Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 III 29



125 III 29

5. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. Dezember 1998 i.S.
Emil Sigg und System Albanese gegen Mägert Bautechnik AG (Berufung) Regeste

    Art. 66 lit. a PatG. Patentverletzung; Nachahmung.

    Welche Fragen bedürfen im Rahmen eines Patentverletzungsprozesses
der Klärung durch einen Sachverständigen (E. 3a)? Begriff der Nachahmung;
Abhängigkeit des Schutzbereichs eines Patents vom technischen Fortschritt,
der mit der patentierten Erfindung erreicht worden ist (E. 3b).

Sachverhalt

    A.- Die Mägert Bautechnik AG befasst sich mit der Entwicklung
und Herstellung von Produkten des Baubedarfs. Anfangs der Achtziger
Jahre hat sie ein Verfahren zum Versetzen von Anschlaghaltern
bei Grossflächen-Wandschalungen entwickelt. Sie ist Inhaberin des
schweizerischen Patents Nr. 651 881, das dieses Verfahren schützt. Das
patentgeschützte Verfahren kennzeichnet sich namentlich durch die folgenden
Merkmale: Ein Eisen mit U-förmigem Profil wird als Ankerelement am Ort
einer zu erstellenden Wand in den frischen Beton eingeschlagen oder vor
dem Betonieren zwischen Armierungseisen festgebunden. Durch zwei sich
gegenüber liegende Löcher in den Schenkeln des U-förmigen Eisens wird
ein Querstab eingeführt, dessen Länge der Stärke der zu erstellenden Wand
entspricht. Anschliessend wird der seitlich frei verschiebbare Querstab
mittels einer Richtschnur gerichtet und durch Verkeilung fixiert. Gegenüber
dem früher verwendeten sogenannten KIM-Anker, bei dem ein mit einem Gewinde
versehener Querstab in das Ankerelement hineingeschraubt werden musste,
hat das beschriebene Verfahren den Vorteil, dass der Querstab sehr viel
rascher im Ankerelement montiert ist.

    Angeblich Ende November 1990 bemerkte die Mägert Bautechnik AG, dass
Emil Sigg Anschlaghalter der Firma System Albanese mit der Bezeichnung
«RISA» vertrieb, die ebenfalls einen seitlich frei verschiebbaren
Querstab aufwiesen, wobei für die Arretierung allerdings nicht eine
Verkeilung, sondern das Einschieben eines Nagels oder eines Stiftes durch
vorbereitete Löcher im Ankerelement und im Querstab vorgesehen war. Der
von der Mägert Bautechnik AG beigezogene Rechtsanwalt wies Emil Sigg mit
Schreiben vom 23. November 1990 auf ihr Patent hin und forderte ihn auf,
den Vertrieb des Anschlaghalters «RISA» einzustellen. Emil Sigg und die
Firma System Albanese wiesen den Vorwurf der Patentverletzung zurück.

    In den Jahren 1991 und 1992 wurde die Vermarktung des Anschlaghalters
«RISA» mit grossem Einsatz vorangetrieben. Die Firma System Albanese erwarb
in der Folge für diesen Anschlaghalter in Deutschland die Patente Nr. DE-PS
40 16 646 und D-PS 42 05 580 und in der Schweiz das Patent Nr. 681 100.

    B.- Am 21. April 1993 reichte die Mägert Bautechnik AG beim
Kantonsgericht Nidwalden Klage gegen Emil Sigg und die Firma System
Albanese ein. Sie verlangte ein an die Beklagten gerichtetes Verbot,
Anschlaghalter des Typs «RISA» oder solche mit entsprechenden Merkmalen
herzustellen, herstellen zu lassen oder in Verkehr zu bringen, sowie
Schadenersatz bzw. Gewinnherausgabe in einem Fr. 100'000.-- übersteigenden
Betrag nebst Zins. Eventualiter forderte sie als Schadenersatz eine
Lizenzgebühr von 9% des Brutto-Faktura-Betrages der in der Schweiz und
im Fürstentum Liechtenstein bisher verkauften Anschlaghalter «RISA»
nebst Zins.

