Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 V 310



124 V 310

51. Auszug aus dem Urteil vom 26. Juni 1998 i.S. Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt gegen SWICA Gesundheitsorganisation und
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, betreffend H. Regeste

    Art. 107 Abs. 2 UVG; Art. 129 UVV: Gerichtsstand für Beschwerden
gegen einen Einspracheentscheid. "Betroffener" im Sinne von Art.
107 Abs. 2 UVG ist nur die Person, um deren Versicherungsleistungen
oder Versicherteneigenschaft es geht. Die Beschwerde ist daher in jedem
Fall bei der kantonalen Rechtsmittelinstanz am Wohnsitz des Versicherten
einzureichen, auch wenn die Krankenkasse Beschwerde erhebt.

Sachverhalt

    A.- Die 1935 geborene und im Kanton Thurgau wohnhafte H. war seit
März 1989 bei den Schweizerischen Bundesbahnen als Köchin tätig und bei
der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen
von Unfall und Berufskrankheit versichert. Am 26. März 1991 prallte eine
Rangierlokomotive in den abgestellten Küchenwagen, wobei sich H. Prellungen
an der rechten Körperhälfte und am rechten Oberschenkel sowie eine kleine
Platzwunde am rechten Ohr zuzog. Bei einem Verkehrsunfall erlitt H. am 23.
September 1995 eine distorsionelle Schädigung der Halswirbelsäule. Die SUVA
erbrachte für beide Unfälle die gesetzlichen Versicherungsleistungen. Mit
Verfügung vom 13. September 1996 lehnte sie ihre Leistungspflicht für
die am 25. Juni 1996 als Rückfall zum Unfall vom 26. März 1991 gemeldeten
Schulterbeschwerden rechts ab.

    Die von der SWICA Gesundheitsorganisation, Winterthur, als
Krankenversicherer von H. erhobene Einsprache wies die SUVA mit Entscheid
vom 23. Dezember 1996 ab.

    B.- Die SWICA reichte dagegen beim Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau Beschwerde ein, worauf die SUVA die Einrede der örtlichen
Unzuständigkeit dieses Gerichts erhob. Zuständig sei nicht das kantonale
Gericht am Wohnsitz der Versicherten, sondern dasjenige am Sitz der
Krankenversicherung. Mit Zwischenentscheid vom 11. Februar 1998 bejahte das
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau seine örtliche Zuständigkeit. (...)

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA,
der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und es sei das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich als örtlich zuständig
zu erklären.

    Die SWICA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
(...). Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) verzichtet auf eine
Vernehmlassung. H. lässt sich nicht vernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- a) Nach Art. 107 Abs. 2 UVG ist für die Beurteilung von Beschwerden
gegen Einspracheentscheide das Versicherungsgericht desjenigen Kantons
zuständig, in welchem der Betroffene seinen Wohnsitz hat (Satz 1).
Befindet sich der Wohnsitz im Ausland, so ist das Versicherungsgericht
des Kantons zuständig, in dem sich der letzte schweizerische Wohnsitz
des Betroffenen befand oder in dem sein letzter schweizerischer
Arbeitgeber Wohnsitz hat; lassen sich beide nicht ermitteln, so ist das
Versicherungsgericht des Kantons zuständig, in dem der Versicherer seinen
Sitz hat (Satz 2).

    Gemäss Art. 104 lit. d UVG regelt der Bundesrat das Beschwerderecht
der Versicherer gegen Verfügungen aus dem Bereich einer anderen
Sozialversicherung. Von dieser Kompetenz hat der Bundesrat in Art. 129
UVV Gebrauch gemacht. Abs. 1 dieser Bestimmung lautet wie folgt: Erlässt
ein Versicherer oder eine andere Sozialversicherung eine Verfügung,
welche die Leistungspflicht des anderen Versicherers berührt, so ist die
Verfügung auch dem anderen Versicherer zu eröffnen. Der andere Versicherer
kann die gleichen Rechtsmittel ergreifen wie die versicherte Person.

    b) Gemäss Art. 107 Abs. 2 UVG ist Anknüpfungspunkt für die örtliche
Zuständigkeit der kantonalen Versicherungsgerichte auf dem Gebiete des
UVG der Wohnsitz des Betroffenen. Dass der Versicherte selbst, um dessen
Versicherungsleistungen es geht oder dessen Versicherteneigenschaft
streitig ist, "Betroffener" im Sinne von Art. 107 Abs. 2 UVG ist, bedarf
keiner weiteren Ausführungen. Wenn nur er Beschwerde erhebt, ist das
Versicherungsgericht des Kantons zuständig, in dem er wohnt. Zu prüfen
ist, ob von diesem Begriff nebst dem Versicherten noch weitere Beteiligte
erfasst werden.

    c) Das kantonale Verwaltungsgericht hat seine Zuständigkeit damit
begründet, mit "Betroffenem" meine Art. 107 Abs. 2 UVG den Versicherten
und, entgegen der Auffassung der SUVA, nicht einen Versicherer. Aus
koordinationsrechtlichen Gründen rechtfertige es sich, die örtliche
Zuständigkeit der kantonalen Beschwerdeinstanz am Wohnsitz des
Versicherten auch für eine Beschwerde des Versicherers gemäss Art. 107
Abs. 2 UVG abzuleiten. Während die SWICA diese Ansicht teilt, stellt
sich die SUVA demgegenüber auf den Standpunkt, die SWICA, mit Sitz in
Winterthur, sei "Betroffene" im Sinne von Art. 107 Abs. 2 UVG, weshalb
das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich für die Behandlung
der Streitsache zuständig sei. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass sich
die örtliche Zuständigkeit der kantonalen Gerichte in jedem Fall nach
dem Wohnsitz der versicherten Person richtet, hätte er in der erwähnten
Bestimmung nicht vom "Betroffenen", sondern vom "Versicherten" gesprochen.

Erwägung 6

    6.- a) (Gesetzesauslegung; vgl. BGE 124 V 189 f. Erw. 3a, 123 V 317
f. Erw. 4, je mit Hinweisen).

    b) aa) Der Ausdruck "der Betroffene" verleitet auf den ersten Blick
zur Annahme, die Vorschrift schliesse neben der natürlichen Person,
um deren Versicherungsleistungen oder Versicherteneigenschaft es geht,
die andere Sozialversicherung, die gegen den Einspracheentscheid des
Unfallversicherers Beschwerde führen will, mit ein. Der wahre Sinn der
Vorschrift wird indessen erst erkennbar, wenn ihr Wortlaut in seiner
Gesamtheit in Betracht gezogen wird und auch die weiteren massgebenden
Auslegungskriterien im Auge behalten werden (BGE 124 II 199 Erw. 5a,
123 III 95 Erw. 3e in fine).

    bb) Bei näherem Hinsehen führt bereits die Verwendung der weiteren
Begriffe "Wohnsitz" und "sein letzter schweizerischer Arbeitgeber"
in Art. 107 Abs. 2 Satz 2 UVG zum Ergebnis, dass eine Ausweitung des
Anknüpfungstatbestandes auf andere Beteiligte nicht der Absicht des
Gesetzgebers entsprach. Diese Wortwahl ist nämlich klar auf die natürliche
Person zugeschnitten, um deren Versicherungsleistungen es geht oder deren
Versicherteneigenschaft streitig ist. Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber
einen einheitlichen Gerichtsstand mit dem Anknüpfungspunkt des Wohnsitzes
der versicherten Person schaffen wollte. Damit wird auch dem Gedanken
Rechnung getragen, dass sich sinnvollerweise diejenigen Gerichte mit
einer Streitigkeit befassen sollen, die dem zu beurteilenden Sachverhalt
räumlich am nächsten stehen (BGE 123 III 91 Erw. 3b mit Hinweisen). Im
Bereiche der Unfallversicherung ist dies das Gericht am Wohnsitz der
versicherten Person. Das gleiche muss gelten, wenn diese nicht Beschwerde
erhebt, sondern allein ein anderer Versicherer. Dies um so mehr, als derart
gefällte Entscheide auch für die versicherte Person Rechtswirkung entfalten
(Art. 129 Abs. 2 Satz 3 UVV).

    c) Zum gleichen Ergebnis führt die Berücksichtigung der
Entstehungsgeschichte der fraglichen Gerichtsstandsbestimmung. Dem
Bericht der Expertenkommission für die Revision der Unfallversicherung
vom 14. September 1973 kann entnommen werden, dass die Kommission
für Versicherte mit Wohnsitz in der Schweiz in erster Instanz die
Zuständigkeit des Versicherungsgerichts jenes Kantons vorschlug, in dem der
Beschwerdeführer bei Erlass der angefochtenen Verfügung seinen Wohnsitz hat
(S. 159 und 216 des Expertenberichts). Es wird damit unmissverständlich
Bezug auf die natürliche Person genommen, um deren Versicherungsleistungen
es geht oder deren Versicherteneigenschaft streitig ist. Im Vordergrund
stand damit der in Erw. 6b/bb erwähnte Gedanke der räumlichen Nähe. Es
sollte zudem ein einheitlicher Gerichtsstand geschaffen werden, was sich
insbesondere auch daraus ergibt, dass der bisherige Wahlgerichtsstand
(Wohnsitz des Klägers oder Sitz der Anstalt [SUVA]; Art. 120 Abs. 2
KUVG) fallengelassen werden sollte. Dies einerseits wegen Überlastung des
Versicherungsgerichts des Kantons Luzern (Sitz der SUVA) und andererseits
wegen des Nachteils für den Versicherten, die örtlichen Verhältnisse
nicht zu kennen und die Verhandlungen in einer Sprache führen zu müssen,
welche er nicht versteht (S. 158 des Expertenberichts). In der Botschaft
zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 18. August 1976 (BBl
1976 III 141; Separatausgabe S. 38 f. und 86) werden zur Neuordnung
der Zuständigkeit im wesentlichen die Argumentation und die Vorschläge
der Expertenkommission übernommen. Art. 107 Abs. 2 des Entwurfs deckt
sich denn auch inhaltlich mit dem Vorschlag der Expertenkommission. Der
in der Botschaft vorgeschlagene Gesetzestext zu Art. 107 UVG fand in
der parlamentarischen Beratung oppositionslos Zustimmung und wurde
nur insoweit redaktionell abgeändert, als in Abs. 2 Satz 2 das Wort
"Versicherungsträger" durch "Versicherer" ersetzt wurde.

    Ein ausdrücklicher gesetzgeberischer Wille, die örtliche
Zuständigkeit für Beschwerden von anderen Sozialversicherungen auf
das Versicherungsgericht ihres Sitzes auszudehnen, lässt sich den
Materialien jedenfalls nicht entnehmen. Vielmehr ergibt sich aus
der Entstehungsgeschichte des Art. 107 UVG, dass ein einheitlicher
Gerichtsstand mit dem Anknüpfungspunkt des Wohnsitzes der versicherten
Person geschaffen werden sollte. Dass in der Bestimmung vom "Betroffenen"
und nicht vom "Versicherten" die Rede ist, lässt sich ohne weiteres daraus
erklären, dass bereits die Versicherteneigenschaft umstritten sein kann.

