Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 V 29



124 V 29

6. Urteil vom 3. März 1998 i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
gegen M. und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt Regeste

    Art. 24 Abs. 1 UVG; Art. 36 Abs. 1 UVV: Integritätsentschädigung bei
psychogenen Unfallfolgen.

    - Anspruch auf Integritätsentschädigung besteht grundsätzlich auch
bei Beeinträchtigungen der psychischen Integrität.

    - Art. 36 Abs. 1 UVV, wonach der Integritätsschaden als dauernd gilt,
wenn er voraussichtlich während des ganzen Lebens mindestens in gleichem
Umfang besteht, ist gesetzmässig.

    - Psychogene Störungen nach Unfällen geben Anspruch auf
Integritätsentschädigung, wenn eine eindeutige individuelle
Langzeitprognose gestellt werden kann, welche für das ganze Leben
eine Änderung durch Heilung oder Besserung des Schadens praktisch
ausschliesst. Für den Entscheid über die Dauerhaftigkeit des
Integritätsschadens und die Notwendigkeit einer entsprechenden
psychiatrischen Abklärung ist die Praxis wegleitend, wie sie für die
Beurteilung der Adäquanz psychischer Unfallfolgen Geltung hat.

Sachverhalt

    A.- M., geboren 1964, war als Betriebsarbeiter bei der Firma
B. erwerbstätig und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) gegen Berufs- und Nichtberufsunfall versichert gewesen. Am
7. Dezember 1988 erlitt er einen Verkehrsunfall, bei dem er sich ein
Trauma der Halswirbelsäule zuzog. Die Diagnose der Neurologischen
Universitätspoliklinik des Kantonsspitals X lautete auf traumatisches
Zervikalsyndrom ohne Hinweise auf radikuläre sensomotorische Ausfälle
(Berichte vom 1. Februar und 22. März 1989). In der Folge klagte der
Versicherte über persistierende Kopf-, Schulter- und Armschmerzen;
zudem stellte sich eine depressive Entwicklung ein. Die SUVA ordnete
neurologische und psychiatrische Abklärungen an und erbrachte die
gesetzlichen Leistungen in Form von Heilbehandlung und Taggeld. Nach
Einholung eines neurologischen Gutachtens von Dr. med. S., welches
am 23. Dezember 1993 erstattet wurde, schloss sie den Fall auf
den 31. Mai 1994 ab. Mit Verfügung vom 23. Juni 1994 sprach sie dem
Versicherten ab 1. Juni 1994 eine als Komplementärrente ausgerichtete
Invalidenrente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 40 % sowie eine
Integritätsentschädigung aufgrund einer Integritätseinbusse von 25% zu.

    Auf Einsprache des Versicherten stellte die SUVA gestützt auf
das neurologische Gutachten vom 23. Dezember 1993 fest, dass der
Versicherte an einer psychischen Dekompensation leide, welche in
natürlichem und adäquatem Kausalzusammenhang mit dem Unfall stehe,
und hieraus eine volle Erwerbsunfähigkeit resultiere. Sie hiess die
Einsprache mit Entscheid vom 28. März 1995 in dem Sinne teilweise gut,
dass sie dem Versicherten ab 1. Juni 1994 eine Invalidenrente von 100%
gewährte. Bezüglich der Integritätsentschädigung wies sie die Einsprache
ab, indem sie die Integritätsentschädigung von 25% für die somatischen
Unfallfolgen bestätigte und eine Entschädigung für die psychogenen
Störungen mangels Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens ablehnte.

    B.- In teilweiser Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde,
mit welcher M. die Zusprechung einer Integritätsentschädigung von 50%
beantragte, sprach das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt dem
Versicherten eine Entschädigung von 37,5% zu. Das Gericht ging davon
aus, dass laut Gutachten des Dr. med. S., welcher den Gesundheitsschaden
zu je 50% auf organische und psychische Komponenten zurückführte, die
psychische Schädigung nicht nur erheblich, sondern auch dauernd sei. In
Anlehnung an die Beurteilung des Experten und unter Hinweis auf einen
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 17. Juni 1992
in Sachen S.P. erachtete das Gericht eine zusätzliche Entschädigung von
25% für die psychische Schädigung als angemessen. Wegen erheblicher
psychischer Vorbelastung kürzte es die Entschädigung um die Hälfte auf
12,5%, womit sich eine Gesamtentschädigung von 37,5% ergab (Entscheid
vom 23. Februar 1996).

    C.- Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Rechtsbegehren, der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons
Basel-Stadt vom 23. Februar 1996 sei aufzuheben und es sei der
Einspracheentscheid vom 28. März 1995 zu bestätigen, mit welchem
eine Erhöhung der (für die somatischen Unfallfolgen zugesprochenen)
Integritätsentschädigung von 25% abgelehnt worden war. Mit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde legt die SUVA eine psychiatrische Beurteilung
des Falles durch Dr. med. B. von der Abteilung Unfallmedizin der SUVA
vom 27. März 1996 sowie eine grundsätzliche Stellungnahme dieses Arztes
zum Anspruch auf Integritätsentschädigung bei psychogenen Störungen vom
11. Mai 1995 ins Recht.

    M. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
und um unentgeltliche Rechtspflege nachsuchen. Das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) nimmt zu einzelnen Punkten Stellung, enthält
sich jedoch eines Antrages.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 24 Abs. 1 UVG hat der Versicherte Anspruch auf
eine angemessene Integritätsentschädigung, wenn er durch den Unfall eine
dauernde erhebliche Schädigung der körperlichen oder geistigen Integrität
erleidet. Nach Art. 36 Abs. 1 UVV gilt ein Integritätsschaden als dauernd,
wenn er voraussichtlich während des ganzen Lebens mindestens in gleichem
Umfang besteht (Satz 1); er ist erheblich, wenn die körperliche oder
geistige Integrität, unabhängig von der Erwerbsfähigkeit, augenfällig
oder stark beeinträchtigt ist (Satz 2).

    b) Die Integritätsentschädigung wird laut Art. 25 Abs. 1 UVG in Form
einer Kapitalleistung gewährt (Satz 1); sie darf den am Unfalltag geltenden
Höchstbetrag des versicherten Jahresverdienstes nicht übersteigen und
wird entsprechend der Schwere des Integritätsschadens abgestuft (Satz 2).

