Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 III 257



125 III 257

45. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. Juni 1999 i.S. F.S.
c. O.W. (Berufung) Regeste

    Rechtsmissbrauch und Vertragsumgehung (Art. 2 ZGB).

    Wird ein Gesellschafter auf einem formell zulässigen, für den
Vertragspartner einfacheren Weg zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten
im Aussenverhältnis angehalten, als ihn die im Gesellschaftsvertrag
vereinbarte Regressordnung vorschreiben würde, liegt weder ein
offensichtlicher Rechtsmissbrauch noch der Tatbestand einer verpönten
Vertragsumgehung vor (E. 2 und 3).

Sachverhalt

    A.- Der Kläger und H.S. verbanden sich 1991 zu einer einfachen
Gesellschaft zwecks Erwerbs und Überbauung von Grundstücken in Maienfeld
(GR). Gemäss Art. 9 des Gesellschaftsvertrages sollten Streitigkeiten aus
dem Konsortialverhältnis einem Schiedsgericht zur endgültigen Entscheidung
vorgelegt werden.

    Die Graubündner Kantonalbank gewährte der Gesellschaft im Oktober
1993 ein grundpfandgesichertes Darlehen über Fr. 800'000.--. Zwecks
Kreditamortisation und Tilgung der auflaufenden Zinsen stellte sie den
Gesellschaftern für das zweite Halbjahr 1994 je Fr. 12'280.-- in Rechnung.
Während H.S. bezahlte, blieb der Kläger seinen Anteil schuldig, worauf die
Kreditgeberin mit Schreiben vom 2. Februar 1995 die Betreibung androhte. Am
26. bzw. 27. Juli 1995 bestätigte sie, der Beklagte - Sohn von H.S. -
habe die Restschuld von Fr. 12'280.-- getilgt, und sie habe ihm dafür
die Forderung in voller Höhe abgetreten. Das Geld für den Forderungskauf
stellte H.S. dem Beklagten darlehensweise zur Verfügung.

    B.- In der Folge setzte der Beklagte Fr. 12'280.-- nebst Zins gegen den
Kläger in Betreibung. Einen dagegen erhobenen Rechtsvorschlag beseitigte
die Bezirksgerichtspräsidentin von Sargans mittels provisorischer
Rechtsöffnung am 5. September 1996. Daraufhin klagte der Kläger auf
Aberkennung der Forderung. Die Gerichtskommission Sargans schützte die
Klage mit Urteil vom 28. Oktober 1997. Eine Berufung des Beklagten wies
das Kantonsgericht (III. Zivilkammer) St. Gallen am 30. Dezember 1998 ab.

    C.- Der Beklagte beantragt dem Bundesgericht mit eidgenössischer
Berufung, das Urteil des Kantonsgerichts aufzuheben und die
Aberkennungsklage abzuweisen, eventualiter die Sache zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Der Kläger schliesst auf Abweisung der Berufung. Die Vorinstanz hat
sich nicht vernehmen lassen.

    Das Bundesgericht heisst die Berufung gut und weist die Klage ab.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 2

    2.- Das Kantonsgericht versagte dem Beklagten unter Verweis auf
das Rechtsmissbrauchsverbot den Rechtsschutz für die gegen den Kläger
in Betreibung gesetzte Forderung. Es erwog, die ganze Transaktion habe
darauf abgezielt, den Gesellschaftsvertrag zwischen H.S. und dem Kläger
mit Bezug auf die streitbetroffene Forderung zu umgehen. Ordentlicherweise
hätte die Kantonalbank ihre Forderung gegenüber H.S. als solidarisch
haftendem Gesellschafter durchsetzen und dieser seine Regressforderung im
Rahmen der Auseinandersetzung über den Gesellschaftsvertrag nach den darin
vereinbarten Regeln geltend machen müssen. Indem H.S. diesen gewillkürten
Normen ausgewichen sei, habe er gegen den im Gesellschaftsvertrag zum
Ausdruck gebrachten Willen und damit widersprüchlich gehandelt. Sein
Handeln und dasjenige des Beklagten seien als Einheit aufzufassen, weshalb
auch Letzterem vorzuwerfen sei, sich widersprüchlich verhalten zu haben,
weil einzig ein Weg gesucht worden sei, um an der früher erklärten
vertraglichen Bindung von H.S. mit dem Kläger vorbeizukommen.