    Mit Urteil vom 28. September 1994/18. Januar 1998 hiess das
Kantonsgericht die Klage gut. Es untersagte den Beklagten unter Androhung
der Straffolgen von Art. 292 StGB, Anschlaghalter mit den folgenden
Merkmalen - insbesondere solche mit der Bezeichnung «RISA» - herzustellen,
herstellen zu lassen oder in Verkehr zu bringen, nämlich Anschlaghalter,
welche bestehen aus,

    a) einem vertikalen Ankerelement (U-förmiges Eisen oder Vierkantrohr),
wobei zwei Schenkel an einem Ende einander gegenüberliegende Löcher
aufweisen, die vom Steg des U-Eisens bzw. den zwei andern (sich ebenfalls
gegenüberliegenden) Schenkeln des Vierkantrohrs distanziert sind,

    b) einem durch die beiden Löcher hindurchzuführenden, an den Enden mit
Kunststoffkappen versehenen Querstab, der frei in den Löchern (horizontal)
hin und her schiebbar ist, und

    c) einem Feststellmittel zur lösbaren Arretierung des Querstabes in
jeder gewünschten Horizontallage im Ankerelement, und welche bestimmt sind
für die Durchführung eines Verfahrens zum Versetzen einer Anschlaghalterung
für eine Grossflächen-Wandschalung, bei dem das vertikale Ankerelement am
Ort einer zu erstellenden Wand in den frischen Beton eingeschlagen oder vor
dem Betonieren zwischen Armiereisen festgebunden wird, und der Querstab mit
den Kunststoffkappen anschliessend mittels einer Richtschnur gerichtet und
mit dem Feststellmaterial arretiert wird, damit die Grossflächen-Schalung
eine beidseitige Führung erhält.

    Im Weiteren verpflichtete das Kantonsgericht die Beklagten, der
Klägerin Schadenersatz in der Höhe von Fr. 667'876.10 nebst Zins zu 8%
seit 3. Dezember 1990 zu bezahlen.

    C.- Das Bundesgericht heisst die Berufung der Beklagten teilweise gut,
hebt das kantonsgerichtliche Urteil auf und weist die Streitsache gestützt
auf Art. 64 Abs. 1 OG an die Vorinstanz zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Das Kantonsgericht hält dafür, der Anschlaghalter «RISA»
der Beklagten sei, wenn man ihn mit den Patentansprüchen der Klägerin
vergleiche, ganz klar eine Nachahmung der im Streitpatent offenbarten
Lehre, weshalb eine Patentverletzung vorliege. Diese Auffassung rügen
die Beklagten als bundesrechtswidrig. Sie werfen der Vorinstanz vor, die
Art. 51 und 66 PatG fehlerhaft angewendet zu haben. Ihrer Ansicht nach
hätte das Kantonsgericht, da ihm die nötigen Fachkenntnisse fehlten, die
Verletzungsfrage von einem Gutachter klären lassen müssen. Die Klägerin
vertritt demgegenüber den Standpunkt, die Vorinstanz habe keinen Grund
gehabt, die Frage der Patentverletzung einem Gutachter vorzulegen,
gehe es im Klagpatent doch um eine einfache mechanische Vorrichtung
und um ein leicht nachvollziehbares Verfahren; es sei nicht einzusehen,
inwiefern die Vorinstanz nicht bundesrechtskonform vorgegangen sein sollte,
wenn sie sich in erfrischender Weise von der ansonsten bei den Gerichten
grassierenden Expertengläubigkeit und -abhängigkeit freigehalten habe.