    Nach Art. 25 Abs. 2 UVG regelt der Bundesrat die Bemessung der
Entschädigung. Von dieser Befugnis hat er in Art. 36 UVV Gebrauch
gemacht. Gemäss Abs. 2 dieser Vorschrift gelten für die Bemessung der
Integritätsentschädigung die Richtlinien des Anhangs 3. Darin hat der
Bundesrat in einer als gesetzmässig erkannten, nicht abschliessenden Skala
(BGE 113 V 219 Erw. 2a; RKUV 1988 Nr. U 48 S. 236 Erw. 2a mit Hinweisen)
häufig vorkommende und typische Schäden prozentual gewichtet. In der Skala
der leistungsbegründenden Integritätsschäden enthalten sind u.a. die
"Beeinträchtigung von psychischen Teilfunktionen wie Gedächtnis und
Konzentrationsfähigkeit" sowie das "psychoorganische Syndrom".

    c) Für die im Anhang 3 zur UVV genannten Integritätsschäden
entspricht die Entschädigung im Regelfall dem angegebenen Prozentsatz
des Höchstbetrages des versicherten Verdienstes (Ziff. 1 Abs. 1). Die
Entschädigung für spezielle oder nicht aufgeführte Integritätsschäden
wird nach dem Grad der Schwere vom Skalenwert abgeleitet (Ziff. 1
Abs. 2). In diesem Zusammenhang hat die SUVA in Weiterentwicklung der
bundesrätlichen Skala weitere Bemessungsgrundlagen in tabellarischer
Form erarbeitet. Diese in den Mitteilungen der Medizinischen Abteilung
der SUVA, Nr. 57 bis 59, herausgegebenen Tabellen (teilweise geändert und
ergänzt in den Mitteilungen Nr. 60, 62 und 66) sind, soweit sie lediglich
Richtwerte enthalten, mit denen die Gleichbehandlung aller Versicherten
gewährleistet werden soll, mit dem Anhang 3 zur UVV vereinbar (BGE 116
V 157 Erw. 3a mit Hinweis).

    Tabelle 8 der Richtwerte listet "Integritätsschäden bei psychischen
Folgen von Hirnverletzungen" auf. Die Störungen werden aufgrund
neuropsychologischer Untersuchungen als minimal, leicht, mittel
und schwer eingestuft und entsprechend bemessen. Posttraumatische
Hirnfunktionsstörungen (=psychoorganisches Syndrom, POS), welche sich
in Störungen der neuropsychologischen Hirnleistungen (wie Gedächtnis,
Merkfähigkeit und Konzentration) sowie Störungen der Persönlichkeit
(Wesensveränderungen wie Antriebs- und Affektstörung usw.) äussern,
werden entsprechend dem Schweregrad der Beeinträchtigungen von 0 bis 80%
gewichtet.

Erwägung 2

    2.- a) Die SUVA vertritt die Auffassung, bei psychogenen Störungen,
wie sie im vorliegenden Fall diagnostiziert worden seien, sei ein Anspruch
auf Integritätsentschädigung generell ausgeschlossen. Sie begründet dies
zusammengefasst damit, dass

    - das Institut der Integritätsentschädigung für körperliche

    Substanzverluste konzipiert sei und für den Bereich der nicht mit
absoluten
   objektiven Werten quantifizierbaren psychogenen Störungen nicht
   geeignet sei,

    - psychogene Störungen nach herrschender psychiatrischer Lehre nicht
   lebenslang dauerten, sondern degressiv verliefen und damit die

    Voraussetzungen von Art. 24 Abs. 1 UVG und Art. 36 UVV nicht erfüllten,

    - bei andauernden psychogenen Störungen die Persönlichkeit und andere
   unfallfremde Faktoren (einschliesslich des Willens zur Überwindung bzw.

    Nichtüberwindung der Störung) eine dominante Rolle spielten,

    - die Degressivität der unfallkausalen psychogenen Störung mit einer

    Abnahme des adäquat-kausalen Zusammenhangs einhergehe und die soziale

    Unfallversicherung für psychische Erkrankungen, die nach Ablauf der

    Adäquanz noch persistierten, nicht hafte.

    b) Die SUVA stützt sich auf eine (grundsätzliche Ausführungen
enthaltende) psychiatrische Beurteilung des Falles durch Dr. med. B. von
der Abteilung Unfallmedizin der SUVA (Bericht vom 27. März 1996) sowie
eine Stellungnahme des gleichen Arztes vom 11. Mai 1995 zum Thema
"Rechtliche und psychiatrische Voraussetzungen des IE-Anspruches für
eine psychogene Störung". Darin wird die Auffassung vertreten, dass sich
ein Anspruch auf Integritätsentschädigung bei psychogenen Störungen mit
dem Grundsatz der abstrakt-egalitären Bemessung des Integritätsschadens,
wie er der gesetzlichen Regelung zugrunde liegt, nicht vereinbaren lasse,
weil es bei den individuell erlebnisreaktiven psychogenen Störungen - im
Gegensatz zu den psychoorganisch bedingten Störungen - an einem messbar
geschädigten körperlichen Substrat fehle. Dazu komme, dass psychogene
Störungen im Sinne individueller Erlebnisreaktionen nach der allgemeinen
Lebens- und der psychiatrischen Erfahrung in der Regel degressiv verliefen,
zumindest grundsätzlich reversibel seien, weshalb sie die Voraussetzung
der Dauerhaftigkeit im Sinne eines voraussichtlich während des ganzen
Lebens mindestens in gleichem Umfang bestehenden Integritätsschadens
nicht erfüllten.

    c) Die Ausführungen im Bericht des Dr. med. B. vom 27. März 1996
haben ihre Grundlage in dem von MURER/KIND/BINDER unter dem Titel
"Integritätsentschädigung für psychogene Störungen nach Unfällen?" in:
SZS 38/1994 S. 178 ff. veröffentlichten Aufsatz, welcher an die von den
gleichen Autoren verfasste Arbeit "Kriterien zur Beurteilung des adäquaten
Kausalzusammenhanges bei erlebnisreaktiven (psychogenen) Störungen
nach Unfällen" (SZS 37/1993 S. 121 ff. u. 213 ff.) anknüpft. Darin wird
zusammenfassend die Meinung vertreten, dass bei psychogenen Störungen nach
Unfällen grundsätzlich kein Anspruch auf Integritätsentschädigung bestehe,
weil in aller Regel kein voraussichtlich während des ganzen Lebens
bzw. auf unabsehbare Zeit mindestens in gleichem Umfang bestehender
Integritätsschaden vorliege bzw. ein solcher mit dem Beweisgrad
der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nicht prognostiziert werden
könne. In Ausnahmefällen sei bei den chronifizierenden posttraumatischen
Belastungsstörungen nach schwersten Katastrophen-Ereignissen ein Anspruch
auf Integritätsentschädigung gegeben. In diesen seltenen Fällen sei eine
Entschädigung von ungefähr 20, 35 oder 50% geschuldet (SZS 38/1994 S. 196).

