Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 125 III 241



125 III 241

40. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 17. Juni 1998 i.S. WRH
Marketing AG und Ferag Maschinenbau GmbH gegen Grapha Holding AG (Berufung)
Regeste

    Patentnichtigkeitsklage (Art. 26 ff. PatG); materielle Rechtskraft.

    Bei einer Patentnichtigkeitsklage ist die materielle Rechtskraft
nicht auf die geltend gemachten Nichtigkeitsgründe beschränkt, sondern
sie erstreckt sich grundsätzlich auf alle gesetzlichen Nichtigkeitsgründe
(Änderung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    Die RMO Reist Marketing Organisation AG (heute: WRH Marketing AG)
mit Sitz in Hinwil, die Ferag Maschinenbau GmbH mit Sitz in Mölkau,
Deutschland, sowie die Ferag AG und die Ferag Holding AG, je mit Sitz
in Hinwil, gehören zum Ferag- Konzern, der von Walter Reist aufgebaut
worden ist. Diese Gesellschaften befassen sich mit der Herstellung und
dem Vertrieb von Sammelheftern (Maschinen für Grossdruckereien). Sie sind
Konkurrentinnen der Grapha Holding AG mit Sitz in Hergiswil bzw. der von
dieser beherrschten Gesellschaften. Die Grapha Holding AG ist Inhaberin des
Schweizer Patentes CH PS 667 621, das einen Sammelhefter zum Gegenstand hat
und nach Meinung der Patentinhaberin von Gesellschaften des Ferag-Konzerns
in der Vergangenheit verletzt worden ist und weiterhin verletzt wird.

    Am 7. Juni 1990 reichte die Grapha Holding AG beim Handelsgericht
des Kantons Zürich Klage ein gegen die Ferag AG wegen Verletzung
ihres Patentes. Die Beklagte erhob Widerklage auf Feststellung der
Nichtigkeit des Streitpatentes. Mit Beschluss vom 16. Dezember 1991 trat
das Handelsgericht auf die Hauptklage nicht ein und nahm Vormerk vom
Rückzug der Widerklage. Der Beschluss ist in Rechtskraft erwachsen.

    Im Dezember 1994 erhoben die RMO Reist Marketing Organisation AG und
die Ferag Maschinenbau GmbH beim Kantonsgericht Nidwalden Klage gegen die
Grapha Holding AG mit dem Antrag, es sei festzustellen, dass das Schweizer
Patent CH PS 667 621 hinsichtlich der Patentansprüche 1 bis 4 nichtig sei.
Die Beklagte beantragte Nichteintreten auf die Klage mit der Begründung,
dieser stehe die materielle Rechtskraft des Beschlusses des Handelsgerichts
des Kantons Zürich vom 16. Dezember 1991 entgegen.

    Mit Urteil vom 9. Oktober 1996 trat das Kantonsgericht Nidwalden auf
die Klage nicht ein. Es bejahte das Vorliegen einer abgeurteilten Sache,
weil zum einen der eingeklagte Anspruch mit jenem identisch sei, der mit
der Widerklage vor dem Handelsgericht des Kantons Zürich geltend gemacht
worden sei, und zum andern den Klägerinnen Rechtsmissbrauch vorzuhalten
sei, soweit sie sich auf das Fehlen der Parteiidentität beriefen.

    Die Klägerinnen haben das Urteil des Kantonsgerichtes mit Berufung
angefochten, die vom Bundesgericht abgewiesen wird.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach der Praxis des Bundesgerichts bestimmt das Bundesrecht über
die materielle Rechtskraft, das heisst die Verbindlichkeit eines Urteils
für spätere Prozesse, soweit der zu beurteilende Anspruch auf Bundesrecht
beruht. Eine abgeurteilte Sache liegt vor, wenn der streitige Anspruch
mit einem schon rechtskräftig beurteilten identisch ist. Dies trifft zu,
wenn der Anspruch dem Gericht aus demselben Rechtsgrund und gestützt
auf den gleichen Sachverhalt erneut zur Beurteilung unterbreitet wird
(BGE 119 II 89 E. 2a S. 90 mit Hinweisen; 121 III 474 E. 4a S. 477;
123 III 16 E. 2a S. 18). Mit der Berufung wird vorgebracht, es fehle
im vorliegenden Fall die Anspruchsidentität, weil im Verfahren vor dem
Handelsgericht des Kantons Zürich andere Patentnichtigkeitsgründe geltend
gemacht worden seien.