    a) Art. 2 Abs. 2 ZGB sanktioniert Handlungen, die zwar im Einklang
mit der entsprechenden gesetzlichen Norm oder einer privatautonomen
Vertragsbestimmung stehen, aber ojektiv eine Verletzung des
Redlichkeitsstandards von Treu und Glauben darstellen und damit das
Vertrauen der Rechtsgenossen auf redliches und sachangemessenes Verhalten
enttäuschen (BRUNO HUWILER, Aequitas und bona fides als Faktoren der
Rechsverwirklichung, Beiheft 16 zur ZSR 1994, S. 57 f.). Als Fallgruppe
des Rechtsmissbrauchs erfasst Art. 2 Abs. 2 ZGB auch das widersprüchliche
Verhalten (venire contra factum proprium). Nach bundesgerichtlicher
Rechtsprechung gibt es allerdings keinen Grundsatz der Gebundenheit
an das eigene Handeln. Setzt sich jemand zu seinem früheren Verhalten
in Widerspruch, ist darin nur dann ein Verstoss gegen Treu und Glauben
zu erblicken, wenn das frühere Verhalten ein schutzwürdiges Vertrauen
begründet hat, welches durch die neuen Handlungen enttäuscht würde
(BGE 121 III 350 E. 5b; 115 II 331 E. 5a; 106 II 320 E. 3; MERZ, Berner
Kommentar, N. 401 f. zu Art. 2 ZGB). Der Vertrauende muss aufgrund des
geschaffenen Vertrauens Dispositionen getroffen haben, die sich nun als
nachteilig erweisen (BGE 121 III 350 E. 5b). Er lässt etwa rechtserhaltende
Fristen verstreichen, unterlässt die Regressnahme auf Dritte, weil er
mit der eigenen Inanspruchnahme nicht gerechnet hat oder nimmt andere
prozessrelevante oder tatsächliche Handlungen vor, die er ohne den vom
Partner geschaffenen Vertrauenstatbestand so nicht vorgenommen hätte
(MERZ, aaO, N. 407 f. zu Art. 2 ZGB; SOERGEL/TEICHMANN, N. 317 f., 321 zu §
242 BGB).

    b) Der Kläger und H.S. haften als einfache Gesellschafter nach den
soweit unangefochtenen Feststellungen des Kantonsgerichts solidarisch
für die bei der Kantonalbank aufgenommenen Kredite (Art. 544 Abs. 3
OR). Dieser stand es - wie das Kantonsgericht zutreffend feststellt -
auch frei, H.S. für den gesamten Zinsausstand per 31. Dezember 1994
in Höhe von Fr. 24'560.-- in die Pflicht zu nehmen (Art. 144 Abs. 1
OR). Durch die Zession der Restforderung von Fr. 12'280.-- an den
Beklagten und dem damit verbundenen Gläubigerwechsel hat sich an der
Situation insoweit nichts geändert, als beide Gesellschafter - neu -
dem Zessionar, jedoch für den gesamten restanzlichen Betrag solidarisch
verpflichtet sind. Seitens des Klägers ist weiter nicht bestritten,
dass im internen Verhältnis letztlich er den hälftigen Zinsausstand von -
in der Höhe unbestrittenen - Fr. 12'280.-- zu übernehmen hat. Für ihn
als Solidarschuldner hat sich durch die Zession im Aussenverhältnis
keine Änderung ergeben; statt der Kantonalbank leisten zu müssen, war
er nunmehr dem Beklagten verpflichtet. Letzterem gegenüber blieben ihm
sodann alle Einreden und Einwendungen erhalten, die bereits gegenüber
der Kantonalbank hätten erhoben werden können (Art. 169 OR). Die
Schuld erfuhr durch die Abtretung somit keine qualitative Änderung
(GAUCH/SCHLUEP/REY, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner
Teil, 7. Aufl., aaO Ziff. 3604). Nur unter der Hypothese, dass die
Kantonalbank den gesamten Forderungsbetrag bei H.S. eingefordert hätte und
diesem nach geleisteter Zahlung für den - im Umfang von Fr. 12'280.--
über seine gesellschaftsvertragliche Verpflichtung hinaus gehenden
- Mehrbetrag eine Regressforderung gegenüber der Gesellschaft bzw. dem
Kläger erwachsen wäre (Art. 537 Abs. 1 OR; Art. 148 Abs. 2 OR), hätte sich
bei anhaltender Weigerung desselben, die Regressforderung zu befriedigen,
die Schiedsklausel gemäss Ziff. 9 des Gesellschaftsvertrages aktualisiert
und hätte - statt der ordentlichen Gerichte - ein Schiedsrichter begrüsst
werden müssen. Ob die Regressforderung erst mit der Liquidation der
Gesellschaft fällig geworden wäre, kann im Übrigen offenbleiben (BGE 116
II 316 E. 2c; HANDSCHIN, Basler Kommentar, N. 5 zu Art. 537 OR). An der
unbestrittenen Verpflichtung des Klägers, intern die Hälfte der zur Deckung
der gesellchaftlichen Verbindlichkeiten notwendigen Mittel aufzubringen,
änderte dies nichts.