Erwägung 3

    3.- Zu prüfen ist zunächst, wie es sich hinsichtlich der für
einen generellen Ausschluss psychogener Störungen vom Anspruch auf
Integritätsentschädigung geltend gemachten Überlegungen verhält.

    a) Nach Art. 24 Abs. 1 UVG besteht Anspruch auf
Integritätsentschädigung bei dauernden erheblichen Schädigungen der
körperlichen oder geistigen Integrität. Der Begriff der geistigen
Integrität (intégrité mentale, integrità mentale) ist in einem
weiten Sinne aufzufassen und umfasst - wie der anspruchsbegründende
Gesundheitsschaden bei der Invalidität gemäss Art. 18 UVG (vgl. hiezu
MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 350) - geistige,
intellektuelle und psychische Aspekte (MAURER, aaO, S. 414; vgl. auch
GILG/ZOLLINGER, Die Integritätsentschädigung, S. 37, wonach als
Integritätsschaden grundsätzlich jede Beeinträchtigung der "physischen
und psychischen Lebenselemente des Normalmenschen" gilt). Die Begriffe
"geistig" und "psychisch" werden vom Gesetzgeber in der Sozialversicherung
als gleichbedeutend betrachtet (vgl. etwa Art. 23 Abs. 1 und Art. 25
aMVG, wo von "psychischer Integrität" die Rede war, während Art. 48
Abs. 1 des MVG vom 19. Juni 1992 in Anlehnung an die obligatorische
Unfallversicherung von geistiger Integrität spricht, ohne dass damit
eine materielle Änderung verbunden war). Wo das Gesetz den Begriff
der geistigen Gesundheit verwendet, schliesst dieser die psychische
Gesundheit folglich mit ein (vgl. zu Art. 2 Abs. 1 und 2 KVG: MAURER,
Krankenversicherungsrecht, S. 29). Aus dem Wortlaut von Art. 24 Abs. 1
UVG lässt sich daher nicht ableiten, dass der UVG-Versicherer lediglich
organisch bedingte Beeinträchtigungen der psychischen Integrität zu
entschädigen hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass ein Anspruch
grundsätzlich bei allen psychischen Störungen gegeben sein kann, seien
diese organisch, endogen oder reaktiv bedingt (vgl. i.d.S. auch MAURER,
Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 414).

    b) Aus den Materialien zum geltenden Unfallversicherungsrecht
ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass nur organisch bedingte
Beeinträchtigungen der psychischen Integrität zu entschädigen sind. Dem
Protokoll der Subkommission zur Vorbereitung der UVV (Sitzung vom 27. Mai
1981) lässt sich zwar entnehmen, dass die SUVA bei der Aufzählung der
versicherten Tatbestände in der Liste gemäss Anhang 3 zur UVV "äusserste
Zurückhaltung" geübt hat und insbesondere die Psychoneurose und dauerndes
Kopfweh nicht in die Liste aufnehmen wollte. Dies bedeutet jedoch
nicht, dass alle andern, die Integrität beeinträchtigenden geistigen oder
psychischen Defizite ohne organische Grundlage vom Anspruch ausgeschlossen
werden sollten. Die Liste der Integritätsschäden erwähnt denn auch die
mit 20% bewertete "Beeinträchtigung von psychischen Teilfunktionen wie
Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit", ohne zu präzisieren, dass die
Beeinträchtigung eine organische Grundlage aufzuweisen hat. Aus dem
Umstand, dass solche Beeinträchtigungen neben dem ebenfalls genannten
psychoorganischen Syndrom selbständig aufgeführt sind, ist vielmehr zu
schliessen, dass eine Entschädigung auch bei ausschliesslich psychogener
Ursache geschuldet ist.

    c) Ebensowenig spricht das Prinzip der abstrakten und egalitären
Bemessung der Integritätsschäden, wie es in der obligatorischen
Unfallversicherung Geltung hat (BGE 113 V 221 Erw. 4b), für einen
grundsätzlichen Ausschluss der rein psychogen bedingten Beeinträchtigungen
der Integrität vom Anspruch auf Integritätsentschädigung. Wird
von reinen Organ- oder Substanzverlusten (wie Verlust eines Armes
oder des Gehörs) abgesehen, sind längst nicht alle körperlichen
Integritätseinbussen objektiv quantifizierbar. Bei dem nach Anhang 3
zur UVV entschädigungspflichtigen psychoorganischen Syndrom kann Art
und Umfang der Funktionsausfälle zwar neuropsychologisch festgestellt
werden; der Schweregrad der mit der Hirnfunktionsstörung allenfalls
verbundenen Wesensveränderung kann dagegen nur geschätzt werden (Tabelle 8
"Integritätsschäden bei psychischen Folgen von Hirnverletzungen" der von
der SUVA herausgegebenen Richtlinien). Gerade dieses Beispiel zeigt, dass
auch psychogene Beeinträchtigungen der Integrität einer abstrakt-egalitären
Bemessung des Integritätsschadens zugänglich sind. Wie MURER/KIND/BINDER
aufzeigen, sind schematische Bewertungen psychogener Störungen in Anlehnung
an die Abstufungen bei den Hirnfunktionsstörungen durchaus möglich (SZS
38/1994 S. 195).

