarktverhältnisse
solche Abzüge auch bei mit 4,5% kapitalisierten Abfindungen nicht mehr
zum Vornherein aus (BGE 53 II 50 E. 4 S. 53). In der Folge nahm es
vereinzelt wiederum Kürzungen von 10% vor (BGE 54 II 294 E. 4 S. 300,
367 E. 4a S. 371); in anderen Fällen verzichtete es weiterhin darauf (BGE
53 II 419 E. 3d S. 429; 56 II 116 E. 5 S. 126). Anfangs der dreissiger
Jahre senkte das Bundesgericht den Kapitalisierungszinsfuss auf 4%
(PICCARD, A propos du taux de capitalisation, SJZ 29/1932/1933, S. 329
ff., insbes. 331 f.; vgl. auch BGE 60 II 38 E. 4 S. 48). Zu einer weiteren
Senkung des Zinssatzes auf 3,5% oder 3% vermochte es sich 1939 noch nicht
zu entschliessen (BGE 65 II 250 E. 3b S. 256 f.). Im Jahre 1946 kehrte
es zum ursprünglichen Kapitalisierungszinsfuss von 3,5% zurück (BGE
72 II 132 E. 4c S. 134), an dem es seither in ständiger Rechtsprechung
festhält. Deren Änderung lehnte es mehrfach ab (so in BGE 96 II 446 f.,
in BGE 113 II 323 E. 3a S. 332 und in BGE 117 II 609 E. 12b/bb S. 628 f.;
siehe auch JdT 1958 I 450 Nr. 73). In einem amtlich nicht publizierten
Urteil vom 13. Dezember 1994 (Pra 84/1995, Nr. 172 S. 548 ff.; JdT 1996
I 728) verwarf es die in der Urteilsberatung vorgeschlagene Senkung des
Zinssatzes auf 2,5%, zumal sie sich angesichts des Alters der Geschädigten
auf die Höhe des Gesamtschadens nicht wesentlich ausgewirkt hätte, so
dass sich im zu beurteilenden Fall eine Praxisänderung nicht aufdrängte
(vgl. ZBJV 131/1995, S. 39 ff.).

Erwägung 3

    3.- Ein Teil der Lehre beanstandet den Kapitalisierungszinsfuss
von 3,5% seit längerer Zeit als zu hoch (PETER STEIN, Die zutreffende
Rententafel, SJZ 67/1971, S. 50 f.; derselbe, Die massgebende Rententafel,
Juristische Schriften des TCS Nr. 8, Genf 1989, S. 26 ff.; PIERRE
GIOVANNONI, Les nouvelles tables de capitalisation de STAUFFER/SCHAETZLE,
Revue jurassienne de jurisprudence 1/1991, S. 7 f.; vgl. auch OFTINGER,
Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 4. Aufl. 1975, S. 223 ff.). Andere
Autoren begrüssen demgegenüber die konstante bundesgerichtliche Praxis und
treten namentlich mit Rücksicht auf die Rechtssicherheit für ein Festhalten
am Kapitalisierungszinsfuss von 3,5% ein (PAUL SZÖLLÖSY, Der Richter und
die Teuerung: Die ausservertragliche Schadenersatzpraxis, ZBJV 112/1976, S.
33 ff., insbes. 35 f.; STAUFFER/SCHAETZLE, Barwerttafeln, 4. Aufl. 1989, S.
327 f. Rz. 1132 ff.; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd.
I, 5. Aufl. 1995, S. 298 Rz. 150).

