Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 V 317



124 V 317

52. Urteil vom 5. August 1998 i.S. IV-Stelle des Kantons Appenzell
Ausserrhoden gegen W. und Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden
Regeste

    Art. 19 und 26bis IVG; Art. 8 IVV (in der bis 31. Dezember 1996
gültig gewesenen Fassung) und Art. 24 IVV; Art. 10 und 12 Abs. 2 SZV. Eine
Leistungspflicht der Invalidenversicherung fällt auch dann in Betracht,
wenn Vater oder Mutter die Sonderschulmassnahme an ihrem Kind erbringen und
die materiellen und formellen Voraussetzungen (Zulassungsvoraussetzungen)
erfüllt sind (Änderung der Rechtsprechung von EVGE 1962 S. 223).

Sachverhalt

    A.- Der am 24. Dezember 1985 geborene W. leidet an den Folgen eines
ätiologisch unklaren amblyopischen Suchnystagmus bei Opticushypoplasie
(Bericht des Dr. med. P. vom 5. Mai 1986). Schon beim Besuch des
Kindergartens ergaben sich aus dieser Sehbehinderung Schwierigkeiten,
weil W. wegen seiner Sehbeeinträchtigung in situativ bedingte
Panikzustände geriet, was ferner einen Verlust des Selbstwertgefühles und
Verhaltensauffälligkeiten (Nägelbeissen) bewirkte (Bericht des Dr. med. H.
vom 3. September 1992). Im Herbst 1992 erfolgte die Einschulung. Sein
Vater, Inhaber des aargauischen Lehrpatentes für Primarschulen und,
aufgrund berufsbegleitender Ausbildung am Heilpädagogischen Seminar Zürich,
im Besitze eines heilpädagogischen Diploms vom 15. August 1989, ersuchte
bei der Landesschulkommission Appenzell Ausserrhoden um die Bewilligung,
seinen Sohn privat zu Hause unterrichten zu dürfen, welchem Begehren der
Kanton am 21. September 1992 entsprach.

    Am 20. Januar 1995 ersuchte der Vater des Versicherten die IV-Stelle
des Kantons Appenzell Ausserrhoden um die Zusprechung von Beiträgen an
Massnahmen der Sonderschulung. Die IV-Stelle, welche dieses Gesuch dem
Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) zum Entscheid unterbreitete, lehnte
das Beitragsgesuch mit Verfügung vom 9. Februar 1996 weisungsgemäss
ab, nachdem das BSV in seiner Antwort vom 24. Januar 1996 auf die
Rechtsprechung hingewiesen hatte, wonach von den Eltern erteilter
Hausunterricht in den Rahmen ihrer Erzieherpflichten falle und keinen
Anspruch auf Sonderschulbeiträge begründe.

    B.- Das Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden hiess die
hiegegen eingereichte Beschwerde, nach Einholung einer ablehnenden
Vernehmlassung der Verwaltung, gut und wies die IV-Stelle an, nach
Vorliegen der kantonalen Bewilligung im Sinne der Erwägungen neu zu
verfügen (Entscheid vom 16. Oktober 1996).

    C.- Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag
auf Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides.

    Während sich der Versicherte nicht vernehmen lässt, schliesst das
BSV auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    D.- Am 8. Mai 1998 unterbreitete der Instruktionsrichter der
Erziehungs- und Kulturdirektion des Kantons Appenzell Ausserrhoden die
Anfrage, ob im Schreiben vom 21. September 1992 eine Sonderschulzulassung
im Einzelfall oder lediglich eine aufgrund der kantonalen Schulgesetzgebung
erteilte Bewilligung zu häuslichem Privatunterricht zu erblicken sei.

    Die Erziehungsdirektion antwortete am 27. Mai 1998.

    Im Hinblick auf diese Aktenergänzung wurde ein zweiter Schriftenwechsel
durchgeführt, in dessen Verlauf seitens des Versicherten dem kantonalen
Gerichtsentscheid beigepflichtet und am Antrag auf Zusprechung von
Beiträgen der Invalidenversicherung in Ergänzung zum bewilligten
privaten häuslichen Unterricht festgehalten wird, die IV-Stelle auf eine
Stellungnahme verzichtet und das BSV auf seine Vernehmlassung vom 4. März
1997 verweist.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wie die Beschwerdeführerin in der vorinstanzlichen Vernehmlassung
ausdrücklich anerkannt hat, ist mit dem kantonalen Gericht davon
auszugehen, dass der Beschwerdegegner aufgrund seiner Sehbehinderung
und der damit verbundenen weiteren Störungen nicht in der Lage
ist, dem öffentlichen Volksschulunterricht auf Primarschulstufe
zu folgen. Die Sonderschulunterrichtsbedürftigkeit (BGE 109 V 12
Erw. 1a) als leistungsspezifische Invalidität und damit materielle
Beitragsanspruchsvoraussetzung im Sinne von Art. 19 Abs. 1 und Abs. 2 lit.
a IVG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 lit. a IVV und Art. 9 Abs. 1 lit. g
und Abs. 2 IVV (in den bis 31. Dezember 1996 gültig gewesenen Fassungen)
ist damit erstellt.

Erwägung 2

    2.- a) Streitig und zu prüfen ist in erster Linie, ob der Anspruch
auf Beiträge an den Sonderschulunterricht deswegen dahinfällt,
weil der Beschwerdegegner durch seinen Vater zu Hause unterrichtet
wird. Diese Frage ist vom BSV in seiner Antwort vom 24. Januar 1996
an die Beschwerdeführerin unter Berufung auf EVGE 1962 S. 223 bejaht
worden. Die IV-Stelle beruft sich in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
erneut sinngemäss auf diese Rechtsprechung, wenn sie geltend macht, die
Invalidenversicherung decke grundsätzlich nur die invaliditätsbedingten
Mehrkosten einer Sonderschulung, welche aber nicht anfallen würden,
wenn die Sonderschulung durch den Vater des Versicherten erfolge.

    An der EVGE 1962 S. 223 zugrunde liegenden Betrachtungsweise kann mit
der Vorinstanz nicht festgehalten werden. In den über drei Jahrzehnten,
welche seit Erlass dieses Urteiles ergangen sind, haben sich die Konzeption
des sozialen Schutzes einerseits, das Familienrecht anderseits wesentlich
geändert mit der Folge, dass der dem behinderten Kind zustehende
invalidenversicherungsrechtliche Beitragsanspruch nicht mehr mit dem
Hinweis auf die Erziehungspflicht der Eltern verneint werden kann (vgl.
auch Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20.
November 1989, von der Schweiz ratifiziert am 24. Februar 1997 und für
die Schweiz in Kraft getreten am 26. März 1997 [vgl. die Erwähnung des
Bundesbeschlusses vom 13. Dezember 1996 über die Genehmigung des Abkommens
in BBl 1996 V 1014; Botschaft des Bundesrates vom 29. Juni 1994, BBl 1994 V
1]). Ein Ausschluss der Beitragsberechtigung nach Massgabe der materiellen
Bestimmungen ergibt sich weder aus Art. 19 IVG noch den Art. 8 ff. IVV
noch aus der gestützt auf Art. 26bis Abs. 2 IVG und Art. 24 IVV erlassenen
Sonderschulzulassungsverordnung (SZV). In Änderung von EVGE 1962 S. 223
ist somit festzuhalten, dass eine Leistungspflicht der IV selbst dann
in Betracht fällt, wenn Vater oder Mutter die Sonderschulmassnahme an
ihrem Kind erbringen und die materiellen und formellen Voraussetzungen
(Zulassungserfordernis) erfüllt sind. Wegleitend für den Entscheid, ob
in einer solchen Situation die Invalidenversicherung Beiträge zu leisten
habe, wird in jedem Einzelfall das Interesse des Kindes sein, das, je
nach den Verhältnissen, auch eine Ablehnung des Hausunterrichts durch
einen Elternteil, d.h. die Ablehnung der IV-Beiträge daran, zu begründen
vermag. In allen solchen Fällen ist auch eine Kontrolle über den Verlauf
des Hausunterrichts durchzuführen und es ist, je nach dessen Verlauf,
auf die gesprochene Beitragsberechtigung revisionsweise zurückzukommen
(Art. 41 IVG analog; BGE 113 V 27 Erw. 3b).

    b) Im vorliegenden Fall steht, nach Lage der Akten und
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten, nichts entgegen, unter dem
Gesichtspunkt des Kindeswohls der vom Vater des Beschwerdegegners
durchgeführten Sonderschulmassnahme (häuslicher Sonderschulunterricht)
die Beitragsberechtigung zuzuerkennen. Sämtliche Verfahrensbeteiligten
sind sich darüber einig, dass der Vater des Beschwerdegegners im Hinblick
auf seine Ausbildung (Lehrerpatent; heilpädagogischer Abschluss) die
Voraussetzungen für einen zu Hause durchgeführten Sonderschulunterricht
erfüllt, weshalb es sich unter dem Gesichtswinkel der Art. 19 IVG und
Art. 8 ff. IVV rechtfertigt, die Invalidenversicherung daran Beiträge
entrichten zu lassen.

Erwägung 3

    3.- Sind somit sämtliche materiellen Leistungsvoraussetzungen für
die nachgesuchten Sonderschulunterrichtsbeiträge erfüllt - die vom Vater
des Beschwerdegegners im Laufe des zweiten Schriftenwechsels erwähnten
Hilfsmittel stehen hier nicht zur Beurteilung an -, stellt sich als Zweites
die Frage, ob auch die formelle Voraussetzung (BGE 109 V 14 Erw. 2a) der
Zulassung (Art. 26bis Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 24 IVV und Art. 10
Abs. 2 SZV in Verbindung mit Art. 12 SZV) erfüllt ist. Dies ist aufgrund
der Auskünfte der Erziehungsdirektion vom 27. Mai 1998 zu verneinen,
aus denen sich ergeben hat, dass der Vater des Beschwerdegegners die
Behinderung seines Sohnes anlässlich des Gesuches vom 26. August
1992 gar nicht erwähnt hat. Erst im Verlaufe der Aufsicht hat die
Zulassungsbehörde aufgrund von Beobachtungen der Schulinspektorin erfahren,
dass der Beschwerdegegner ein Sonderschulunterricht rechtfertigendes
Gebrechen aufweist. Es ist Sache des Vaters des Beschwerdegegners,
nachträglich um seine Zulassung als Sonderschullehrer im Falle seines
Sohnes nachzusuchen. Das kantonale Gericht hat zutreffend erkannt,
dass weder die IV-Stelle noch der Sozialversicherungsrichter zuständig
sind, über diese Zulassung zu befinden oder ein Zulassungsverfahren
einzuleiten, und dass es Sache der zuständigen kantonalen Amtsstelle
ist abzuklären, ob die Zulassungsvoraussetzungen gemäss Art. 2 ff. SZV
für eine beitragspflichtige Sonderschulung im vorliegenden Einzelfall
gegeben sind. In diesem Sinne lässt sich der vorinstanzliche Entscheid
auch in formeller Hinsicht nicht beanstanden.