Erwägung 4

    4.- Der Anspruch auf Integritätsentschädigung hängt nach Art.
24 Abs. 1 UVG u.a. von einer dauernden Schädigung (atteinte durable,
menomazione durevole) der Integrität ab. Was unter diesem Erfordernis
zu verstehen ist, umschreibt Art. 36 Abs. 1 Satz 1 UVV in dem Sinne,
dass ein Integritätsschaden als dauernd gilt, wenn er voraussichtlich
während des ganzen Lebens mindestens in gleichem Umfang besteht.

    a) MURER/KIND/BINDER werfen in der Arbeit "Integritätsentschädigung
für psychogene Störungen nach Unfällen?" (SZS 38/1994 S. 178 ff.,
insbesondere S. 194) die Frage nach der Gesetzmässigkeit dieser
Bestimmung auf, soweit damit der Begriff "dauernd" in Art. 24 Abs. 1
UVG mit "voraussichtlich während des ganzen Lebens" gleichgesetzt wird;
Ihrer Auffassung nach ist "dauernd" im Sinne von "auf unabsehbare Zeit"
zu verstehen. In der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde
wirft das BSV die gleiche Frage auf mit der Feststellung, wenn "dauernd"
nicht notwendigerweise mit "lebenslänglich" gleichzustellen sei, bedeute
dies, dass eine Prognose über den voraussichtlich "auf unabsehbare Zeit"
andauernden Verlauf psychogener Störungen genüge, um das Erfordernis
der Dauerhaftigkeit im Sinne von Art. 24 Abs. 1 UVG zu erfüllen (so auch
MURER/KIND/BINDER, in: SZS 38/1994 S. 194).

    b) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist
der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so
muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung
aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der
dem Text zugrunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn,
der einer Norm im Kontext zukommt (BGE 122 V 384 Erw. 4a mit Hinweisen).

    aa) Der Begriff "dauernd" in Art. 24 Abs. 1 UVG ist ein unbestimmter
Rechtsbegriff, der verschiedene Auslegungen zulässt. "Dauernd" steht
im Gegensatz zu "vorübergehend", doch sagt dies nichts darüber aus, wie
lange ein Zustand bestehen muss, um als "dauernd" qualifiziert werden zu
können. Vom sprachlichen Wortsinn her kann mit "dauernd" etwas Ständiges
oder auch nur etwas auf längere Zeit in gleichbleibender Weise Vorhandenes
bezeichnet werden (vgl. BROCKHAUS/WAHRIG, Deutsches Wörterbuch, und
Duden, Das grosse Wörterbuch der deutschen Sprache, unter dem Stichwort
"dauernd").

    Wo der Gesetzgeber den Begriff "dauernd" verwendet, ist er unter
Berücksichtigung des Normzwecks sowie von Sinn und Zweck des jeweiligen
Gesetzes auszulegen. Diese bereichsspezifische Auslegung zeigt sich
etwa am Beispiel von Art. 12 Abs. 1 IVG, der für den Anspruch auf
medizinische Eingliederungsmassnahmen u.a. eine dauernde Verbesserung der
Erwerbsfähigkeit verlangt. Dauernd in diesem Sinne ist der zu erwartende
Eingliederungserfolg, wenn die konkrete Aktivitätserwartung gegenüber dem
statistischen Durchschnitt nicht wesentlich herabgesetzt ist. Bei jüngeren
Versicherten ist er voraussichtlich dauernd, wenn er wahrscheinlich
während eines bedeutenden Teils der Aktivitätserwartung erhalten bleiben
wird (BGE 104 V 83 Erw. 3b, 101 V 51 Erw. 3b). Art. 29 Abs. 1 lit. a
IVG dagegen verwendet für einen spezifischen Dauertatbestand den Begriff
"bleibend", was nach Art. 29 IVV bedeutet, dass aller Wahrscheinlichkeit
nach feststeht, der Gesundheitszustand des Versicherten werde sich künftig
weder verbessern noch verschlechtern (BGE 111 V 22 ff. Erw. 3).

    Wenn Art. 36 Abs. 1 UVV den Anspruch auf Integritätsentschädigung
u.a. davon abhängig macht, dass der Integritätsschaden voraussichtlich
während des ganzen Lebens (mindestens in gleichem Umfang) besteht,
so verstösst dies weder gegen den Wortlaut noch gegen Sinn und Zweck
des Gesetzes.

    bb) Was die Materialien anbelangt, ist festzuhalten, dass das
Anspruchserfordernis der Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens in der
Botschaft zum UVG vom 18. August 1976 (BBl 1976 III 141 ff., insbesondere
193) nicht näher umschrieben wird. In der parlamentarischen Beratung
ist Art. 24 des Gesetzesentwurfs praktisch diskussionslos angenommen
worden. Immerhin betonte Bundesrat Hürlimann das Erfordernis einer
dauernden erheblichen Schädigung mit der Feststellung, dass Wunden,
die wieder ausheilten, nicht darunter fielen; wegleitend werde die
zurückhaltende Praxis der Zivilgerichte beim Anspruch auf Genugtuung sein
(Komm. NR, Protokoll der Sitzung vom 2./3. November 1977, S. 38).

    Art. 33 des Vorentwurfs vom 20. März 1980 zur UVV enthielt keine
Bestimmung zur vorausgesetzten Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens und
übertrug die Umschreibung der anspruchsbegründenden Beeinträchtigungen
dem Eidg. Departement des Innern. An der Sitzung der UVV-Kommission vom
13./14. August 1980 machte die SUVA den Vorschlag, erhebliche Substanz-
und Organverluste sowie erhebliche Funktionseinschränkungen und dauernde
erhebliche Schädigungen der geistigen Integrität zu entschädigen,
wobei das Departement eine nicht abschliessende Liste der wichtigsten
Integritätsschäden erstellen sollte (Protokoll S. 14). Anlässlich der
Sitzung vom 29./30. April/5. Mai 1981 schlug die SUVA einen neuen Abs. 1
zur Verordnungsbestimmung vor, welcher inhaltlich weitgehend dem in der
Folge beschlossenen Art. 36 Abs. 1 UVV entsprach. Die Bestimmung wurde
damit begründet, dass es sich bei der Integritätsentschädigung um ein
auch für die Gerichte neues Institut handle, weshalb die vorausgesetzte
Dauer und Erheblichkeit des Integritätsschadens in der Verordnung näher
zu umschreiben seien. Die Kommission ergänzte den Ausdruck "in gleichem
Umfang" mit "mindestens" und stimmte im übrigen dem Vorschlag der SUVA zu
(Protokoll S. 54-56).