    Seit Bekanntwerden der Urteilsberatung vom 13. Dezember
1994 (ZBJV 131/1995, S. 39 ff.; dazu auch MARC SCHAETZLE, Neuer
Kapitalisierungszinsfuss im Haftpflichtrecht?, ZBJV 131/1995, S. 520 ff.)
sind zahlreiche weitere Stellungnahmen veröffentlicht worden. Die Meinungen
bleiben weiterhin geteilt. Ein allgemeiner Konsens über den «richtigen»
Kapitalisierungszinsfuss vermochte sich nicht herauszubilden. Während
verschiedene Autoren sich gegen eine Änderung des Zinssatzes von 3,5%
stellen (ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. II, 2. Aufl. 1998,
S. 45 f.; BREHM, Berner Kommentar, 2. Aufl. 1998, N. 61 vor Art. 45 OR;
FELIX HUNZIKER, Zur erneuten Diskussion um den Kapitalisierungszinsfuss
im Haftpflichtrecht, ZBJV 131/1995, S. 872 ff.; LUKAS WYSS, Gedanken zum
Kapitalisierungszinsfuss bei Invaliditäts- und Versorgerschäden, AJP 1997,
S. 848 ff.), schlagen Stephan Weber und Marc Schaetzle auf der Grundlage
eines wirtschaftswissenschaftlichen Gutachtens von CHRISTOPH AUCKENTHALER
und Andreas Zimmermann (veröffentlicht in AJP 1997, S. 1129 ff.) ein
umfassendes neues Berechnungsmodell vor, in dessen Rahmen sie die Senkung
des Kapitalisierungszinsfusses auf 2,5% postulieren (WEBER/SCHAETZLE,
Von Einkommensstatistiken zum Kapitalisierungszinsfuss oder warum jüngere
Geschädigte zu wenig Schadenersatz erhalten und ältere zu viel, AJP 1997,
S. 1115 ff.; SCHAETZLE/WEBER, Barwerttafeln, Neue Rechnungsgrundlagen für
den Personenschaden, in: Tercier (Hrsg.), Kapitalisierung - Neue Wege,
Freiburg 1998, S. 81 ff. und 93 ff.). Dieser Vorschlag hat wiederum
verschiedene kritische Reaktionen ausgelöst (LUKAS WYSS, Und nochmals
Bemerkungen zur Berechnung von Invaliditäts- und Versorgerschäden, AJP
1998, S. 188 ff.; GUY CHAPPUIS, Les tables de capitalisation, Le calcul
des dommages corporels en évolution, in: Kapitalisierung - Neue Wege,
vgt., S. 164 f.; BREHM, aaO, N. 62 vor Art. 45).

Erwägung 4

    4.- Die Kapitalisierung von künftigem Erwerbsausfall beruht
zwangsläufig auf Hypothesen über Entwicklungen, die in der Zukunft
liegen. Zu diesen Entwicklungen gehören die künftige Teuerung
und die künftigen Kapitalerträge. Für die Frage des angemessenen
Kapitalisierungszinsfusses sind demnach nicht nur rechtliche,
sondern auch wirtschaftliche Gesichtspunkte von Bedeutung. Um sich
näheren Aufschluss über das wirtschaftliche Umfeld, insbesondere über
Erfahrungswerte zur vergangenen und begründbare Prognosen zur künftig
zu erwartenden Teuerungs- und Kapitalertragsentwicklung zu verschaffen,
hat die I. Zivilabteilung eine Reihe von Experten befragt. Im Rahmen
dieser Befragung haben sich die folgenden Personen und Institutionen
geäussert: die Herren Professoren Heinz Müller und Alex Keel (Universität
St. Gallen), Baptiste Rusconi (Universität Lausanne) und Gaston Gaudard
(Universität Freiburg), das Bundesamt für Sozialversicherung, das Bundesamt
für Privatversicherungswesen, die Schweizerische Nationalbank und der
Schweizerische Versicherungsverband. Den verschiedenen Stellungnahmen
und Äusserungen lässt sich Folgendes entnehmen:

    a) In Bezug auf die Teuerung rechnen die Experten allgemein damit,
dass die in den letzten Jahren eingetretene Beruhigung weiter anhalten
wird, sofern nicht unvorhergesehene Ereignisse neue Teuerungsschübe
auslösen. Dabei sind sich die Experten einig, dass der amtliche Index
die effektive Teuerung eher überschätzt. Diese Überbewertung der Teuerung
beziffert ein vom Bundesamt für Statistik in Auftrag gegebenes Gutachten
auf rund 0,5 bis 0,6 Indexpunkte im Jahr. Zur Zeit befindet sich der
Landesindex der Konsumentenpreise in Revision. Ab Anfang des Jahres 2000
soll ein neuer Index zur Anwendung kommen, der die tatsächliche Teuerung
genauer wiedergeben soll.