    Bei dieser Sachlage ist ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des
Beklagten nicht erstellt. Erst durch seine anhaltende Weigerung, trotz
ausgewiesener Verpflichtung die Hälfte der in ihrer Höhe unbestrittenen
Zinsausstände zu übernehmen, hat der Kläger überhaupt Anlass für die
streitige «Transaktion» gegeben. Durch die Zession wurde seine Position
als Solidarschuldner in keiner Art und Weise verschlechtert. Einerseits
könnte der Beklagte nach wie vor auf H.S. als solidarisch mithaftenden
Schuldner der Forderung greifen, womit dieselbe Situation wie vor
der Zession bestehen würde. Wenn er nun den Kläger ins Recht gefasst
hat, ändert dies nichts daran, dass dieses Recht auch der Kantonalbank
offengestanden wäre. Anderseits ist eine «Verschlechterung» der Position
des Klägers durch die - unstreitig auf Initiative von H.S. erfolgte -
Zession nur hypothetisch unter der Voraussetzung denkbar, dass - ohne
Zession - H.S. im Aussenverhältnis die gesamte Schuld getilgt hätte
und somit intern ein im Streitfall schiedsgerichtlich aufzulösendes
Regress-verhältnis entstanden wäre. Ihm als Folge der Zession nunmehr zum
Nachteil gereichende Dispositionen hat der Kläger indes nicht getroffen,
vielmehr die nach Treu und Glauben gebotenen - Zahlung des Ausstandes -
unterlassen, weshalb er seinerseits dem Beklagten keine Treuwidrigkeit
vorwerfen kann (MAYER-MALY, Basler Kommentar, N. 31 zu Art. 2 ZGB).

    c) Art. 2 ZGB ist eine Schutznorm. Ihr Absatz 2 setzt mit dem Verbot
des Rechtsmissbrauchs der formalen Rechtsordnung eine ethische materielle
Schranke, lässt scheinbares Recht dem wirklichen weichen, wo durch die
Betätigung eines behaupteten Rechts offenbares Unrecht geschaffen und dem
wirklichen Recht jeder Weg zur Anerkennung verschlossen würde (MERZ, aaO,
N. 21 zu Art. 2 ZGB; BAUMANN, Zürcher Kommentar, N. 14 zu Art. 2 ZGB). Aus
der Schutzfunktion der Ermächtigungsnorm aber folgt auch, dass in die
wertende Betrachtung nicht allein das Verhalten des Gläubigers unter
dem Blickwinkel des verfolgten Zwecks, des Interesses, des redlichen
Rechtserwerbs oder des widersprüchlichen Verhaltens einzubeziehen ist,
sondern auch der Schutzbedarf des Schuldners. Im Lichte solcher Abwägung
aber ist kein Rechtsmissbrauch und insbesondere kein offensichtlicher
auszumachen, wenn ein Gesellschafter auf einem formell zulässigen, für den
Vertragspartner einfacheren Weg zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten
im Aussenverhältnis angehalten wird, als ihn die interne Regressordnung
vorschreiben würde.

Erwägung 3

    3.- Nichts anderes ergibt sich, wenn die Transaktion vor dem
Hintergrund von Art. 2 Abs. 1 ZGB ausgeleuchtet und der vorinstanzlich
erhobene Vorwurf untersucht wird, der Beklagte habe mit seinem Vorgehen
bewusst gesellschaftsvertragliche Verpflichtungen zum Nachteil des
Klägers umgangen.

