Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 V 389



124 V 389

67. Auszug aus dem Urteil vom 28. Dezember 1998 i.S. I. gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 4 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Werden entscheidwesentliche
Punkte einer Parteiverhandlung nicht in einem Verhandlungsprotokoll
festgehalten, stellt dies eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- In formellrechtlicher Hinsicht rügt der Beschwerdeführer eine
Verletzung des aus Art. 4 BV fliessenden Anspruchs auf rechtliches Gehör,
indem die Vorinstanz es anlässlich der mündlichen Verhandlung vom 29.
Januar 1998 unterlassen habe, ein Protokoll zu erstellen. Weil der
Anspruch auf rechtliches Gehör formeller Natur ist und seine Verletzung
grundsätzlich die Aufhebung des angefochtenen Entscheids nach sich zieht,
ist diese Rüge vorweg zu prüfen.

Erwägung 2

    2.- Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör im kantonalen
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren bestimmt sich in erster Linie nach
den anwendbaren Verfahrensvorschriften des Bundes und des Kantons.

    Für das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren in Streitigkeiten aus
dem Bereich der obligatorischen Unfallversicherung schreibt Art. 108
Abs. 1 UVG vor, dass die Kantone das Verfahren regeln, welches den
in lit. a bis i der Bestimmung genannten Anforderungen zu genügen
hat. Bundesrechtliche Anforderungen hinsichtlich der hier streitigen
Protokollierungspflicht lassen sich daraus nicht ableiten. Auch dem
anwendbaren kantonalen Verfahrensrecht (Gesetz vom 16. Mai 1965 über die
Verwaltungsrechtspflege des Kantons St. Gallen) lassen sich diesbezüglich
keine näheren Vorschriften entnehmen. Zu prüfen ist daher lediglich,
inwieweit sich eine Pflicht zur Protokollführung aus Art. 4 BV, allenfalls
auch aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK, ergibt.

Erwägung 3

    3.- a) Es entspricht einem aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör
abgeleiteten allgemeinen Verfahrensgrundsatz, dass entscheidrelevante
Tatsachen und Ergebnisse schriftlich festzuhalten sind (vgl. ROLF TINNER,
Das rechtliche Gehör, in: ZSR 83/1964 II S. 346 ff., insbesondere
S. 357 f.). Dazu gehört auch die Pflicht zur Protokollführung über
entscheidwesentliche Abklärungen, Zeugeneinvernahmen und Verhandlungen
im Rechtsmittelverfahren. In der Literatur wird diese Pflicht teils
unmittelbar aus dem Grundgedanken des rechtlichen Gehörs abgeleitet (JÖRG
PAUL MÜLLER, Die Grundrechte der schweizerischen Bundesverfassung, Bern
1991, S. 282), teils wird sie aus dem Akteneinsichtsrecht als Teilgehalt
des Anspruchs auf rechtliches Gehör hergeleitet in der Meinung, dass vom
Akteneinsichtsrecht nur dann ordnungsgemäss Gebrauch gemacht werden kann,
wenn über alle relevanten Vorkommnisse Akten erstellt werden (GEORG MÜLLER,
in: Kommentar BV, N. 111 zu Art. 4 BV; KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren
und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Auflage, Zürich 1998, S. 108 Rz.
297).

    b) Das Schweizerische Bundesgericht hat in einem älteren Entscheid eine
allgemeine Protokollierungspflicht für das Verwaltungsverfahren verneint
(BGE 74 I 10). In BGE 106 Ia 73 hat es entschieden, dass die wesentlichen
Ergebnisse eines Augenscheins in einem Protokoll, Aktenvermerk oder
wenigstens in den Erwägungen des Entscheids klar festzuhalten sind. Im
übrigen hat es die Protokollierungspflicht von den konkreten Umständen
des Einzelfalls abhängig gemacht.

Erwägung 4

    4.- a) Was die hier streitige Protokollierung einer Gerichtsverhandlung
betrifft, erschöpft sich der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht darin,
dass sich die Parteien zur Sache äussern und Beweisanträge stellen
können. Das rechtliche Gehör ist nur dann gewahrt, wenn das Gericht
die Ausführungen und Eingaben auch tatsächlich zur Kenntnis nimmt und
pflichtgemäss würdigt (vgl. RUTH HERZOG, Art. 6 EMRK und kantonale
Verwaltungsrechtspflege, Diss. Bern 1995, S. 324). Dafür besteht
aber nur Gewähr, wenn die Ausführungen und Eingaben der Parteien und
allfälliger Dritter (Zeugen, Sachverständige usw.) zu Protokoll genommen
werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass insbesondere sämtliche
Parteiäusserungen zu protokollieren sind. Das Protokoll kann sich
auf die für die Entscheidfindung im konkreten Fall wesentlichen Punkte
beschränken. In diesem Umfang besteht eine Protokollierungspflicht nicht
nur aus der Sicht der Parteien, sondern auch der am Entscheid beteiligten
Richter, namentlich wenn bestimmte Verfahrensschritte dem Präsidenten oder
einem delegierten Richter obliegen (nicht veröffentlichtes Urteil B. des
Schweizerischen Bundesgerichts vom 25. November 1987). Eines Protokolls
bedarf es schliesslich auch im Hinblick auf die allenfalls zum Entscheid
angerufene obere Instanz.