    Aus den Materialien ergeben sich demnach keine eindeutigen Schlüsse
in bezug auf die Auslegung der in Art. 24 Abs. 1 UVG vorausgesetzten
Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens. Es bestehen indessen Anhaltspunkte
dafür, dass der Gesetzgeber die Dauerhaftigkeit in einem strengen Sinne
verstanden haben wollte.

    cc) Im Hinblick darauf, dass die Dauerhaftigkeit
des Integritätsschadens nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck von
Art. 24 Abs. 1 UVG ein für den Anspruch auf Integritätsentschädigung
zentrales Erfordernis darstellt und die Materialien Anhaltspunkte dafür
enthalten, dass der Gesetzgeber die Voraussetzung der Dauerhaftigkeit
des Integritätsschadens in einem restriktiven Sinne verstanden haben
wollte, verstösst es nicht gegen das Gesetz, wenn der Verordnungsgeber
die vorausgesetzte Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens im Sinne
von Lebenslänglichkeit verstanden hat. Zwar stellt das Kriterium eines
"voraussichtlich während des ganzen Lebens mindestens in gleichem Umfang"
bestehenden Schadens für Beeinträchtigungen der psychischen Integrität eine
wesentliche Schranke dar, weil in diesem Bereich die Dauerhaftigkeit bis
ans Lebensende meist nicht mit dem verlangten Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit prognostizierbar ist. Dies genügt jedoch nicht, um die
Verordnungsbestimmung, welche den von Art. 24 Abs. 1 UVG gesetzten Rahmen
nicht überschreitet, als gesetzwidrig zu erachten. In der Literatur ist,
soweit ersichtlich, denn auch nie in Frage gestellt worden, dass der
Ausdruck "dauernd" in Art. 24 Abs. 1 UVG im Sinne von Art. 36 Abs. 1 UVV
("voraussichtlich während des ganzen Lebens mindestens in gleichem Umfang")
zu verstehen ist (vgl. MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht,
S. 414 f.; derselbe, Bundessozialversicherungsrecht, S. 380;
GHÉLEW/RAMELET/RITTER, Commentaire de la loi sur l'assurance-accidents
[LAA], S. 121; GILG/ZOLLINGER, aaO, S. 39 f.).

    c) Bei diesem Ergebnis erübrigen sich Ausführungen zu der von
MURER/KIND/BINDER (SZS 38/1994 S. 194) vertretenen Auffassung, wonach der
Begriff "dauernd" in Art. 24 Abs. 1 UVG im Sinne von "auf unabsehbare
Zeit" zu verstehen ist. Immerhin sei festgestellt, dass auch dieser
Ausdruck auslegungsbedürftig ist und der Vorschlag darauf hinausläuft,
einen unbestimmten Rechtsbegriff durch einen andern zu ersetzen. Ausgehend
vom allgemeinen Wortsinn (vgl. hiezu BROCKHAUS/WAHRIG, aaO, und DUDEN,
aaO, unter dem Stichwort "unabsehbar") kann der Begriff im vorliegenden
Zusammenhang entweder bedeuten, dass nicht damit zu rechnen ist, dass der
Schaden dereinst wegfallen wird, oder aber, dass eine verlässliche Prognose
hinsichtlich des in näherer oder fernerer Zukunft allenfalls bestehenden
Schadens nicht möglich ist. Je nach dem Wortsinn, welcher dem Ausdruck
"auf unabsehbare Zeit" beigemessen wird, kann er dem Begriff "dauernd"
im Sinne von Art. 24 Abs. 1 UVG gleichgestellt werden oder nicht.

Erwägung 5

    5.- Fraglich und zu prüfen ist des weitern, ob der von der SUVA
übernommenen Auffassung von MURER/KIND/BINDER gefolgt werden kann,
wonach eine Integritätsentschädigung bei psychogenen Störungen nur
zugesprochen werden kann, wenn das Unfallereignis als aussergewöhnlich
schwer zu qualifizieren ist und eine chronifizierende posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert wurde.

    a) Der Auffassung von MURER/KIND/BINDER liegt das Postulat
der Degressivität psychogener Unfallfolgen zugrunde, wie es
u.a. von Kind in "Rechtsfragen der medizinischen Begutachtung in der
Sozialversicherung", St. Gallen 1997, S. 49 ff., insbesondere S. 62 ff.,
anhand der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10
[International Classification of Diseases, 10. Aufl.], Kapitel V)
erläutert wird. Danach sind akute psychische Störungen nach einem Trauma
als akute Belastungsreaktion zu erfassen, sofern ein unmittelbarer und
klarer zeitlicher Zusammenhang zwischen der traumatischen Situation und
dem Beginn der Symptome besteht. Die meist wechselnde Symptomatik (Angst,
Depression, Ärger, Verzweiflung u.a.) klingt in der Regel rasch ab. Ist
dies ausnahmsweise nicht der Fall, liegt eine Anpassungsstörung vor, bei
der die individuelle Disposition eine wesentliche Rolle spielt. Klingen
die Symptome längerfristig (ein bis zwei Jahre) nicht ab oder treten gar
neue psychogene Symptome auf, kommt es zu einer psychogenen Fixierung
bzw. seelischen Entwicklung, bei der zunehmend Persönlichkeitsfaktoren
ausschlaggebend sind und nicht mehr das traumatische Ereignis.

    Nach KIND bildet der degressive Verlauf psychogener Störungen nach
Unfällen, wie sie das zivile Leben mit sich bringt, die Regel, sofern
nicht unfallfremde Motive Anlass zu einer Chronifizierung geben. Schwerste
psychische Traumatisierungen (durch Kriegsereignisse, Naturkatastrophen,
schwerste Verkehrsunfälle, Terroranschläge, Vergewaltigungen u.a.) könnten
jedoch dauerhafte psychische Veränderungen bewirken. Diese von der ICD-10
als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bezeichneten Störungen
setzten ein Unfallereignis von aussergewöhnlicher Schwere voraus, welches
meist über das hinausgehe, was das Eidg. Versicherungsgericht üblicherweise
als schweren Unfall bezeichne.