    a) Die Vorinstanz hat auf eine auf das Jahr 1906 zurückgehende
Rechtsprechung des Bundesgerichts abgestellt, wonach sich die
Anspruchsidentität bei der Patentnichtigkeitsklage aufgrund der geltend
gemachten Nichtigkeitsgründe bestimmt, weshalb keine abgeurteilte Sache
vorliegt, wenn die gleiche Klagepartei im späteren Verfahren andere
Nichtigkeitsgründe als im früheren behauptet (BGE 32 I 161 E. 3 S. 167;
bestätigt in BGE 71 II 39 E. 2 S. 41). Diese Praxis ist in der neueren
schweizerischen Lehre überwiegend kritisiert worden (kritisch: MAX KUMMER,
Das Klagerecht und die materielle Rechtskraft im schweizerischen Recht,
Bern 1954, S. 84 ff.; BLUM/PEDRAZZINI, Das schweizerische Patentrecht, Band
2, 2. Auflage, Bern 1975, S. 196 ff.; ALOIS TROLLER, Immaterialgüterrecht,
Band II, 3. Auflage, Basel 1985, S. 1084; LUCAS DAVID, in: Schweizerisches
Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Band I/2, Der Rechtsschutz im
Immaterialgüterrecht, Basel 1992, S. 40 f.; vgl. auch EUGÈNE BRUNNER,
Der Patentnichtigkeitsprozess im schweizerischen Recht, SMI 1995, S. 19
f.; zustimmend: WEIDLICH/BLUM, Das schweizerische Patentrecht, Erste
Lieferung, Bern 1934, S. 306 f.; KAMEN TROLLER, Manuel du droit suisse
des biens immatériels, Band II, 2. Auflage, Basel 1996, S. 1181).

    Ausgangspunkt der Kritik ist die Auffassung, dass die
Patentnichtigkeitsklage feststellender und nicht gestaltender Natur ist und
ihr eine individualisierte Rechtsbehauptung zugrunde liegt, nämlich jene,
dass ein bestimmtes Patentrechtsverhältnis nicht vorliege bzw. nicht habe
entstehen können (KUMMER, aaO, S. 84 f.; BLUM/PEDRAZZINI, aaO, S. 196).
Gegen die Rechtsprechung des Bundesgerichts wird zudem eingewendet, sie
führe zu unpraktischen, der Prozessökonomie widersprechenden Ergebnissen,
weil die beklagte Partei, um ein Urteil über alle Nichtigkeitsgründe
zu erhalten, unter Umständen gezwungen sei, nicht nur die Abweisung
der negativen Feststellungsklage zu beantragen, sondern Widerklage auf
positive Feststellung zu erheben und hiebei das Nichtbestehen aller
Nichtigkeitsgründe geltend zu machen (KUMMER, aaO, S. 87). Gegen die
Praxis des Bundesgerichts wird schliesslich vorgebracht, dass sie in Bezug
auf die Bestimmung des Umfangs der Rechtskraft zu Problemen führen könne,
weil sich die einzelnen Nichtigkeitsgründe hinsichtlich ihres Sachverhaltes
häufig nicht scharf trennen liessen (ALOIS TROLLER, aaO, S. 1084; KUMMER,
aaO, S. 89 f.).

    b) Die patentrechtliche Nichtigkeitsklage ist auch nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts eine negative Feststellungsklage und
keine Gestaltungsklage (BGE 120 II 357 E. 2a S. 361; in diesem Sinne schon
BGE 32 I 161 E. 3 S. 166). Sie hat die Funktion, eine bereits bestehende
Rechtslage vom Gericht klären zu lassen (KUMMER, aaO, S. 73 f.; vgl.
auch STAEHELIN/SUTTER, Zivilprozessrecht, § 13 Rz. 15 f. und 23). Richtig
ist sodann, dass ihr ein individualisiertes Rechtsbegehren zugrunde
liegt, nämlich jenes auf Feststellung der Nichtigkeit eines bestimmten
Patentes, weshalb auch der Klageantrag regelmässig entsprechend formuliert
wird. Das war auch im früheren Verfahren vor dem Handelsgericht der Fall,
wo die Ferag AG Widerklage auf Feststellung der Nichtigkeit des Schweizer
Patentes CH PS 667 621 erhoben hatte. Im vorliegenden Verfahren haben die
Klägerinnen ihren Antrag zwar enger gefasst, indem sie das Rechtsbegehren
stellten, dass dieses Patent nur hinsichtlich der Patentansprüche 1 bis 4
als nichtig festzustellen sei. Im Ergebnis stimmt indessen der spätere mit
dem früheren Antrag überein, da die Klägerinnen davon ausgehen, dass die
Nichtigkeit der Patentansprüche 1 bis 4 auch jene der davon abhängigen
Patentansprüche 5 bis 17 zur Folge haben müsste, womit das Patent als
Ganzes nichtig wäre. Das jetzige Rechtsbegehren der Klägerinnen ist
deshalb als mit dem früheren identisch zu betrachten.

    c) Das Bundesgericht hat in BGE 32 I 161 E. 3 S. 167 zur Begründung
seiner Rechtsprechung auf eine damals in der deutschen Lehre vertretene
Meinung verwiesen (nämlich auf J. KOHLER, Handbuch des Deutschen
Patentrechts in rechtsvergleichender Darstellung, Mannheim 1900,
S. 387). Danach wird die Nichtigkeitsklage charakterisiert durch die
geltend gemachten Nichtigkeitsgründe, wobei speziell definiert wird,
was als einzelner bzw. einheitlicher Klagegrund zu gelten hat. Die
Komplexität der einzelnen Nichtigkeitsgründe macht es nach diesem
Autor «im Interesse der Klarheit» nötig, dass eine Trennung in mehrere
Nichtigkeitsklagen möglich sein muss. Durch die Erhebung einer positiven
Feststellungsklage kann die beklagte Partei den Nichtigkeitskläger
allerdings dazu zwingen, sämtliche Nichtigkeitsgründe geltend zu machen;
nach Gutheissung der positiven Feststellungsklage ist die gleiche
Partei mit jeder weiteren Nichtigkeitsklage ausgeschlossen (KOHLER, aaO,
S. 388). Auch nach heutiger deutscher Lehre und Rechtsprechung bewirkt
die Abweisung der Nichtigkeitsklage nur Rechtskraft hinsichtlich der
vom Kläger geltend gemachten Klagegründe, wobei aber der eine Mehrzahl
einzelner Nichtigkeitsgründe umfassende Nichtigkeitsgrund der mangelnden
Patentfähigkeit nach § 22 Abs. 1 in Verbindung mit § 21 Abs. 1 Nr. 1
des Deutschen Patentgesetzes (DPatG) einen einheitlichen Klagegrund
darstellt (BENKARD/ROGGE, Patentgesetz, Gebrauchsmustergesetz, 9. Auflage,
München 1993, N. 10 und 68 zu § 22 PatG; BERNHARDT/KRASSER, Lehrbuch des
Patentrechts, 4. Auflage, München 1986, S. 436 und 440 f.; vgl. auch GAUL,
Patentnichtigkeitsklage und Rechtskraft, GRUR 1965, S. 337 ff.).

    d) Mit der früheren Praxis des Bundesgerichts ist nicht berücksichtigt
worden, dass die Umschreibung der einzelnen oder einheitlichen Klagegründe
weitgehend auf die nationale Gesetzgebung abstellt und deshalb eine
Übernahme der Lehre Kohlers davon hätte abhängig gemacht werden müssen,
dass das schweizerische Patentgesetz in Bezug auf die Nichtigkeitsgründe
in inhaltlicher und systematischer Hinsicht genau mit dem deutschen
übereinstimmt. Das war aber schon 1906 nicht der Fall, und dabei ist
es - trotz sog. Harmonisierung des schweizerischen Patentrechts durch
Angleichung namentlich an das Europäische Patentübereinkommen (vgl. BGE
120 II 71 E. 2 S. 73) - bis heute geblieben. Das zeigt sich gerade bei
den Nichtigkeitsgründen gemäss den §§ 1-5 DPatG, die nach deutscher
Lehre und Praxis einen einheitlichen Klagegrund bilden. Zwar werden auch
im schweizerischen Patentgesetz die Nichtigkeitsgründe nach Art. 1 und
Art. 1a in Art. 26 Abs. 1 Ziff. 1 zusammengefasst. Separat aufgezählt
werden indessen in Ziff. 2 die Nichtigkeitsgründe gemäss Art. 2 PatG,
die teilweise (lit. a) jenen von § 2 Nr. 1 DPatG (Verstoss gegen die
guten Sitten bzw. die öffentliche Ordnung) entsprechen. Die ohnehin als
problematisch betrachtete Umschreibung des einheitlichen Klagegrundes
(dazu GAUL, aaO, S. 338 f.) müsste somit für das schweizerische Recht
anders vorgenommen werden, wobei auch zu bedenken wäre, dass dafür in der
deutschen Lehre teilweise auf verfahrensrechtliche Überlegungen abgestellt
wird (vgl. BENKARD/ROGGE, aaO, N. 10 zu § 22), was für das schweizerische
Recht angesichts der Vielfalt der kantonalen Verfahrensordnungen
zusätzliche Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Schliesslich wurde
mit der früheren Praxis des Bundesgerichts auch nicht berücksichtigt,
dass die Patentnichtigkeitsklage im deutschen Recht im Gegensatz zum
schweizerischen als Popularklage ausgestaltet ist (dazu BGE 116 II
196 E. 2a S. 199). Dem liegt der gesetzgeberische Wille zu Grunde, das
Interesse der Allgemeinheit an der Nichtigerklärung eines Patentes höher
zu werten als jenes des Patentinhabers an der ungestörten Sondernutzung
am Patentgegenstand, weshalb die Erhebung von Patentnichtigkeitsklagen
tendenziell gefördert werden soll. Darin ist letztlich die Begründung für
die deutsche Lehre und Rechtsprechung zu sehen (GAUL, aaO, S. 339 f.),
die aber in dieser Form für das schweizerische Recht nicht gelten kann.