    a) Auch Patentstreitigkeiten können in tatsächlicher Hinsicht so
einfach und anschaulich sein, dass sie sich ohne besonderes Fachwissen
beurteilen lassen (vgl. BGE 81 II 292 E. 2 S. 294 f.). Dies ist jedoch
die Ausnahme. In der Regel ist der Beizug von Fachpersonen für die
Beurteilung technischer Fragen unerlässlich, wenn das Gericht nicht
selbst fachkundig besetzt ist. Das ergibt sich schon daraus, dass für die
Tragweite von Patentansprüchen deren objektiver, normativer Gehalt aus
der Sicht des Fachmanns massgebend ist (BGE 122 III 81 E. 4a S. 83, mit
Hinweisen). Aufgrund der normativ aus der Sicht des Fachmanns ausgelegten
Patentansprüche beurteilt sich nicht nur die Patentfähigkeit der Erfindung,
insbesondere ihre Neuheit und ihr Nichtnaheliegen im Vergleich zum
vorbekannten Stand der Technik (vgl. BGE 123 III 485 E. 2a S. 488 ff.; 114
II 82 E. 2a S. 85), sondern auch der sachliche Geltungs- und Schutzbereich
des Patents, mithin die Ausdehnung des Patentschutzes (BGE 122 III 81 E. 4a
S. 84, mit Hinweis). Entscheidend ist, welche Tragweite ein Fachmann den
Patentansprüchen vor dem Hintergrund des vorbekannten Standes der Technik
beimessen durfte und musste. Ein zuverlässiges Urteil darüber setzt aber
eine Kenntnis der Sichtweise und des Verständnishorizonts des Fachmanns
voraus, die einem nicht fachkundig besetzten Gericht regelmässig fehlt.

    b) Eine Patentverletzung begeht, wer die patentierte Erfindung
widerrechtlich benützt, wobei als Benützung auch die Nachahmung gilt
(Art. 66 lit. a PatG). Eine Nachahmung liegt vor, wenn ein Verfahren
oder Erzeugnis, obschon es nicht alle Merkmale der patentierten Lösung
verwirklicht, nur in untergeordneten Punkten von dieser abweicht, mithin
den wesentlichen Gehalt des Erfindungsgedankens in abgewandelter Form
übernimmt (BGE 115 II 490 E. 2a S. 491). Untergeordnet ist eine Abweichung,
wenn sie nicht auf einem neuen erfinderischen Gedanken beruht, sondern dem
durchschnittlich gut ausgebildeten Fachmann durch die patentierte Lehre
nahegelegt wird (BGE 97 II 85 E. 1 S. 87 f., mit Hinweisen; vgl. auch
98 II 325 E. 3c S. 331). Die Weite des Schutzes gegen Nachahmungen hängt
dabei vom technischen Fortschritt ab, der mit der patentierten Erfindung
erreicht worden ist. Bedeutende Erfindungen, deren technische Lehre
grundlegend neue Wege weist, haben einen grösseren Schutzbereich, weil
sie die Technik ein grosses Stück weiterführen, so dass die unmittelbar
aus ihnen zu gewinnenden Anleitungen zum technischen Handeln zahlreicher
und vielfältiger sind. Handelt es sich dagegen um eine Erfindung, deren
allgemeine technische Idee nur eine geringe Reichweite hat, so ist auch
der Schutzbereich entsprechend eng (BGE vom 18. Januar 1990, veröffentlicht
in SMI 1991, S. 198 ff., E. 2b; TROLLER, Immaterialgüterrecht, Bd. II, 3.
Aufl. 1985, S. 886; BLUM/PEDRAZZINI, Das schweizerische Patentrecht, Bd.
III, 2. Aufl., S. 447 f.; vgl. für das deutsche Recht auch BENKARD/ULLMANN,
Patentgesetz, 9. Aufl. 1993, N. 8 und 125 zu § 14 PatG).