    b) Ob eine Beeinträchtigung der psychischen Integrität dauernden
Charakter hat, ist in erster Linie eine Tatfrage, worüber die
Verwaltung bzw. im Streitfall der Richter im Rahmen der ihm obliegenden
Beweiswürdigung nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad
der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu befinden hat. Wie für die
Feststellung natürlicher Kausalzusammenhänge im Bereich der Medizin sind
Verwaltung bzw. Richter auch für die Beurteilung der voraussichtlichen
Dauerhaftigkeit von Integritätsschäden bisweilen auf die Angaben
ärztlicher Experten angewiesen (vgl. BGE 118 V 290 Erw. 1b). Fraglich ist,
inwieweit bei der Prognose im Einzelfall generelle, nach herrschender
Lehre allgemeingültige Erkenntnisse der Psychiatrie, wie sie in den
psychiatrisch-diagnostischen Klassifikationssystemen ihren Niederschlag
gefunden haben, als massgebend zu betrachten sind.

    aa) Im Jahre 1995 hat die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie
Kapitel V (F) der von der Weltgesundheitsorganisation unter dem Titel
"ICD-10" (International Classification of Diseases, 10. Aufl.)
herausgegebenen internationalen Klassifikation der Krankheiten
für die Diagnose psychischer Störungen zur Anwendung empfohlen
(vgl. KIND, aaO, S. 62). Nach der zweiten Auflage der unter dem Titel
"Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V
(F), Klinisch-diagnostische Richtlinien" erschienenen deutschen Fassung
dieses Werks werden psychogene Störungen nach Unfällen im Rahmen der
diagnostischen Kategorie F4 "Neurotische, Belastungs- und somatoforme
Störungen" der Unterkategorie F43 "Reaktionen auf schwere Belastungen
und Anpassungsstörungen" zugeordnet (wobei der Begriff "psychogen"
als Bezeichnung diagnostischer Kategorien nicht mehr verwendet wird;
vgl. ICD-10, Einleitung S. 23). Zur Unterkategorie F43 gehören die akute
Belastungsreaktion (F43.0), die posttraumatische Belastungsstörung (F43.1),
die Anpassungsstörungen (F43.2) sowie sonstige oder nicht näher bezeichnete
Reaktionen auf schwere Belastungen (F43.8 u. 9).

    Laut ICD-10 ist die akute Belastungsreaktion (F43.0) eine
"vorübergehende Störung von beträchtlichem Schweregrad, die sich bei
einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine
aussergewöhnliche körperliche oder seelische Belastung entwickelt und im
allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt". Sie kann in eine
posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) übergehen, die umschrieben wird
als "verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis
oder eine Situation aussergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenähnlichen
Ausmasses (kurz oder lang anhaltend), die bei fast jedem eine tiefe
Verzweiflung hervorrufen würde". Zu den Ereignissen gehören u.a. schwere
Unfälle. Die Störung folgt dem Trauma mit einer Latenz, die Wochen bis
Monate dauern kann (doch selten mehr als sechs Monate nach dem Trauma). Der
Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine
Heilung erwartet werden. Bei wenigen Patienten nimmt die Störung über
viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine dauernde
Persönlichkeitsstörung über (F62.0 "andauernde Persönlichkeitsänderung
nach Extrembelastung"). Anpassungsstörungen (F43.2) sind "Zustände von
subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die soziale Funktionen
und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer
entscheidenden Lebensveränderung, nach einem belastenden Lebensereignis
oder auch nach schwerer körperlicher Krankheit auftreten". Die individuelle
Disposition oder Vulnerabilität spielt beim möglichen Auftreten und bei
der Form der Anpassungsstörung eine grössere Rolle als bei den andern
Krankheitsbildern von F43. Es ist aber dennoch davon auszugehen, dass
das Krankheitsbild ohne die Belastung nicht entstanden wäre. Die Störung
beginnt im allgemeinen innerhalb eines Monats nach dem belastenden Ereignis
oder der Lebensveränderung. Die Symptome halten meist nicht länger als
sechs Monate an, ausser bei einer längeren depressiven Reaktion (F.43.21).

    bb) Das Eidg. Versicherungsgericht hatte sich bereits wiederholt mit
der Bedeutung der ICD-10 für die Beurteilung sozialversicherungsrechtlicher
Fragen zu befassen. In dem in RKUV 1997 Nr. K 984 S. 119 teilweise
publizierten Urteil X vom 24. Januar 1997 hat das Gericht seine
Praxis hinsichtlich der Vorbehaltsfähigkeit von Depressionen in der
Krankenversicherung aufgrund neuerer psychiatrischer Erkenntnisse,
wie sie in der ICD-10 Ausdruck finden, geändert. In einem nicht
veröffentlichten Urteil B. vom 2. Mai 1997, wo es u.a. um die Adäquanz
psychischer Unfallfolgen ging, hat das Gericht zu dem von der SUVA
erhobenen Einwand, wonach sich der vom kantonalen Richter bestellte
Experte nicht an die Richtlinien der ICD-10 gehalten habe, festgestellt,
dass dies an der Schlüssigkeit der gutachtlichen Beurteilung nichts zu
ändern vermöge. Selbst wenn diese Leitlinien, wie deren Anerkennung durch
die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und die Schweizerische
Gesellschaft der psychiatrischen Chefärzte nahelege, in der Schweiz
allgemein gebräuchlich seien, bestünden doch international auch
andere psychiatrisch-diagnostische Klassifikationssysteme wie etwa
das DSM-III-R (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer
Störungen), welches beispielsweise MURER/KIND/BINDER (SZS 37/1993 S. 219)
verwendet hätten. Zwar förderten einheitliche Kriterien die gegenseitige
Verständigung, doch bestehe - entgegen der SUVA - keine Gefahr, sich
ausserhalb der Schulpsychiatrie zu begeben, solange andere anerkannte
Richtlinien angewendet würden. In einem psychiatrischen Gerichtsgutachten
gehe es darum, juristischen Fachpersonen ein psychisches Leiden oder eine
psychische Störung und ihre Auswirkungen schlüssig darzulegen, wozu eine
bestimmte Diagnose zwar ein notwendiges, aber nicht ein hinreichendes
Mittel sei. Vielmehr seien regelmässig weitere erklärende Ausführungen
notwendig. Werde somit eine Diagnose nicht nach der ICD-10, sondern nach
einem anderen anerkannten Klassifikationssystem verfasst, sei dagegen aus
juristischer Sicht nichts einzuwenden, solange die einzelnen Diagnosen
aus den gesamten Erläuterungen inhaltlich verständlich würden und die
Darlegung der medizinischen Zusammenhänge für die zu beurteilende Frage
schlüssig sei.

