Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 V 234



124 V 234

38. Auszug aus dem Urteil vom 17. März 1998 i. S. Arbeitslosenkasse der
Gewerkschaft Bau & Industrie GBI gegen W. und Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich Regeste

    Art. 30 Abs. 1 lit. a und Abs. 3 AVIG; Art. 44 lit. a, b und c,
Art. 45 Abs. 2 AVIV; Art. 20 lit. b und c des Übereinkommens Nr. 168 der
Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über Beschäftigungsförderung
und den Schutz gegen Arbeitslosigkeit vom 21. Juni 1988.

    - Art. 44 lit. b AVIV ist mit Art. 20 lit. c des Übereinkommens Nr. 168
über Beschäftigungsförderung und den Schutz gegen Arbeitslosigkeit vom
21. Juni 1988 vereinbar.

    - Der Begriff der Unzumutbarkeit nach Art. 44 lit. b AVIV ist
staatsvertragskonform auszulegen.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Das kantonale Sozialversicherungsgericht hat die vorliegend
massgebenden gesetzlichen Bestimmungen über die Einstellung in der
Anspruchsberechtigung bei selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit (Art. 30
Abs. 1 lit. a AVIG) und die verschuldensabhängige Dauer der Einstellung
(Art. 30 Abs. 3 AVIG und Art. 45 Abs. 2 AVIV in der bis Ende 1995 gültig
gewesenen, vorliegend anwendbaren Fassung) richtig dargelegt. (...).

    b) Gemäss Art. 44 AVIV (in der bis Ende 1996 gültig gewesenen Fassung)
liegt, soweit hier von Belang, selbstverschuldete Arbeitslosigkeit vor,
wenn der Versicherte

    "a. durch sein Verhalten, insbesondere wegen Verletzung
   arbeitsvertraglicher Pflichten, dem Arbeitgeber Anlass zur Auflösung des

    Arbeitsverhältnisses gegeben hat;

    b. das Arbeitsverhältnis von sich aus aufgelöst hat, ohne dass ihm eine
   andere Stelle zugesichert war, es sei denn, dass ihm das Verbleiben
   an der

    Arbeitsstelle nicht zugemutet werden konnte;

    c. ein Arbeitsverhältnis von voraussichtlich längerer Dauer von
sich aus
   aufgelöst hat und ein anderes eingegangen ist, von dem er wusste oder
   hätte wissen müssen, dass es nur kurzfristig sein wird, es sei denn,
   dass ihm das

    Verbleiben an der vorherigen Arbeitsstelle nicht zugemutet werden
konnte.

    d. (...)"

Erwägung 2

    2.- Streitig und zu prüfen ist vorliegend, ob und gegebenenfalls in
welchem Ausmass eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung begründet
und angemessen (Art. 132 lit. a OG) ist.
   a) (...)

    b) Auf den vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt trifft aus dem
erwähnten Katalog der Tatbestände selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit
gemäss Art. 44 AVIV (in der damaligen Fassung) einzig lit. b zu. Es
gibt keine Anhaltspunkte, wonach der Versicherte vom Arbeitgeber
zur Selbstkündigung gedrängt worden wäre (was praxisgemäss Anlass zur
Anwendung von lit. a gegeben hätte; ARV 1977 Nr. 30 S. 149). Lit. c nennt
ebenfalls einen Anwendungsfall der Selbstkündigung, beschlägt aber nicht
den vorliegenden Fall.

Erwägung 3

    3.- a) Von Amtes wegen zu beachten ist, dass am 17. Oktober
1991 für die Schweiz das Übereinkommen Nr. 168 der Internationalen
Arbeitsorganisation (IAO) über Beschäftigungsförderung und den Schutz
gegen Arbeitslosigkeit vom 21. Juni 1988 (SR 0.822.726.8; AS 1991 1914;
nachfolgend: Übereinkommen) in Kraft trat. Dessen Art. 20 lit. b und c
lauten wie folgt:

    "Die Leistungen, auf welche eine geschützte Person bei Voll- oder

    Teilarbeitslosigkeit oder Verdienstausfall infolge einer
vorübergehenden

    Arbeitseinstellung ohne Unterbrechung des Beschäftigungsverhältnisses

    Anspruch gehabt hätte, können in einem vorgeschriebenen Masse
verweigert,
   entzogen, zum Ruhen gebracht oder gekürzt werden,

    (...)

    b. wenn die zuständige Stelle festgestellt hat, dass der Betreffende
   vorsätzlich zu seiner Entlassung beigetragen hat;

    c. wenn die zuständige Stelle festgestellt hat, dass der Betreffende
   seine Beschäftigung ohne triftigen Grund freiwillig aufgegeben hat;"