    b) Im vorliegenden Fall hat das kantonale Versicherungsgericht am 29.
Januar 1998 eine Parteiverhandlung durchgeführt, an welcher sich der
Beschwerdeführer, dessen Rechtsvertreter sowie der Rechtsvertreter der
Beschwerdegegnerin geäussert haben. Dabei wurden dem Beschwerdeführer
seitens der Vorinstanz Zusatzfragen gestellt; auch wurden die Parteien
dazu aufgefordert, zu bestimmten Punkten Stellung zu nehmen. Nach
den vom kantonalen Gericht nicht bestrittenen Ausführungen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde hatte die Parteiverhandlung zumindest
teilweise entscheidwesentliche Punkte zum Gegenstand. Das Gericht wäre
daher gehalten gewesen, diese in einem Verhandlungsprotokoll festzuhalten.
Indem es dies unterlassen hat, hat es den Beschwerdeführer im Anspruch
auf rechtliches Gehör verletzt.

    An diesem Ergebnis vermögen die Vorbringen der Vorinstanz in der
Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts zu ändern. Der
Umstand, dass der zuständige Referent während der Verhandlungen im Referat
oder Urteilsentwurf jeweils Randnotizen zu den angesprochenen Punkten
vornimmt, vermag ein formelles Protokoll schon deshalb nicht zu ersetzen,
weil die entsprechenden Bemerkungen - wie der vorliegende Fall zeigt -
nicht Bestandteil der Beschwerdeakten bilden und von den Parteien daher
nicht zur Kenntnis genommen werden können. Zudem vermögen Handnotizen
des Instruktionsrichters ein Verhandlungsprotokoll inhaltlich nicht
entbehrlich zu machen.

Erwägung 5

    5.- Zu prüfen bleibt, ob der streitige Verfahrensmangel im
letztinstanzlichen Verfahren geheilt werden kann.

    a) Nach der Rechtsprechung kann eine - nicht besonders schwerwiegende
(BGE 116 V 185 f. Erw. 1b mit Hinweisen) - Verletzung des rechtlichen
Gehörs als geheilt gelten, wenn der Betroffene die Möglichkeit erhält, sich
vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie die
Rechtslage frei überprüfen kann. Die Heilung eines - allfälligen - Mangels
soll aber die Ausnahme bleiben (BGE 124 V 183 Erw. 4a, 120 V 83 f. Erw. 2a,
118 V 315 Erw. 3c, 116 V 32 Erw. 3, 185 f. Erw. 1b, je mit Hinweisen).

    b) Der vorliegende Verfahrensmangel wiegt zwar insofern nicht
besonders schwer, als der Beschwerdeführer im letztinstanzlichen Verfahren
sämtliche Tatsachen und Einwendungen vor einer über umfassende Kognition
verfügenden richterlichen Behörde vorbringen kann (Art. 132 OG). Dem Eidg.
Versicherungsgericht ist es mangels eines entsprechenden Protokolls
indessen verwehrt, über die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in Kenntnis
der Ergebnisse der kantonalen Parteiverhandlung zu entscheiden. Weil
eine nachträgliche Beibringung des Protokolls ausgeschlossen ist, kann
der Mangel im letztinstanzlichen Verfahren nicht geheilt werden. Er lässt
sich auch nicht dadurch heilen, dass das Eidg. Versicherungsgericht eine
Parteiverhandlung anordnet (Art. 112 in Verbindung mit Art. 132 OG). Da
sich im übrigen das Interesse des Beschwerdeführers offenbar nicht auf
eine möglichst beförderliche Beurteilung der Ansprüche, sondern auf die
Durchsetzung eines in formeller Hinsicht korrekten Verfahrens richtet,
ist der angefochtene Entscheid praxisgemäss aufzuheben, ohne dass es
darauf ankäme, ob Aussicht auf einen materiell andern Entscheid besteht
(BGE 119 V 218 f. Erw. 6 mit Hinweisen). Die Sache ist daher an die
Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie eine ordnungsgemässe Verhandlung
durchführe und hierauf neu entscheide.