Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 V 372



124 V 372

63. Urteil vom 27. November 1998 i.S. M. gegen Helsana Versicherungen AG
und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 68 Abs. 1, Art. 105 Abs. 1 UVG; Art. 22a VwVG. Frage
offengelassen, ob der in Art. 22a VwVG geregelte Fristenstillstand auf
die Frist zur Einsprache gegen Verfügungen, die von einem nach Art. 68
Abs. 1 UVG zugelassenen Versicherer stammen, anwendbar ist.

    Art. 4 BV. Nimmt ein Versicherer einen Briefumschlag in Verletzung
der Aktenführungspflicht gemäss Art. 4 BV nicht zu den Akten, so hat
eine allfällige Beweislosigkeit der Rechtzeitigkeit nicht der Einsprecher
zu tragen.

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 29. Juli 1996 schloss die Helsana Versicherungen
AG (nachfolgend: Helsana) einen von M. am 28. Mai 1994 erlittenen Unfall
per 30. Juni 1996 ab und hielt fest, über dieses Datum hinaus würden
keine weiteren Leistungen mehr ausgerichtet. Mit Eingabe vom 30. August
1996 liess M. Einsprache erheben, auf welche die Helsana wegen Verspätung
mit Einspracheentscheid vom 20. Januar 1997 nicht eintrat.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom
25. November 1997 ab.

    C.- M. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag,
in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Beschwerdegegnerin
anzuweisen, auf die Einsprache vom 30. August 1996 einzutreten. (...).

    Helsana und Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Eingeschränkte Kognition; vgl. BGE 124 V 286 Erw. 1b).

Erwägung 2

    2.- a) Die Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 29. Juli 1996 ist dem
Beschwerdeführer am 31. Juli 1996 zugestellt worden. Die Einsprachefrist
von 30 Tagen gemäss Art. 105 Abs. 1 UVG lief am Freitag, 30. August 1996
ab. Fände der in Art. 22a VwVG geregelte Fristenstillstand auf Verfügungen
eines gestützt auf Art. 68 Abs. 1 UVG zugelassenen Versicherers Anwendung,
wäre die am 2. September 1996 bei der Beschwerdegegnerin eingegangene
(vom 30. August 1996 datierte) Einsprache ohne weiteres als rechtzeitig
zu betrachten.

    b) Indessen hat die Vorinstanz die Anwendung von Art. 22a VwVG
auf Einspracheverfahren von nach Art. 68 Abs. 1 UVG zugelassenen
Versicherern verneint. Dieser Schluss ergibt sich aus der - im Gegensatz
zur Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) - nicht erfolgten
Unterstellung der übrigen registrierten Versicherer unter das VwVG
(Art. 96 UVG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 lit. e und Art. 3 lit. a
VwVG; BGE 115 V 299 Erw. 2b; vgl. auch RKUV 1994 Nr. U 194 S. 209). Diese
Nichtanwendbarkeit von Art. 22a VwVG entspricht der in verschiedenen
Sozialversicherungszweigen herrschenden Rechtslage, wo es eidgenössische,
kantonale oder private Durchführungsstellen gibt, auf welche das VwVG,
kantonales Verwaltungsverfahrensrecht oder lediglich die allgemeinen
Verfahrensgrundsätze gemäss Art. 4 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK
anwendbar sind (MEYER-BLASER, Die Rechtspflege in der Sozialversicherung,
in: BJM 1989 S. 21 f.). Was den Bereich der Unfallversicherung anbelangt,
hat der Gesetzgeber in Art. 96 UVG die Verfahrensbestimmungen des
UVG auch für diejenigen Versicherer anwendbar erklärt, die nicht
dem VwVG unterstehen. In den folgenden Artikeln (Art. 97 ff.) hat der
Gesetzgeber einen Mindeststandard aufgestellt, z.B. in Art. 97 Abs. 1 UVG
(Fristwahrung), Art. 97 Abs. 2 UVG (Fristwiederherstellung), Art. 99 UVG
(Verfügung) und Art. 105 Abs. 1 UVG (30tägige Einsprachefrist), welche
für alle Versicherer - SUVA und übrige registrierte Unfallversicherer -
gelten. Gerade keinen solchen Mindeststandard hat der Gesetzgeber jedoch
für den Fristenstillstand aufgestellt, was im übrigen mit der Rechtslage
hinsichtlich des kantonalen Beschwerdeverfahrens übereinstimmt: Hier
ist die Regelung des Fristenstillstandes den Kantonen überlassen, was
zur Folge hat, dass eine Partei im kantonalen Gerichtsverfahren, je nach
örtlichem Gerichtsstand, vom Fristenstillstand profitieren kann oder nicht.
Dementsprechend hat das Eidg. Versicherungsgericht Art. 22a VwVG auf die
kantonalen Beschwerdeverfahren als nicht anwendbar erklärt (BGE 116 V 265;
RKUV 1994 Nr. U 194 S. 208; für den Bereich der Krankenversicherung [Art.
86 Abs. 1 KVG] Urteil C. vom 9. April 1998).