    (...)
      b) Diese beiden Bestimmungen knüpfen wie Art. 44 lit. a bis c AVIV
      an die
Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber oder durch den
Arbeitnehmer an. Während lit. b des Übereinkommens ausdrücklich nur eine
vorsätzliche Handlung sanktioniert, verlangt lit. c keinen bestimmten
Verschuldensgrad, sondern bloss eine freiwillige Stellenaufgabe ohne
triftigen Grund (in der nach Art. 39 des Übereinkommens neben der
englischen gleichberechtigt massgebenden französischen Fassung lautet der
entsprechende Satz: "lorsque ... l'intéressé a quitté volontairement son
emploi sans motif légitime"). Aufgrund des Sachverhalts liegt im hier
streitigen Fall keine durch vorsätzliches Verhalten des Versicherten
provozierte Entlassung durch den Arbeitgeber vor, sondern eine
Selbstkündigung. Diese fällt unter Art. 20 lit. c des Übereinkommens,
welcher kein qualifiziertes Verschulden voraussetzt.

    c) Es ist daher zu prüfen, ob der vorne (Erw. 2b) als hier anwendbar
bezeichnete Art. 44 lit. b AVIV mit Art. 20 lit. c des Übereinkommens
vereinbar ist.

    Art. 20 lit. c ist inhaltlich hinreichend bestimmt und klar, um als
Grundlage eines Entscheides im Einzelfall dienen zu können; er ist daher
direkt anwendbar (vgl. BGE 119 V 177 Erw. 4b). Materiell verlangt diese
Vorschrift einerseits, dass der Versicherte seine Beschäftigung freiwillig
("volontairement") aufgegeben hat, und anderseits, dass er dafür keinen
triftigen Grund nennen kann ("sans motif légitime").

    Nach Art. 44 lit. b AVIV gilt die Arbeitslosigkeit als
selbstverschuldet und liegt im Sinne von Art. 30 Abs. 1 lit. a AVIG ein
Einstellungsgrund vor, wenn der Versicherte das Arbeitsverhältnis von
sich aus aufgelöst hat, ohne dass ihm eine andere Stelle zugesichert war,
es sei denn, dass ihm das Verbleiben an der Arbeitsstelle nicht zugemutet
werden konnte. Verlangt wird damit die Auflösung des Arbeitsverhältnisses
von sich aus, ferner, dass dem Versicherten das Verbleiben nicht zumutbar
war, und schliesslich, dass ihm keine neue Stelle zugesichert war.

    Beide Bestimmungen erfordern somit eine Selbstkündigung aus
eigenem Antrieb, d.h. ohne vom Arbeitgeber dazu gedrängt worden zu sein
(wonach, wie erwähnt, Art. 44 lit. a AVIV anwendbar wäre). Der triftige
Grund nach dem Übereinkommen wird im Landesrecht dahin umschrieben,
dass dem Versicherten das Verbleiben nicht zumutbar war. Insofern
sind beide Vorschriften in diesem Punkt deckungsgleich. Jedenfalls
lässt sich nicht sagen, Art. 44 lit. b AVIV sei mit Art. 20 lit. c
des Übereinkommens nicht vereinbar. Wohl verlangt Art. 44 lit. b AVIV
des weitern, dass dem Versicherten keine neue Stelle zugesichert war.
Dieser Vorbehalt enthält jedoch nichts, was mit Art. 20 lit. c des
Übereinkommens unvereinbar wäre. Denn wenn der Versicherte ein neues
Arbeitsverhältnis zugesichert erhält und unmittelbar nach Beendigung des
früheren antreten kann, wird er gar nicht arbeitslos. Kann er eine neue
Stelle hingegen erst nach einer Übergangszeit antreten, bleibt es bei einer
"von sich aus" vorgenommenen Auflösung und damit einer vorübergehend
selbstverschuldeten Arbeitslosigkeit, soweit das Verbleiben am alten
Ort zugemutet werden konnte. Nach dem Gesagten ist Art. 44 lit. b AVIV
daher konventionskonform.

    d) Damit ist nichts Präjudizierendes darüber entschieden, ob
und inwieweit auch die anderen Tatbestände von Art. 44 AVIV mit dem
Übereinkommen Nr. 168 vereinbar sind. Diese Frage kann hier offenbleiben.