    cc) Nach diesen Erwägungen hat das Eidg. Versicherungsgericht nicht
darüber zu befinden, ob psychogene Störungen nach Unfällen ausschliesslich
nach den klinisch-diagnostischen Leitlinien der ICD-10 zu beurteilen sind;
ebensowenig ist darüber zu entscheiden, ob nur die in der Unterkategorie
F43.1 erwähnten posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) dauernden
Charakter aufweisen und damit entschädigungsbegründend sind, wie
MURER/KIND/BINDER annehmen. Zu einem entsprechenden Entscheid besteht
um so weniger Anlass, als die psychiatrische Literatur bezüglich der
Entstehungsbedingungen, des Verlaufs und des Einflusses vorbestehender
Persönlichkeitsfaktoren bei posttraumatischen Belastungsstörungen
kontrovers ist (vgl. KIND, aaO, S. 64). Auch ist die psychiatrische
Fachmeinung, wonach psychogene Störungen dem Grundsatz nach immer
reversibel sind, nicht unbestritten geblieben. In einem in SZS
41/1997 S. 283 ff. erschienenen Aufsatz "Zum Phänomen der Latenz in der
Psychotraumatologie, unter spezieller Berücksichtigung des Unfalltraumas"
folgern HAEFLIGER/SCHNYDER, dass bei Vorliegen einer Latenz psychischer
Symptome nach einem Unfallereignis verallgemeinernde Aussagen zu Schwere
und dem Charakter des Traumas sowie der natürlichen Kausalität psychischer
Symptome nicht gemacht werden könnten. Für die psychiatrische Begutachtung
von Unfallpatienten mit persistierenden psychischen Symptomen nach
einem Unfallereignis sei vielmehr zu verlangen, dass alle beobachteten
Phänomene individuell zu untersuchen und entsprechend zu beurteilen seien
(S. 293 f.; vgl. auch die Replik von Kind in SZS 41/1997 S. 296 ff. und
die Duplik von HAEFLIGER/SCHNYDER in SZS 41/1997 S. 301 ff.).

    In der grundsätzlichen Stellungnahme "Rechtliche und psychiatrische
Voraussetzungen des IE-Anspruches für eine psychogene Störung" vom
11. Mai 1995 räumt auch Binder ein, dass sich die Abgrenzungsprobleme
beim Anspruch auf Integritätsentschädigung bei diesen Störungen aus
medizinisch-psychiatrischer Sicht nicht lösen lassen. Es besteht
daher auch kein Anlass zur Einholung eines Grundsatzgutachtens,
von dem kaum neue allgemeingültige Erkenntnisse über den Verlauf
psychogener Störungen nach Unfällen, insbesondere unter dem hier
interessierenden Blickwinkel der Dauerhaftigkeit der Beeinträchtigung,
zu erwarten wären. Die Beurteilung der Dauerhaftigkeit als Rechtsbegriff
bleibt, auch unter Berücksichtigung des in Erw. 5b hievor Gesagten,
letztlich eine Rechtsfrage, deren Beantwortung im Einzelfall zu erfolgen
hat. Dabei ist in medizinischer Hinsicht davon auszugehen, dass gemäss
herrschender psychiatrischer Lehre psychogene Störungen in der Regel
nicht lebenslang dauern, sondern degressiv verlaufen und daher die für
den Anspruch auf Integritätsentschädigung vorausgesetzte Dauerhaftigkeit
des Integritätsschadens nicht erfüllen. Ein Anspruch kann dann gegeben
sein, wenn medizinisch-psychiatrisch eine eindeutige individuelle
Langzeitprognose gestellt werden kann, welche für das ganze Leben eine
Änderung durch Heilung oder Besserung des Schadens praktisch ausschliesst.

    c) aa) Aus medizinisch-psychiatrischer Sicht besteht nach
Murer/Kind/Binder kein zwingender Zusammenhang zwischen der Schwere des
Unfallereignisses und den psychogenen Störungen, weil die psychogenen
Unfallfolgen auf dem psychischen Stress beruhen, der durch das
Unfallerlebnis bewirkt wird und die individuellen Reaktionen sehr
unterschiedlich sind. Im allgemeinen werde aber ein schwerer Unfall
mit gravierenden Folgen eher zu einem erheblichen psychischen Stress
und damit zu psychogenen Unfallfolgen führen als ein leichter oder ein
Bagatellunfall. Die Erfahrung zeige, dass schwere Unfallereignisse vom
Ausmass eigentlicher Katastrophen bei vielen Menschen kürzere oder längere
psychische Reaktionen auslösten, auch wenn der Betroffene keine schweren
körperlichen Verletzungen erlitten habe (MURER/KIND/BINDER, Kriterien zur
Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhanges, in: SZS 37/1993 S. 131 f.).

    Im Einklang mit dieser letzten psychiatrischen Feststellung
knüpft die Rechtsprechung bei der Beurteilung der Adäquanz psychischer
Unfallfolgen nicht an das Unfallerlebnis, sondern an das Unfallereignis
selbst an. Denn die Frage, ob sich das Unfallereignis und eine psychisch
bedingte Erwerbsunfähigkeit im Sinne eines adäquaten Verhältnisses von
Ursache und Wirkung entsprechen, ist u.a. im Hinblick auf die Gebote
der Rechtssicherheit und der rechtsgleichen Behandlung der Versicherten
aufgrund einer objektivierten Betrachtungsweise zu prüfen (BGE 115 V 138
f. Erw. 6 mit Hinweisen).