    b) Die künftige Zinsentwicklung hängt stark davon ab, ob und wieweit
die Schweiz ihre Landeswährung an die europäische Einheitswährung anlehnen
wird. Da darüber noch keine Klarheit besteht, ist es gerade im heutigen
Zeitpunkt besonders schwierig, verlässliche Prognosen zur Zinsentwicklung
zu stellen. Nach verbreiteter Ansicht würden sich bei einer Andockung
des Schweizer Frankens an den Euro die Zinsen dem europäischen Niveau
angleichen und mutmasslich um rund 2% steigen, wobei jedoch gleichzeitig
auch die Teuerung eher zunehmen würde. In diesem Zusammenhang weisen die
Experten darauf hin, dass die Realzinsen in den Ländern der Europäischen
Union eher höher liegen als in der Schweiz.

    c) Zu den Erträgen verschiedener Kapitalanlagen nennen die Experten
unterschiedliche Zahlen. Nach dem Gutachten Müller/Keel beträgt der -
aufgrund der Daten der Jahre 1930 bis 1997 errechnete - durchschnittliche
Realertrag bei konservativer Anlagestrategie (10% Geldmarkt, 80%
Obligationen, 10% Aktien) 1,65%, bei mittlerer Anlagestrategie (10%
Geldmarkt, 60% Obligationen, 30% Aktien) 2,55% und bei aggressiver
Anlagestrategie (10% Geldmarkt, 40% Obligationen, 50% Aktien) 3,45%. Das
Bundesamt für Privatversicherungswesen geht für einen Zeitraum von bis
zu 20 Jahren davon aus, dass ein gemischtes Portfeuille (10% Geldmarkt,
45% in- und ausländische Obligationen, 45% in- und ausländische Aktien)
im Durchschnitt jährlich mit nominal 7-8% rentiert, was teuerungs- und
kostenbereinigt einem Realertrag von wohl über 4% entsprechen würde. Die
Schweizerische Nationalbank gelangt gestützt auf den Aktienindex des
Schweizerischen Bankvereins von Januar 1969 bis Dezember 1997 zu einer
durchschnittlichen realen Aktienrendite von 2,26% im Jahr, wobei in der
Zeit von 1972 bis 1985 mehrheitlich Verluste, seither mehrheitlich -
zum Teil massive - Gewinne zu verbuchen waren. Für risikolose Anlagen
rechnet die Nationalbank langfristig mit einer jährlichen realen Verzinsung
von rund 2%. Nach den Angaben des Schweizerischen Versicherungsverbands
liegen die durchschnittlichen realen Nettorenditen je nach Durchmischung
des Portfeuilles zwischen 2,2 und 4,9%. All diese Berechnungen beruhen im
Wesentlichen auf denselben statistischen Unterlagen aus den vergangenen
Jahrzehnten. Die unterschiedlichen Resultate erklären sich aus den
verschiedenen Beobachtungszeiträumen. Da sich der Aktienmarkt seit
Mitte der Achtziger Jahre positiv entwickelt, ergibt sich für Anlagen
mit einem massgeblichen Aktienanteil ein umso höherer Realertrag, je
kürzer die Zeitachse gewählt und je weniger weit in die Vergangenheit
zurückgegriffen wird.

    d) Ein ähnliches Bild zeichnet übrigens auch die vorerwähnte,
1997 veröffentlichte Studie von CHRISTOPH AUCKENTHALER und ANDREAS J.
ZIMMERMANN. Nach deren auf den Zahlen aus den Jahren 1970 bis 1997
beruhenden Berechnungen beträgt die reale Netto-Rendite eines gemischten
Portfeuilles je nach eingegangenem Risiko zwischen 2,12 und 4,07% (AJP
1997, S. 1139).