    c) Nach Ansicht des Kantonsgerichts benutzt der Anschlaghalter «RISA»
der Beklagten die wesentlichen Elemente der klägerischen Erfindung. Im
angefochtenen Urteil wird in diesem Zusammenhang festgehalten, dass sich
der Anschlaghalter «RISA» von jenem, den das klägerische Patent beschreibt,
nur durch eine andere Fixierung des Querstabes unterscheidet. Während
gemäss dem Patent der Klägerin der Querstab «kraftschlüssig» durch
einen Keil fixiert wird, ist beim Anschlaghalter der Beklagten eine
«formschlüssige» Fixierung mit Hilfe eines Nagels vorgesehen, der durch
vorbereitete Löcher im Querstab und im Ankerelement geschoben wird. Die
Vorinstanz hält ohne nähere Begründung dafür, dass die Beklagten aus
diesem Unterschied nichts zu ihren Gunsten ableiten könnten. Es bestehen
jedoch gewichtige Indizien dafür, dass gerade das Merkmal der Verkeilung
für die Patentfähigkeit der klägerischen Erfindung ausschlaggebend sein
könnte. Aus dem vom Handelsgericht des Kantons Bern eingeholten Gutachten,
das gestützt auf Art. 64 Abs. 2 OG ergänzend herangezogen werden kann,
geht hervor, dass es sich beim Klagpatent nicht um eine Pioniererfindung,
sondern um eine kleine Erfindung mit entsprechend kleinem Schutzbereich
handelt. Der Gutachter nennt acht Merkmale, die das in der Patentschrift
offenbarte Verfahren charakterisieren: (a) ein U-förmiges Eisen, (b) mit
beidseitigen Löchern, durch die (c) seitlich verschiebbar (d) ein Querstab
eingeführt werden kann, der (e) an seinen Enden mit Kunststoffteilen
versehen ist, wobei (f) das Eisen entweder am Ort der zu erstellenden
Wand in den frischen Beton einschlagbar oder vor dem Betonieren zwischen
Armiereisen festbindbar ist und (g) der Querstab mit den Kunststoffteilen
mittels einer Richtschnur richtbar und (h) verkeilbar ist, damit für die
Grossflächenschalung eine beidseitige Führung erhalten wird. Anhand einer
Gegenüberstellung des Klagpatents mit Patenten und Fachpublikationen
aus dem Stand der Technik zeigt der Gutachter auf, dass sämtliche acht
Merkmale einzeln und auch in teilweiser Kombination vorbekannt waren. Als
erfindungswesentlich bezeichnet der Gutachter vor diesem Hintergrund
die gemeinsame Verwirklichung der Elemente a, b, c und h an einer als
Innenabstandhalter dienenden Vorrichtung. Die durch die Kombination
dieser Merkmale ermöglichte Verkeilung des seitlich frei verschiebbaren
Querstabes erachtet er für einen Innenabstandhalter als nicht naheliegend.

    d) Die Vorinstanz hat den Schutzumfang des Klagpatents im Verhältnis
zur beanstandeten Vorrichtung der Beklagten ohne Beizug einer fachkundigen
Person festgelegt. Sie hat die unterschiedliche Funktionsweise der
Fixierung bei den sich gegenüberstehenden Anschlaghaltern nicht näher
auf die Bedeutung hin untersucht, die ihr im Blick auf den im Klagpatent
zum Ausdruck gebrachten (kleinen) Erfindungsgedanken zukommt. Wie es sich
damit verhält, muss aber geklärt werden, wenn beurteilt werden soll, ob
die Beklagten mit ihrem Anschlaghalter «RISA» die Erfindung der Klägerin
benützen. Dies setzt entsprechende fachtechnische Grundlagen voraus. Das
Kantonsgericht konnte sich offenbar nicht auf ein Fachrichtervotum stützen;
ein solches findet sich jedenfalls nicht bei den Akten. Unter diesen
Umständen hätte das Kantonsgericht ein Gutachten einholen müssen. Da die
fachtechnischen Grundlagen überhaupt fehlen, rechtfertigt es sich nicht,
von der Möglichkeit der Überprüfung gemäss Art. 67 OG Gebrauch zu machen.
Vielmehr ist die Streitsache gemäss Art. 64 Abs. 1 OG an die Vorinstanz
zurückzuweisen, um dieser Gelegenheit zu geben, eine fachkundige Person
beizuziehen und gestützt auf deren Gutachten darüber zu entscheiden,
ob der Anschlaghalter der Beklagten in den Schutzbereich des Klagpatents
eingreift.