    Diese Rechtslage ist unter dem Gesichtswinkel der verfassungsmässigen
Rechtsgleichheit (Art. 4 Abs. 1 BV) als äusserst unbefriedigend zu
bezeichnen. Es liesse sich eine harmonisierende Anwendung von Art. 22a
VwVG in Erwägung ziehen, wie dies die Rechtsprechung z.B. bei der analogen
Anwendung von Art. 97 Abs. 2 AHVG im Bereich der Krankenversicherung
(RSKV 1981 Nr. 445 S. 80 f. Erw. 2) und der Arbeitslosenversicherung
(BGE 124 V 86 Erw. 3b) getan hat. Zu denken ist auch an Art. 1 Abs. 3
VwVG, dessen Wortlaut das Gericht nicht gehindert hat, den Kreis der für
die kantonalen Beschwerdebehörden massgeblichen Verfahrensregeln des
Bundesrechts auf die Art. 5, 33 und 45 VwVG auszudehnen, obwohl diese
Bestimmungen in Art. 1 Abs. 3 VwVG nicht enthalten sind (BGE 96 V 142
Erw. 1; vgl. auch betreffend Art. 35 OG und Art. 24 VwVG ARV 1991 Nr. 17
S. 124 Erw. 2a mit Hinweisen). Das Bedürfnis nach einer harmonisierenden
Gesetzesauslegung ist im vorliegenden Regelungszusammenhang insofern von
besonderer Bedeutung, als die Anwendbarkeit des Fristenstillstandes nach
Art. 22a VwVG ausschliesslich vom Umstand abhängig gemacht wird, welcher
Unfallversicherer die mit Einsprache anfechtbare Verfügung erlassen hat.
Dies erscheint um so bedenklicher, als der Gesetzgeber sonst mit dem Erlass
der Verfahrensvorschriften nach Art. 96 ff. UVG die Gleichbehandlung der
Versicherten erreichen wollte (Botschaft des Bundesrates vom 18. August
1976, BBl 1976 III 222; im gleichen Sinne GHÉLEW/RAMELET/RITTER,
Commentaire de la loi sur l'assurance-accidents [LAA], S. 264). Eine
unterschiedliche Anwendung der Fristenstillstandsregelung nach Art. 22a
VwVG je nachdem, gegen welchen Unfallversicherer sich die Einsprache
richtet, verträgt sich nicht mit dem Gebot rechtsgleicher Behandlung,
weil eine sachliche Begründung für die getroffene Unterscheidung nicht
ersichtlich ist (BGE 124 I 172 f. Erw. 2e mit Hinweisen).

    Die Frage der Anwendbarkeit von Art. 22a VwVG kann jedoch im
vorliegenden Fall offenbleiben, weil sich die Rechtzeitigkeit der vom
Beschwerdegegner erhobenen Einsprache aus den nachfolgenden Gründen ergibt.

Erwägung 3

    3.- a) Die Einsprache trägt das Datum des 30. August 1996 und ist nach
den Angaben des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers am gleichen Tag
uneingeschrieben der Post übergeben worden. Am darauffolgenden Montag,
dem 2. September 1996, ist die Einsprache bei der Beschwerdegegnerin
eingegangen, da darauf der Eingangsstempel vom 2. September 1996 angebracht
ist. Der zur Einsprache gehörige Briefumschlag ist nicht in den Akten und
nicht mehr auffindbar. Beschwerdegegnerin und Vorinstanz vertreten nun
die Auffassung, angesichts des Grundsatzes, wonach die Rechtzeitigkeit
eines Rechtsmittels mit Gewissheit feststehen müsse (BGE 119 V 7), könne
der Beschwerdeführer nicht beweisen, dass er die Einsprache am letzten
Tag der Frist, Freitag, den 30. August 1996, der Post übergeben habe.

    b) Der Standpunkt der Beschwerdegegnerin und der Vorinstanz geht fehl.
Gemäss Art. 4 BV hat der Betroffene das Recht, sich vor Erlass eines
in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern,
erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen,
mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung
wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum
Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu
beeinflussen (statt vieler BGE 124 I 51 Erw. 3a, 123 I 66 Erw. 2a,
123 II 183 f. Erw. 6c, 122 V 158 Erw. 1a, 121 V 152 Erw. 4a, je mit
Hinweisen). In diesem Sinne hat der Rechtsuchende u.a. Anspruch darauf, die
aus dem Poststempel folgende Vermutung verspäteter Postaufgabe mit allen
tauglichen Beweismitteln zu widerlegen, insbesondere auch durch Zeugen (BGE
115 Ia 12 oben mit Hinweis). Gegenstück dieses aus Art. 4 BV fliessenden
Akteneinsichts- und Beweisführungsrechts ist die Aktenführungspflicht
von Verwaltung und Behörden. Danach hat eine Behörde alles in den Akten
festzuhalten, was zur Sache gehört (BGE 115 Ia 99 Erw. 4c). Dazu zählen
in einem Einsprache- oder Beschwerdeverfahren aber auch die vollständigen
Briefumschläge, die rechtserhebliche Aktenstücke enthalten haben (nicht
veröffentlichtes Urteil M. vom 10. November 1993). Einem Briefumschlag
kann unter Umständen eine entscheidende Bedeutung zukommen, nicht
nur hinsichtlich der Rechtzeitigkeit, sondern etwa auch, wenn eine
Beschwerdeschrift nicht unterzeichnet, der Briefumschlag jedoch mit der
Unterschrift des Beschwerdeführers versehen ist (vgl. BGE 108 Ia 291 Erw.
2, 106 IV 67 Erw. 1 und ZAK 1985 S. 529). Wird bei rechtserheblichen
Aktenstücken der Briefumschlag nicht oder nur zum Teil zu den Akten
genommen, können möglicherweise wichtige Tatsachen nachträglich nicht mehr
bewiesen werden. Dies zeigt gerade der vorliegende Fall, in welchem der
Rechtsvertreter des Beschwerdeführers geltend macht, er habe die am 30.
August 1996 datierte Eingabe noch gleichentags der Post übergeben. Es
geht nun nicht an, in Verletzung der aufgrund von Art. 4 BV bestehenden
Aktenführungspflicht den Briefumschlag nicht zu den Akten zu nehmen und
hernach dem Beschwerdeführer entgegenzuhalten, er könne den Beweis für
die Rechtzeitigkeit der Postaufgabe nicht erbringen. Dieses Verhalten,
welches das Beweisführungsrecht nach Art. 4 BV verunmöglicht, widerspricht
auch dem Grundsatz von Treu und Glauben im Prozess. Daraus folgt,
dass der Beschwerdeführer die Nachteile der von ihm nicht verschuldeten
Beweislosigkeit nicht zu tragen und die Einsprache vom 30. August 1996
als rechtzeitig zu gelten hat.

Erwägung 4

    4.- (Kosten und Parteientschädigung)