Erwägung 5

    5.- a) Mit der Ausrichtung von kapitalisiertem Schadenersatz erhält der
Geschädigte einen Betrag, den er ohne den Schadenfall erst in Zukunft nach
und nach verdient hätte. Er kann diesen Betrag ertragbringend anlegen
und erlangt daraus einen Vorteil. Dass bei der Kapitalisierung eine
Abzinsung eingerechnet wird, erscheint insofern als eine besondere Form des
Vorteilsausgleichs. Dem Vorteil des Kapitalertrags steht aber der Nachteil
der künftigen Geldentwertung gegenüber. Das Schadenersatzkapital wirft
nicht nur Ertrag ab, sondern unterliegt auch der Teuerung, so dass dem
Geschädigten nur die Differenz zwischen Kapitalertrag und Inflationsrate,
mithin der reale Ertrag verbleibt. Soweit in früheren Entscheiden
ausgeführt wurde, die Geldentwertung sei bei der Kapitalisierung nicht oder
nur teilweise zu berücksichtigen (vgl. BGE 117 II 609 E. 12b/bb S. 628 f.;
113 II 323 E. 3a S. 332; 96 II 446 S. 447), kann daran nicht festgehalten
werden. Der Geschädigte erhält seinen Schaden aus Erwerbsausfall nicht
voll ersetzt, wenn die betragsmässige Steigerung ausser Acht gelassen
wird, die sein Einkommen ohne den Schadenfall zufolge Anpassung an
den sinkenden Geldwert erfahren hätte. Der Kapitalisierungszinsfuss
hat demnach grundsätzlich dem Ertrag zu entsprechen, der sich auf dem
Schadenersatzkapital real erzielen lässt.

    b) Die Kapitalerträge folgen den Konjunkturschwankungen. Der
Kapitalisierungszinsfuss kann jedoch nicht laufend den wirtschaftlichen
Gegebenheiten angepasst werden. Andernfalls wären verlässliche
Abschätzungen der Schadenssummen sowohl für die Haftpflichtigen wie
für die Geschädigten nicht mehr möglich. Ein variabler Zinssatz würde im
Übrigen auch dazu führen, dass die Höhe der zu leistenden Entschädigung im
Streitfall unter Umständen durch Prozessverzögerung oder -beschleunigung
beeinflusst werden könnte. Solches wäre mit dem Gebot der Rechtssicherheit
nicht zu vereinbaren. Gerade im Bereich des Schadenersatzrechts
besteht ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Kalkulierbarkeit. Namentlich
die Versicherungs-Gesellschaften sind für die Prämienberechnung darauf
angewiesen, den Kapitalbedarf für künftige Schadenereignisse einigermassen
zuverlässig veranschlagen zu können. Im Hinblick auf Rechtssicherheit
und Praktikabilität verbietet es sich auch, bei der Bestimmung des
Kapitalisierungszinsfusses auf die individuellen Verhältnisse der einzelnen
Geschädigten Rücksicht zu nehmen (ebenso WEBER/SCHAETZLE, aaO, S. 1118;
SCHAETZLE/WEBER, aaO, S. 95). Der Umstand, dass nicht jede Person über
das gleiche Geschick verfügt, mit Kapitalien umzugehen, hat daher ausser
Betracht zu bleiben. Ebensowenig kann berücksichtigt werden, dass die
Ertragsmöglichkeiten umso besser sind, je grösser das Schadenskapital und
damit das Anlagevolumen, das dem Geschädigten zur Verfügung steht, und der
ihm eröffnete zeitliche Anlagehorizont sind (vgl. AUCKENTHALER/ZIMMERMANN,
aaO, S. 1138 f.). Abzustellen ist auf Durchschnittswerte. Massgebend ist,
welcher reale Ertrag auf kapitalisierten Schadenssummen im Durchschnitt
der Geschädigten und im Durchschnitt der Jahre und Jahrzehnte erzielt
werden kann.