Erwägung 4

    4.- Steht der Anwendbarkeit von Art. 44 lit. b AVIV somit keine
Bestimmung des Völkerrechts entgegen, bleibt zu prüfen, ob die
Voraussetzungen nach dieser Vorschrift im vorliegenden Fall erfüllt sind.

    a) Der Versicherte hat das Arbeitsverhältnis klarerweise von sich
aus aufgelöst. Dabei kam er nicht etwa einer ohnehin im Raum stehenden
Entlassung durch den Arbeitgeber zuvor. Das zeigt sich darin, dass er
selber diesen gebeten hat, seinerseits eine Kündigung auszusprechen. Er
glaubte damit offenbar, nachteiligen arbeitslosenversicherungsrechtlichen
Folgen entgehen zu können. Der Arbeitgeber ist auf dieses Begehren
nicht eingetreten, hat aber die Selbstkündigung auf Ende September 1993
angenommen. Damals war dem Versicherten keine neue Stelle zugesagt. Er
fand neue Arbeit vielmehr erst während der Arbeitslosigkeit.

    b) Gegenüber dem Kantonalen Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit und
der Vorinstanz machte der Versicherte gesundheitliche Probleme geltend,
welche ein Verbleiben an seinem Arbeitsplatz unzumutbar gemacht hätten.

    aa) Der Begriff der Unzumutbarkeit ist im Lichte von Art. 20 lit. c des
Übereinkommens auszulegen, gilt doch nach ständiger Rechtsprechung (BGE 122
V 54 ff. Erw. 3 mit Hinweisen) der Grundsatz der staatsvertragskonformen
Auslegung. Demnach wird staatsvertraglich nur das freiwillige Aufgeben
einer Stelle ("volontairement") ohne triftige Gründe ("sans motif
légitime") sanktioniert. Dies bedeutet mit andern Worten, dass dort,
wo ein Versicherter effektiv nicht von sich aus, sondern vom Arbeitgeber
oder durch die Entwicklung am Arbeitsplatz zur Kündigung gedrängt wird,
nicht mehr von einer freiwilligen Preisgabe der Beschäftigung im Sinne
des Übereinkommens gesprochen werden kann. Gleiches gilt für den Fall,
da der Versicherte für das Verlassen der Stelle legitime Gründe zu nennen
vermag. Ob die bisherige Rechtsprechung zur Zumutbarkeit aufrechtzuerhalten
ist, kann vorliegend offenbleiben. Denn eine Unzumutbarkeit, an der vom
Beschwerdegegner verlassenen Stelle zu verbleiben, liegt nicht vor, (...).

    bb) Unzumutbarkeit aus gesundheitlichen Gründen muss durch ein
eindeutiges ärztliches Zeugnis (oder allenfalls durch andere geeignete
Beweismittel) belegt sein, wobei die Zumutbarkeit zum Verbleiben strenger
beurteilt wird als die Zumutbarkeit zum Antritt einer neuen Stelle
(GERHARDS, Kommentar zum AVIG, Bd. 1, N. 14 zu Art. 30; unveröffentlichtes
Urteil K. vom 6. August 1996). Der Versicherte gibt selber zu, keinen Arzt
aufgesucht, sondern sich mit gezieltem Lauftraining und Wandern selber
erfolgreich kuriert zu haben. Er macht geltend, durch dieses Verhalten
die Krankenkasse entlastet zu haben.

    Der Beschwerdegegner verkennt, dass die Arbeitslosenkasse sich aus
Gründen der Rechtssicherheit nicht mit blossen Behauptungen begnügen darf,
sondern zweckdienliche Beweismittel benötigt, die der Versicherte im Rahmen
der ihm obliegenden Mitwirkungspflicht beim Abklären des Sachverhalts
beizubringen hat. Insofern ist das Beharren der Verwaltung auf Belegen
kein "lächerliches Theater", wie in der Vernehmlassung vorgebracht wird.

    Entgegen der Vorinstanz sind die geltend gemachten gesundheitlichen
Probleme weder belegt, noch ist nachgewiesen, dass sie auf die
unbefriedigende Situation am Arbeitsplatz zurückzuführen sind.

    Ebensowenig belegt sind die behaupteten strukturellen und finanziellen
Probleme am Arbeitsplatz und die gespannte Beziehung zur Trägerschaft. Im
übrigen könnte darin kein Anlass erblickt werden, das Arbeitsverhältnis
ohne Zusicherung einer neuen Stelle aufzulösen (ARV 1986 Nr. 23 S. 92
Erw. 2b).

    c) Unter all diesen Umständen ist keine Unzumutbarkeit nachgewiesen,
womit sämtliche Voraussetzungen des Art. 44 lit. b AVIV erfüllt sind. Der
Beschwerdegegner ist daher grundsätzlich wegen selbstverschuldeter
Arbeitslosigkeit in der Anspruchsberechtigung einzustellen.