    d) aa) Würde der Ansicht der SUVA gefolgt, auch das kantonale Gericht
am Sitz der beschwerdeführenden anderen Sozialversicherung als örtlich
zuständig zu erklären, wären die gesetzgeberischen Absichten (Beurteilung
durch ein Gericht, das in einer räumlichen Nähe zum Versicherten steht;
einheitlicher Gerichtsstand) wieder in Frage gestellt. Weiter bestünde
durch Mehrfachprozesse auch die Gefahr sich widersprechender Urteile
(BGE 113 II 355 f. Erw. 2a). Wie die Vorinstanz nämlich zu Recht darauf
hinweist, ist es keineswegs ausgeschlossen, dass sowohl eine versicherte
Person als auch eine andere Sozialversicherung unabhängig voneinander
bei je einem anderen kantonalen Gericht Beschwerde gegen den nämlichen
Einspracheentscheid erheben. Welches Gericht in einem solchen Fall örtlich
zuständig sein soll, ist nicht geregelt. Wohl enthält Art. 129 Abs. 2
UVV eine koordinationsrechtliche Bestimmung (vgl. dazu RKUV 1997 Nr. U
276 S. 195), wonach der versicherten Person die Beschwerde einer anderen
Sozialversicherung zur Vernehmlassung zuzustellen ist. Allein, es besteht
weder eine Pflicht des Versicherten zur Antwort noch zur Mitteilung, dass
er bereits anderswo selbst eine Beschwerde eingereicht habe. Der Fall,
dass zwei kantonale Gerichte voneinander unabhängig denselben Sachverhalt
zu beurteilen haben, könnte somit durchaus eintreten. Im übrigen kann
nebst dem Krankenversicherer auch anderen Sozialversicherungsträgern wie
Pensionskassen (BGE 120 V 352) sowie auch dem Arbeitgeber (BGE 106 V 219;
RKUV 1989 Nr. U 73 S. 239) die Beschwerdelegitimation zukommen. Auch
diese wären als "Betroffene" zu betrachten, womit sich die Gefahr von
Mehrfachprozessen noch erhöht.

    bb) Der Lösungsvorschlag der SUVA, zur Vermeidung von Mehrfachprozessen
die örtliche Zuständigkeit am Sitz der anderen Sozialversicherung
davon abhängig zu machen, dass die versicherte Person selbst keine
Beschwerde erhebt, lässt sich mit dem Wortlaut von Art. 107 Abs. 2
UVG nicht vereinbaren und würde zu grossen Unsicherheiten führen. Wenn
die andere Sozialversicherung ihren Sitz nicht im gleichen Kanton hat
wie die versicherte Person ihren Wohnsitz, wüsste sie im Zeitpunkt
der Beschwerdeerhebung nicht, ob sie das örtlich zuständige Gericht
angerufen hat oder nicht. Je nachdem (wenn auch der Versicherte
Beschwerde erhebt) würde das von ihr angehobene Verfahren an ein
anderes Gericht weitergeleitet. Es konnte indessen nicht der Wille des
Gesetzgebers sein, eine derart unklare und von Zufälligkeiten abhängende
Gerichtsstandsbestimmung aufzustellen. Auch könnte dem Gebot des raschen
Verfahrens (Art. 108 Abs. 1 lit. a UVG) kaum nachgelebt werden, wenn in
einem von der anderen Sozialversicherung eingeleiteten Prozess zuerst in
einem aufwendigen Verfahren die Zuständigkeitsfrage geprüft werden müsste.

    e) Zusammenfassend ergibt sich, dass örtlicher Anknüpfungstatbestand
nach Art. 107 Abs. 2 UVG in jedem Fall der Wohnsitz der Person ist, um
deren Versicherungsleistungen es geht oder deren Versicherteneigenschaft
streitig ist. Daher ist es unerheblich, ob der Versicherte selbst
oder eine andere Sozialversicherung gegen den Einspracheentscheid des
Unfallversicherers Beschwerde führt. Die Beschwerde ist beim Gericht
am Wohnsitz des Versicherten zu erheben. Vorbehalten bleiben die Fälle
nach Art. 107 Abs. 2 Satz 2 UVG. Zu Recht hat daher die Vorinstanz im
angefochtenen Zwischenentscheid ihre Zuständigkeit bejaht, nachdem die
Versicherte ihren Wohnsitz im Kanton Thurgau hat.