    c) In der Lehre ist zum Teil die Forderung erhoben worden, auch
den künftigen Reallohnerhöhungen mit dem Kapitalisierungszinsfuss
Rechnung zu tragen (PETER STEIN, Die massgebende Rententafel,
Juristische Schriften des TCS Nr. 8, Genf 1989, S. 17 f.; kritisch:
GIOVANNONI, aaO, S. 8 f.; zu den verschiedenen Möglichkeiten,
Reallohnerhöhungen generell zu berücksichtigen, vgl. MARC SCHAETZLE,
Zur Kapitalisierung von Reallohnerhöhungen, plädoyer 5/1991, S. 42
ff.). Die Reallohnentwicklungen sind jedoch in den einzelnen Branchen
und Bereichen möglicher Erwerbstätigkeit sehr unterschiedlich. Die
individuelle Einkommensentwicklung hängt zudem stark vom Alter des
Geschädigten ab (vgl. SCHAETZLE, aaO, S. 43 f.; WEBER/SCHAETZLE, aaO,
S. 1113 f.; SCHAETZLE/WEBER, aaO, S. 54). Die Praktikabilität gebietet es,
bei der Festsetzung des Kapitalisierungszinsfusses nur jene Elemente zu
berücksichtigen, die für alle Fälle künftiger Einkommenseinbussen gleich
sind. Weiteren Umständen ist im Einzelfall auf andere Weise Rechnung zu
tragen. Vorliegend haben die kantonalen Gerichte die reale Entwicklung
des dem Kläger entgangenen Einkommens konkret geschätzt. Gegen dieses
Vorgehen ist nichts einzuwenden.

Erwägung 6

    6.- Der auf längere Sicht durchschnittlich erzielbare Realertrag
ist von der Anlagestruktur abhängig. Es gibt ertragreichere und weniger
ertragreiche Anlagen. Höher rentierende Anlagen sind allerdings regelmässig
auch mit höheren Risiken verbunden. Damit stellt sich die Frage, welche
Anlageformen und welche Anlagerisiken einem Geschädigten zugemutet werden
dürfen und müssen. In diesem Zusammenhang ist Folgendes von Bedeutung:

    a) Auf ein Leben ohne jedes finanzielle Risiko können Geschädigte,
die für künftigen Erwerbsausfall eine Kapitalabfindung verlangen, nicht
Anspruch erheben. Gewisse Anlagerisiken sind ihnen durchaus zuzumuten. Das
rechtfertigt sich schon deshalb, weil auch voll erwerbstätige Personen
erheblichen wirtschaftlichen Risiken ausgesetzt sind, insbesondere jenem
der Arbeitslosigkeit. Auf der anderen Seite darf nicht vorausgesetzt
werden, dass durchschnittliche Geschädigte in der Lage wären, besonders
günstige Börsengeschäfte zu tätigen. Kapitalabfindungen sind grundsätzlich
für den laufenden Verzehr bestimmt, so dass vorauszusetzen ist, dass die
geschädigte Person dauernd - und so lange sie lebt - auf das Kapital
und auf dessen Ertrag angewiesen ist, weshalb sie in Zeiten niedriger
Börsenkurse nicht einfach auf die Auflösung von Anlagen verzichten
und abwarten kann, bis sich die Märkte wieder erholt haben. Besonders
risikoreiche und auf längere Sicht entsprechend gewinnträchtige Anlagen
kommen deshalb nicht in Frage.

    b) Das mit bestimmten, längerfristig ertragreicheren Anlagen,
insbesondere mit Aktien, verbundene Risiko lässt sich allerdings
mit einer angemessenen Diversifikation begrenzen. Es liegt nahe,
der Ertragsschwäche risikoarmer Anlagen mit einem angemessenen
Aktienanteil zu begegnen. Bundesanleihen sind entgegen dem, was der
Kläger anzunehmen scheint, nicht die einzig zumutbaren Anlagen. Mit
einem vernünftig gemischten, auf eine vorsichtige Anlagestrategie
ausgerichteten Portefeuille lässt sich einerseits eine Risikoverteilung
und damit ein Risikoausgleich schaffen, anderseits im Durchschnitt ein
besserer Ertrag erwirtschaften. Diese Erkenntnis setzt sich denn in der
Schweizer Bevölkerung auch mehr und mehr durch. Eine einseitige Anlehnung
des Kapitalisierungszinsfusses an den Realzins der Bundesobligationen
rechtfertigt sich deshalb nicht. Es ist notorisch, dass das Anlageverhalten
der nicht institutionellen Anleger und namentlich auch der sogenannten
Kleinsparer sich in den letzten Jahren entscheidend verändert hat. An
die Stelle der herkömmlichen Sparguthaben und Kassenobligationen sind
ertragreichere Anlageformen getreten. Verbreitet sind heute insbesondere
Investitionen in Anlagefonds. Die Anzahl schweizerischer Anlagefonds ist
von 1993 bis 1998 von 240 auf 356 gestiegen, ihr Vermögen in der gleichen
Zeitspanne von rund 58,1 auf rund 107,4 Milliarden Franken angewachsen,
und der Mittelzufluss an sie hat von 21,8 Milliarden Franken im Jahre 1993
auf 38,5 Milliarden Franken im Jahre 1998 zugenommen (Schweizerische
Nationalbank, Statistisches Monatsheft 3/1999, S. 64). Anlagefonds
erlauben breiten Bevölkerungskreisen den kostengünstigen Zugang zu
den Kapitalmärkten und die Teilnahme an professionell verwalteten
Vermögen. Entsprechende Anlagen sind auch Geschädigten zumutbar.

    c) Das Gesetz äussert sich nicht dazu, ob Personenschaden in der Form
eines Kapitals oder einer Rente zu ersetzen ist; es überlässt den Entscheid
dem Richter (Art. 43 OR). Das Bundesgericht hat in seiner bisherigen
Rechtsprechung regelmässig der Kapitalabfindung den Vorzug gegeben und ist
davon ausgegangen, dass Renten nur ganz ausnahmsweise dann zuzusprechen
sind, wenn die Besonderheiten des Einzelfalls es rechtfertigen (BGE 117 II
609 E. 10c S. 625 f., mit Hinweisen). Diese Praxis bedarf der Überprüfung.
Die Rente ist an sich die geeignete Form des Ausgleichs von Dauerschäden.
Die geschädigte Person erhält mit einer an den Lohn- oder Teuerungsindex
angepassten Rente den Ausfall so, wie sie ihn erleidet, und solange,
wie sie ihn erleidet, ersetzt (KELLER, aaO, S. 43; STAUFFER/SCHAETZLE,
aaO, S. 225 Rz. 589; BREHM, aaO, N. 8 zu Art. 43 OR; OFTINGER/STARK, aaO,
S. 321 Rz. 218). Das Rückstellungsproblem, das damit für Haftpflichtige
und Versicherungen entsteht, erscheint durchaus lösbar (WALTER GRESSLY,
Schadenersatz in Form einer indexierten Rente?, Collezione Assista
1998, S. 250 f.; PIERMARCO ZEN-RUFFINEN, Le mensonge du nominalisme ou
quelques réflexions sur l'indexation des rentes alimentaires et des
rentes indemnitaires, in: FS Jeanprêtre 1982, S. 153 f.). Jedenfalls
wird man die Unwägbarkeiten der Entwicklung des Geldwerts eher dem
Haftpflichtigen oder seiner Versicherung als dem Geschädigten anlasten
dürfen. Kapitalabfindungen haben zwar ebenfalls ihre Vorteile, insbesondere
auch jenen der Praktikabilität (STAUFFER/SCHAETZLE, aaO, S. 225 Rz. 583
ff.; TERCIER, La capitalisation en question, in: Kapitalisierung - Neue
Wege, vgt., S. 33; BREHM, aaO, N. 10 und 14 ff. zu Art. 43 OR). Das
ist indessen kein Grund, anderslautende Begehren von Geschädigten ohne
weiteres zu übergehen und künftigen Erwerbsausfall grundsätzlich nur in
Kapitalform zu ersetzen. Wenn die geschädigte Person eine indexierte Rente
beansprucht, ist ihr diese Form des Schadenersatzes zumindest im Regelfall
nicht zu verweigern. Steht ihr aber grundsätzlich die Wahl zu, so kann
sie - oder ihr gesetzlicher Vertreter - eigenverantwortlich bestimmen,
ob sie einer langfristig wertsicheren Rente oder einer sofort verfügbaren
Kapitalabfindung den Vorzug gibt. Die indexierte Rente erlaubt es dem
Geschädigten, periodischen Ersatz seines realen Einkommensausfalls zu
erhalten und damit seinen Lebensunterhalt langfristig sicherzustellen.
Wählt er hingegen - wie im vorliegenden Fall der Kläger - die
Kapitalabfindung, so ist ihm zuzumuten, sich im Rahmen des bei geeigneter
Anlage erzielbaren Realertrags selbst gegen die Geldentwertung abzusichern.

Erwägung 7

    7.- Die Änderung einer Rechtsprechung rechtfertigt sich nur, wenn sich
dafür hinreichend ernsthafte Gründe anführen lassen. Das gilt namentlich,
wenn diese Rechtsprechung während mehrerer Jahrzehnte konstant befolgt
worden ist (BGE 120 II 137 E. 3f S. 142, mit Hinweisen; vgl. auch 122 I 57
E. 3c/aa S. 59). Die Gründe, die gegen die bisherige Praxis und zugunsten
einer neuen Betrachtungsweise sprechen, müssen insgesamt gewichtiger
sein als die nachteiligen Auswirkungen, welche die Praxisänderung
insbesondere auf die Rechtssicherheit hat (THOMAS PROBST, Die Änderung
der Rechtsprechung, Diss. St. Gallen 1992, S. 664). Dabei ist vorliegend
zu berücksichtigen, dass das Bedürfnis nach Rechtssicherheit im Bereich
der Schadenskalkulation besonders ausgeprägt ist (E. 5b hievor). Die
bisherige, langjährige Rechtsprechung ist deshalb nur zu ändern, wenn
hinreichend sichere Anzeichen dafür bestehen, dass ein Realertrag von 3,5%
auf Kapitalabfindungen in absehbarer Zukunft nicht realisierbar ist, und
sich mit hinreichender Gewissheit sagen lässt, dass der seit 1946 geltende
Kapitalisierungszinsfuss mit dem Grundsatz des vollen Schadensausgleichs
nicht zu vereinbaren ist.

    In Würdigung der Aussagen der Experten ist davon auszugehen,
dass ein realer Ertrag von 3,5% jedenfalls seit Mitte der achtziger
Jahre im Rahmen dessen liegt, was sich mit einem angemessen gemischten
Wertschriften-Portefeuille oder mit Anteilen an einem auf eine vorsichtige
Anlagestrategie ausgerichteten Anlagefonds erzielen lässt. Dafür, dass
sich die derzeitige Ertragslage solcher Anlagen in absehbarer Zukunft
nicht mehr werde halten können, bestehen keine hinreichend gesicherten
Anhaltspunkte. Eine Praxisänderung ist deshalb nicht angezeigt. Am
Kapitalisierungszinsfuss von 3,5% ist festzuhalten. Ein entsprechender
Realertrag erscheint mit zumutbaren Anlagen erreichbar. Die zu 3,5%
kapitalisierte Abfindung, welche die Vorinstanz dem Kläger zugesprochen
hat, bietet ihm vollen Ersatz seines Schadens aus Erwerbsausfall. Die
Berufung erweist sich als unbegründet.