    a) Umgehungshandlungen, welche zwar den Wortlaut eingegangener
Verpflichtungen beachten, jedoch gegen deren Sinn und Zweck verstossen,
stellen ein illoyales Verhalten dar, einen Vertrauensbruch gegenüber
dem aus der Verpflichtung Berechtigten (RIEMER, Vertragsumgehungen
sowie Umgehungen anderer rechtsgeschäftlicher Rechte und Pflichten, ZSR
1982 S. 357 f., 372; BAUMANN, aaO, N. 55 f. zu Art. 2 ZGB). Derartige
Verpflichtungen können auch dadurch umgangen werden, dass extern
eine andere Person vorgeschoben wird, die intern an die Weisungen der
verpflichteten Person gebunden oder sonst mit ihr verbunden ist und an
ihrer Stelle die rechtsgeschäftlich verpönte Handlung vornimmt (RIEMER,
aaO, S. 365). In der Praxis wurden als Umgehungshandlungen gewertet, das
Umgehen eines Konkurrenzverbotes durch Betreiben der konkurrenzierenden
Tätigkeit mittels einer eigens dafür errichtenen Aktiengesellschaft, das
Umgehen einer statutarischen Stimmrechtsbeschränkung durch simulierte
Übertragung der Aktien an einen Dritten oder durch fiduziarische
Übertragung an eine Bank mit entsprechender Rückgabeverpflichtung
(RIEMER, aaO, mit Hinweisen). Anerkannt ist sodann, dass die rechtliche
Selbständigkeit juristischer Personen dann nicht zu beachten ist, wenn sie
im Einzelfall treuwidrig - etwa zur Vertragsumgehung - geltend gemacht wird
(BGE 113 II 31 E. 2c).

    b) Beim Umgehungsgeschäft wollen die Beteiligten durch die Art der
Rechtsgestaltung eine gesetzliche oder rechtsgeschäftliche Regelung
umgehen. Seine Zulässigkeit hängt vom Inhalt der Regelung ab, die
umgangen werden soll (FLUME, Das Rechtsgeschäft, in: Allg. Teil des
bürgerlichen Rechts, Bd. II, S. 408), von einem teleologischen Verständnis
der umgangenen Gesetzes- oder Vertragsnorm (KRAMER, Berner Kommentar,
N. 145 zu Art. 18 OR; MERZ, aaO, N. 90 und 94 zu Art. 2 ZGB; BAUMANN,
aaO, N. 53 f. zu Art. 2 ZGB; DESCHENAUX, SPR II, S. 157). Entweder
ist die umgangene Gesetzes- oder Vertragsbestimmung nach ihrem Sinn
und Zweck auch auf das Umgehungsgeschäft anwendbar, dann untersteht
ihr auch dieses. Oder die umgangene Bestimmung ist nach ihrem Sinn und
Zweck auf das Umgehungsgeschäft nicht anwendbar, dann bleibt dieses ihr
entzogen und wirksam (JÄGGI/GAUCH, Zürcher Kommentar, N. 171 zu Art. 18
OR). Zur Beantwortung der Umgehungsfrage ist dabei stets eine Prüfung und
Wertung aller Umstände des Einzelfalls erforderlich, wobei sich auch als
Ermessensfrage stellen kann, ob in concreto eine Umgehung zu bejahen oder
zu verneinen ist (RIEMER, aaO, S. 363).

    c) Vorliegend entfällt eine verpönte Vertragsumgehung, weil die
Verletzung eines Ziel- oder Zweckverbotes nicht auszumachen ist (dazu
KRAMER, aaO, N. 265 zu Art. 19-20 OR). Wohl hätte H.S., die Zahlung
der gesamten Zinssausstände vorausgesetzt, seinen Regressanspruch
gegen den Kläger allenfalls erst in der Liquidation der Gesellschaft
in einem Schiedsverfahren geltend machen können. Eine Verpflichtung,
die Ausstände gegenüber der Kantonalbank vollumfänglich zu tilgen, hatte
er aber gegenüber der Gesellschaft nicht, war er im internen Verhältnis
doch lediglich gehalten, die Hälfte der nicht mehr mittels Fremdkapital
zu deckenden Verbindlichkeiten der Gesellschaft zu übernehmen. Zutreffend
macht der Beklagte geltend, dass sich vielmehr der Kläger vertragswidrig
verhielt, als er sich trotz entsprechender Aufforderung der Kantonalbank
weigerte, die Hälfte der Zinsen und Amortisationen für das zweite
Halbjahr 1994 zu bezahlen. Zudem änderte der Gläubigerwechsel an der
(Solidar-)Schuldnerschaft des Klägers nichts. Der Nachteil, sich nicht
in einem allfälligen Schiedsverfahren der Forderung erwehren zu können,
wäre ihm auch dann erwachsen, wenn die Kantonalbank ihre Forderung
an einen Dritten zediert hätte. Es fehlt somit an einem eigentlichen
Umgehungstatbestand, zumal ohnehin fraglich bleibt, ob sich der
vertragswidrig handelnde Kläger überhaupt auf illoyales Verhalten des
Beklagten bzw. des hinter diesem stehenden H.S. berufen kann (MAYER-MALY,
aaO, N. 31 zu Art. 2 ZGB; MERZ, aaO, N. 541 zu Art. 2 ZGB).