    Gegen die Beibehaltung der früheren Praxis sprechen sodann die
in der zitierten schweizerischen Literatur aufgezählten praktischen
und prozessökonomischen Gründe. So trifft zu, dass in den Klage-
oder Urteilsbegründungen oft nicht klar zwischen den verschiedenen
Nichtigkeitsgründen unterschieden wird und es in diesen Fällen schwierig
oder gar unmöglich ist, nachträglich zur Bestimmung der materiellen
Rechtskraft festzustellen, welche Nichtigkeitsgründe von einer Partei
geltend gemacht oder in einem Gerichtsentscheid verneint worden sind. Als
prozessökonomisch nachteilig ist sodann der - bereits von Kohler selbst
hervorgehobene - Umstand zu werten, dass die beklagte Partei unter
Umständen zur Erhebung einer Widerklage auf positive Feststellung gezwungen
ist, falls sie ein Urteil über alle Nichtigkeitsgründe erhalten will. Dies
lässt sich vermeiden, wenn die auf Patentnichtigkeit klagende Partei mit
einem Entscheid zu rechnen hat, dem umfassende materielle Rechtskraft
zukommt, denn dadurch wird sie im eigenen Interesse veranlasst sein,
sämtliche in Frage kommenden Nichtigkeitsgründe geltend zu machen
(vgl. BLUM/PEDRAZZINI, aaO, S. 196 f.). Nach einem allgemeinen, die
materielle Rechtskraft einschränkenden Grundsatz bleibt indes die spätere
Geltendmachung neuer erheblicher Tatsachen vorbehalten, soweit diese erst
nach dem Prozess eingetreten sind (BGE 112 II 268 E. I/1b S. 272; 97 II
390 E. 4 S. 397 mit Hinweisen; 71 II 282 S. 285; BLUM/PEDRAZZINI, aaO, S.
201). Bei der Patentnichtigkeitsklage ist allerdings zu beachten, dass
es um Sachverhalte gehen kann, die einer rechtserheblichen Veränderung
aus materiellrechtlichen Gründen nicht zugänglich sind (KUMMER, aaO,
S. 130 Fussnote 1; zur Möglichkeit der Revision nach kantonalem Recht:
ALOIS TROLLER, aaO, S. 1084). Das Thema braucht indes hier nicht weiter
erörtert zu werden, da mit der Berufungsschrift keine neuen erheblichen
Tatsachen behauptet werden.

    e) Aus den aufgezählten Gründen ist die bisherige Rechtsprechung
(BGE 32 I 161 E. 3 S. 167 und 71 II 39 E. 2 S. 41) dahingehend zu ändern,
dass die materielle Rechtskraft bei einer Patentnichtigkeitsklage nicht auf
die geltend gemachten Nichtigkeitsgründe beschränkt ist, sondern sich nach
Massgabe des Rechtsbegehrens oder des Gerichtsentscheides im Vorprozess
auf alle gesetzlichen Nichtigkeitsgründe erstreckt. Für den vorliegenden
Fall hat das zur Folge, dass die Anspruchsidentität zu bejahen ist, ohne
dass geklärt werden muss, ob die Ferag AG mit ihrer Widerklage vor dem
Handelsgericht des Kantons Zürich die gleichen Nichtigkeitsgründe geltend
gemacht hat wie die Klägerinnen im jetzigen Verfahren.