    bb) Im Lichte dieser Rechtsprechung und unter Berücksichtigung
des Umstandes, dass nach herrschender psychiatrischer Lehrmeinung
nur Unfallereignisse von aussergewöhnlicher Schwere zu dauerhaften
Beeinträchtigungen der Integrität führen, erweist es sich als sachgerecht,
bei der Beurteilung der Dauerhaftigkeit psychogener Unfallfolgen ebenfalls
an das Unfallereignis anzuknüpfen und von der Praxis auszugehen, wie
sie für die Beurteilung der Adäquanz psychischer Unfallfolgen Geltung
hat (BGE 115 V 133). Danach wird die Adäquanz bei banalen bzw. leichten
Unfällen in der Regel ohne weiteres verneint und bei schweren Unfällen
in der Regel bejaht; im mittleren Bereich bedarf es besonderer, objektiv
erfassbarer Umstände, damit die Adäquanz bejaht werden kann (BGE 115 V
138 ff. Erw. 6). In Anlehnung an diese Praxis und die psychiatrischen
Lehrmeinungen ist der Anspruch auf Integritätsentschädigung bei banalen
bzw. leichten Unfällen regelmässig zu verneinen, selbst wenn die Adäquanz
der Unfallfolgen ausnahmsweise bejaht wird. Auch bei Unfällen im mittleren
Bereich lässt sich die Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens in der
Regel verneinen, ohne dass in jedem Einzelfall eine nähere Abklärung von
Art und Dauerhaftigkeit des psychischen Schadens vorzunehmen wäre. Etwas
anderes gilt nur ausnahmsweise, namentlich im Grenzbereich zu den
schweren Unfällen, wenn aufgrund der Akten erhebliche Anhaltspunkte für
eine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung der psychischen Integrität
bestehen, die einer Besserung nicht mehr zugänglich zu sein scheint. Solche
Indizien können in den weiteren unfallbezogenen Kriterien erblickt werden,
wie sie bei der Adäquanzbeurteilung zu berücksichtigen sind (BGE 115 V
140 f. Erw. 6c), sofern sie besonders ausgeprägt und gehäuft gegeben sind
und die Annahme nahelegen, sie könnten als Stressoren eine lebenslang
chronifizierende Auswirkung begünstigt haben. Bei schweren Unfällen
schliesslich ist die Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens stets zu
prüfen und nötigenfalls durch ein psychiatrisches Gutachten abzuklären,
sofern sie nicht bereits aufgrund der Akten als eindeutig erscheint.

Erwägung 6

    6.- Bezogen auf den vorliegenden Fall ergibt sich hieraus folgendes:

    a) Der Beschwerdegegner wurde am 7. Dezember 1988 Opfer einer
Motorfahrzeug-Kollision, bei der er sich ein Distorsions- und Abknicktrauma
der Halswirbelsäule zuzog. Es resultierten die klassischen Symptome
nach einem Schleudertrauma der Halswirbelsäule, wobei ein traumatisches
Zervikalsyndrom ohne Hinweise auf radikuläre sensomotorische Ausfälle im
Bereich der oberen Extremitäten und ohne Frakturen diagnostiziert wurde
(Berichte der Neurologischen Universitätsklinik X vom 1. Februar 1989 und
1. Februar 1990). Der Beschwerdegegner nahm die Arbeit 40 Tage nach dem
Unfall zu 50% und später zu 100% wieder auf und war bis zur Kündigung
anfangs 1991 rund zwei Jahre voll arbeitsfähig. Untersuchungen in der
Psychiatrischen Poliklinik Y vom 11. und 28. Februar 1991 zeigten eine
depressive Entwicklung (Bericht vom 6. März 1991). In einem Gutachten
vom 23. Dezember 1993 diagnostizierte der Neurologe Dr. med. S. nebst
den klassischen Schleudertrauma-Beschwerden eine schwere depressive
Entwicklung, welche zweifelsfrei durch den Unfall ausgelöst worden
sei. Frühere unfallfremde Psychotraumata seien in wesentlichem
Masse für die Schwere der sekundären psychischen Dekompensation
verantwortlich. Der Versicherte sei zweifellos behandlungsbedürftig, sowohl
hinsichtlich des Schmerzsyndroms als auch im Hinblick auf die depressive
Entwicklung. Die Prognose sei ungünstig, doch sei nicht ausgeschlossen,
dass bei günstigem Verlauf der eingeleiteten Psychotherapie und der
vorgeschlagenen antimigränösen Basisbehandlung mittelfristig doch noch
eine Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess möglich sei.

    b) Die SUVA hat das Ereignis vom 7. Dezember 1988 zu Recht den
mittelschweren Unfällen zugeordnet und unter Berücksichtigung der nach der
Rechtsprechung massgebenden Zusatzkriterien die Adäquanz für die psychogene
Störung bejaht und eine Invalidenrente aufgrund einer Erwerbsunfähigkeit
von 100% zugesprochen, nebst einer Integritätsentschädigung von 25% für
somatische Schäden. Weil der Beschwerdegegner keinen schweren Unfall im
Rechtssinn erlitten hat, ist nach dem Gesagten vom Regelfall auszugehen,
wonach die Dauerhaftigkeit des psychischen Integritätsschadens ohne
Weiterungen zu verneinen ist. Ein Ausnahmefall liegt nicht vor, indem
weder ein Ereignis im Grenzbereich zu den schweren Unfällen gegeben
ist noch erhebliche Anhaltspunkte für eine besonders schwerwiegende,
einer Besserung nicht zugängliche Beeinträchtigung der psychischen
Integrität bestehen. Wenn die Vorinstanz aufgrund der Ausführungen von
Dr. med. S., wonach die Prognose ungünstig ist, zum Schluss gelangt,
dass eine dauernde Beeinträchtigung der psychischen Integrität vorliegt,
so vermag dies nicht zu überzeugen. Wie das BSV zu Recht bemerkt, lässt
die Feststellung, wonach bei günstigem Verlauf der Therapie mittelfristig
doch noch eine Wiedereingliederung möglich sei, vielmehr darauf schliessen,
dass eine Besserung oder Heilung der psychischen Störung durchaus möglich
ist. Der ärztlichen Feststellung zur Prognose kann für die Beurteilung der
Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens um so weniger Bedeutung beigemessen
werden, als sie offensichtlich unter Berücksichtigung des gesamten
Gesundheitsschadens, d.h. auch der organischen Beeinträchtigungen erfolgte.

    c) Unter den gegebenen Umständen besteht kein Anlass zur
Anordnung einer ergänzenden psychiatrischen Abklärung zur Frage nach
der Dauerhaftigkeit der psychogenen Störung. Entgegen dem Antrag des
Beschwerdegegners erübrigen sich ergänzende Abklärungen auch hinsichtlich
einer allfälligen organischen Ursache der bestehenden psychischen Störung,
nachdem eine solche Ursache von keinem der mit dem Fall befassten Ärzte
in Betracht gezogen wurde. In Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der SUVA daher vollumfänglich
gutzuheissen.

Erwägung 7

    7.- (Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung)