Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 V 174



124 V 174

30. Urteil vom 26. Mai 1998 i.S. A. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich
und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 48ter AHVG in Verbindung mit Art. 52 IVG: Subrogation der
Sozialversicherung. Zum Zeitpunkt des gesetzlichen Forderungsübergangs
und zur Frage nach der Zulässigkeit eines Verzichts auf Leistungen der
Invalidenversicherung.

Sachverhalt

    A.- A. (geb. 1970) erlitt am 17. April 1992 als Mitfahrer einen
Autounfall, der eine Querschnittlähmung zur Folge hatte. Nachdem ein
Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung wegen Nichterfüllens
der versicherungsmässigen Voraussetzungen zweimal verneint worden war
(Verfügungen der Ausgleichskasse des Kantons Zürich vom 27. Juli 1992
und vom 28. Oktober 1994), liess A. der Verwaltung mitteilen, dass er
definitiv und unwiderruflich auf Geldleistungen infolge des Unfalls vom
17. April 1992 verzichte; es sei deshalb entsprechend zu verfügen. Am
11. Juli 1995 lehnte die (nunmehr zuständige) IV-Stelle des Kantons Zürich
das Gesuch um Erlass einer entsprechenden Verfügung ab.

    B.- Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen
eingereichte Beschwerde wegen Fehlens eines schutzwürdigen Interesses an
einer Verzichtsverfügung ab (Entscheid vom 20. August 1996).

    C.- A. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und folgende
Anträge stellen:

    "1. Die Verfügung der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich vom

    11.07.1995 sowie der Entscheid des Sozialversicherungsgerichtes
   des Kantons Zürich vom 20.08.1996 in Sachen A. seien aufzuheben.

    2. Es sei festzustellen, dass der Beschwerdeführer definitiv auf

    Leistungen der Sozialversicherungsanstalt infolge des Unfallereignisses
vom

    17.04.1992 verzichtet; eventualiter sei festzustellen, dass der

    Beschwerdeführer infolge des erwähnten Unfallereignisses gegenüber
   der Sozialversicherungsanstalt auf Rentenleistungen verzichtet.

    3. Subeventualiter sei die Sozialversicherungsanstalt des Kantons

    Zürich anzuweisen, eine Feststellungsverfügung bezüglich Verzicht von

    Leistungen der IV-Stelle im Rahmen der oben erwähnten Ziff. 2 aus dem

    Unfall vom 17.04.1992 zu erlassen."

    Die IV-Stelle verzichtet auf Vernehmlassung. Das Bundesamt
für Sozialversicherung (BSV) schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 52 IVG gelten für den Regress der Invalidenversicherung
die Bestimmungen des AHVG sinngemäss. Gemäss Art. 48ter AHVG gehen die
Ansprüche des Geschädigten gegenüber einem Haftpflichtigen im Zeitpunkt
des Schadenereignisses bis auf die Höhe der gesetzlichen Leistungen auf
die Sozialversicherung über. Diese Bestimmung wurde mit der 9. AHV-Revision
eingeführt. Der Gesetzgeber wollte durch den Ersatz des Kumulations- durch
das Subrogationsprinzip die als stossend empfundene Überentschädigung
beim Zusammentreffen von AHV/IV-Renten mit Haftpflichtansprüchen
vermeiden. Ausserdem sollte - nicht zuletzt mit Rücksicht auf die
angespannte Finanzlage der AHV/IV - die Sozialversicherung entlastet
werden (Botschaft über die 9. AHV-Revision vom 7. Juli 1976, BBl 1976
III 34). Das durch Beiträge der AHV/IV-Versicherten und durch staatliche
Subventionen geäufnete Vermögen des Sozialversicherungsträgers sollte
sinnvoll und nicht für die Ausrichtung von Leistungen verwendet werden,
die über die Deckung des Schadens hinausreichen (zur Veröffentlichung in
BGE 124 III bestimmtes Urteil E. vom 17. Februar 1998 Erw. 3; vgl. ferner
das Urteil J. vom 13. Dezember 1994 [Pra 1995 Nr. 172 S. 558 f.]; MAURER,
Kumulation und Subrogation in der Sozial- und Privatversicherung, in:
ZBJV 1977 S. 267).

Erwägung 2

    2.- Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer
rechtsgültig auf die ihm künftig allenfalls zustehenden Leistungen der
Invalidenversicherung verzichten und die Verwaltung zum Erlass einer
entsprechenden Verfügung verpflichtet werden kann.

    a) Das kantonale Sozialversicherungsgericht hat diese Frage
verneint. Der Beschwerdeführer habe gemäss den rechtskräftigen
Verfügungen vom 27. Juli 1992 und 28. Oktober 1994 wegen Nichterfüllens
der versicherungsmässigen Voraussetzungen keinen Anspruch auf Leistungen
der Invalidenversicherung. Da noch keine Subrogation stattgefunden
habe, könnte der Beschwerdeführer grundsätzlich auf die ihm allenfalls
künftig zustehenden IV-Leistungen verzichten, sofern er an einem
solchen Verzicht ein schutzwürdiges Interesse habe (BGE 101 V 265
f. Erw. 2). Es liege zweifellos im Interesse des Beschwerdeführers,
dass seine wirtschaftliche Existenz nicht gefährdet werde. Eine solche
Gefahr bestehe gegenwärtig nicht, doch wäre eine Kapitalabfindung des
Haftpflichtversicherers möglicherweise rasch aufgebraucht, und es könnte
die Fürsorgeabhängigkeit drohen. Unter dem Gesichtswinkel der persönlichen
Freiheit sei zu beachten, dass mit dem fraglichen Verzicht auch auf
berufliche Massnahmen und damit auf eine Eingliederung verzichtet würde,
was nicht im Interesse des Beschwerdeführers und im übrigen auch nicht
in jenem der Invalidenversicherung und der Allgemeinheit liege.

    b) Dem Einwand einer allfälligen Fürsorgeabhängigkeit hält
der Beschwerdeführer entgegen, dass der UVG-Versicherer regelmässig
Rentenleistungen erbringe. Des weiteren macht er geltend, berufliche
Massnahmen habe er bereits in Anspruch genommen. Der zur Diskussion
stehende Verzicht könnte sich entsprechend den Abweisungsverfügungen
vom 27. Juli 1992 und 28. Oktober 1994 nur auf Rentenleistungen
beziehen, nicht aber auf Eingliederungsmassnahmen. Aus der Sicht der
Haftpflichtversicherung sei der Schadenfall nicht liquid. Auf der anderen
Seite liege es im schutzwürdigen Interesse des Beschwerdeführers, wenn er
Jahre nach dem Unfall nun endlich mit dem Haftpflichtversicherer abrechnen
könne. Diese Abrechnung wäre kurzfristig möglich, wenn die beantragte
Verzichtsverfügung vorläge. Dem Erlass einer solchen Verfügung stünden
weder die Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers noch die Interessen
der Öffentlichkeit entgegen.

Erwägung 3

    3.- a) Das Eidg. Versicherungsgericht hatte im von der Vorinstanz
angeführten Urteil B. vom 27. Oktober 1975 (BGE 101 V 261) zu beurteilen,
ob ein Pflegekind, das wegen des Todes seines leiblichen Vaters an sich
eine (allerdings nie geltend gemachte) Waisenrente hätte beanspruchen
können, durch den späteren Tod des Pflegevaters Anspruch auf eine
Pflegekinderrente erwirbt. Das Gericht bejahte diese Frage, wobei es -
ausgehend von der Überlegung, dass man zwar einen gesetzlichen Anspruch
auf Leistungen hat, diese aber nur auf Antrag erhält - den Grundsatz
bestätigte, wonach ein Versicherter auf Leistungen verzichten kann,
sofern er ein schutzwürdiges Interesse hat (BGE 101 V 265 Erw. 2 mit
Hinweisen). Diese Rechtsprechung lässt sich nicht unbesehen auf die
hier zu beurteilende Problematik übertragen. Denn angesichts der mit der
9. AHV-Revision vor dem Hintergrund veränderter Verhältnisse (BBl 1976 III
29 ff., 32) neu eingeführten Rückgriffsordnung kann ein schutzwürdiges
Interesse des Geschädigten allein nicht mehr ausschlaggebend sein
(vgl. das schon erwähnte Urteil J. vom 13. Dezember 1994 [Pra 1995
Nr. 172 S. 559 Erw. 8]; SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von
Schadenausgleichsystemen, S. 271 Rz. 799).

    b) Im Gegensatz zum früheren Recht, welches die Kumulation von
AHV/IV-Leistungen mit Haftpflichtansprüchen bewusst zuliess (BBl 1976 III
32 ff.), gehen unter der Herrschaft des Art. 48ter AHVG in Verbindung mit
Art. 52 IVG die Ansprüche des Geschädigten gegenüber den Haftpflichtigen
im Zeitpunkt des Schadenereignisses bis auf die Höhe der gesetzlichen
Leistungen auf die Invalidenversicherung über. Mit der Subrogation
entsteht kein neuer, selbständiger Anspruch des Sozialversicherers. Er
übernimmt durch Legalzession den Haftpflichtanspruch des Geschädigten
mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen (BGE 112 II 94
Erw. 2c; SCHAER, aaO, S. 232 f. Rz. 674 und S. 264 f. Rz. 778). Die
Subrogation setzt aber voraus, dass der Sozialversicherer mit seinen
Leistungen einen entsprechenden Schaden ausgleicht. Daher tritt er nur
insoweit in den Haftpflichtanspruch ein, als er Leistungen erbracht
hat, welche mit der Schuld des Haftpflichtigen in zeitlicher und
funktionaler Hinsicht übereinstimmen (Kongruenzgrundsatz; vgl. MAURER,
Bundessozialversicherungsrecht, S. 410 f.). Die Rechtsposition des
Haftpflichtigen bleibt durch die Subrogation grundsätzlich unberührt. Er
hat lediglich einen Teil seiner Schuld dem Sozialversicherer statt
dem Geschädigten gegenüber zu begleichen (BBl 1976 III 34). Zeitlich
erfolgt die Subrogation mit dem schädigenden Ereignis, obschon in diesem
Augenblick noch nicht feststeht, welche Leistungen der Sozialversicherer
erbringen muss (zur Veröffentlichung in BGE 124 III bestimmtes Urteil
E. vom 17. Februar 1998 Erw. 3; MAURER, aaO, S. 410 f.; derselbe, Das neue
Krankenversicherungsrecht, S. 126 hinsichtlich der Rückgriffsbestimmung
von Art. 123 Abs. 1 KVV; SCHAER, aaO, S. 206 Rz. 598 ff. und S. 269
Rz. 790; vgl. auch BBl 1976 III 64; ferner FRÉSARD-FELLAY, Subrogation,
droit d'action directe et solidarité, in: SVZ 1994 S. 58; a.M. STOESSEL,
Das Regressrecht der AHV/IV gegen den Haftpflichtigen, S. 52 ff.).

    In der Invalidenversicherung gilt die Gesundheitsschädigung, welche zu
einer Invalidität im Sinne des Gesetzes führen könnte, als auslösendes
Ereignis für den gesetzlichen Forderungsübergang (SCHAER, aaO, S. 204
Rz. 590 f.), obwohl die Leistungspflicht des Sozialversicherers an die
Erfüllung weiterer (sekundärer) Voraussetzungen geknüpft ist. Auch die
Konzeption der Invalidenversicherung als finale Versicherung, welche
das Risiko der Invalidität unabhängig vom Vorliegen eines bestimmten
versicherten Ereignisses wie Krankheit oder Unfall deckt (MAURER,
Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I, S. 276; STEIN, Die
Invalidität, in: Festschrift 75 Jahre EVG, Bern 1992, S. 437; VALTERIO,
Droit et pratique de l'assurance-invalidité, Les prestations, S. 52;
SCARTAZZINI, Les rapports de causalité dans le droit suisse de la sécurité
sociale, S. 213; EVGE 1964 S. 257 Erw. 2), hindert nicht, die Subrogation
bereits im Augenblick der Gesundheitsschädigung eintreten zu lassen
(zum Ganzen SCHAER, aaO, S. 202 ff.). Gleichzeitig mit dem gesetzlichen
Forderungsübergang verliert der Versicherte die subrogierten Ansprüche,
und er hat daher nach herrschender Auffassung grundsätzlich nicht die Wahl,
ob er den Schädiger oder die Sozialversicherung belangen will. Insofern
ist der Anspruch auf IV-Leistungen grundsätzlich unverzichtbar (Pra 1995
Nr. 172 S. 559 Erw. 8; MEYER-BLASER, Rechtsprechung des Bundesgerichts
zum Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung,
Zürich 1997, S. 293; SCHAER, aaO, S. 271 f. Rz. 799 ff.).

    c) Im mehrfach erwähnten Urteil J. vom 13. Dezember 1994 (Pra
1995 Nr. 172 S. 559 Erw. 8) hat das Schweizerische Bundesgericht
schliesslich entschieden, eine Subrogation könnte - wenn überhaupt -
einzig dadurch ausgeschaltet werden, dass alle Beteiligten, d.h. der
Geschädigte, der Haftpflichtige und die Sozialversicherung ihr
Einverständnis geben. Die Bestimmung von Art. 65 UVV, wonach der
rechtswirksame Verzicht auf Versicherungsleistungen eine Verfügung
der Sozialversicherung voraussetze, sei insofern als allgemeiner, im
ganzen Sozialversicherungsrecht geltender Grundsatz aufzufassen. Für die
grundsätzliche Unverzichtbarkeit von IV-Ansprüchen sprächen im übrigen auch
die Interessen der Allgemeinheit. Wenn an die Stelle von IV-Leistungen
eine Kapitalabfindung des Haftpflichtigen trete, so bestehe keine Gewähr
einer sachgerechten Mittelverwendung durch den Geschädigten und folglich
die Gefahr, dass dieser nach Verbrauch des Kapitals der öffentlichen
Fürsorge zur Last falle (ebenso SCHAER, aaO, S. 272 Rz. 801 ff.).

Erwägung 4

    4.- Bei  einem  Autounfall am 17. April 1992  erlitt der
Beschwerdeführer eine Querschnittlähmung. Wegen der im Zeitpunkt der
Gesundheitsschädigung eingetretenen Subrogation war es ihm grundsätzlich
verwehrt, auf IV-Rentenleistungen - Eingliederungsmassnahmen standen nach
den zutreffenden Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht
zur Diskussion - zu verzichten. Eine Ausschaltung der Subrogation ist
zwar nach der erwähnten Rechtsprechung ausnahmsweise zulässig, fällt
hier aber ausser Betracht. Ohne dass es einer über den vorliegenden
Anwendungsfall hinausgehenden abschliessenden Umschreibung der hiefür
kumulativ erforderlichen Voraussetzungen (dazu Erw. 3c) bedürfte,
steht in diesem Fall fest, dass ein schutzwürdiges Interesse an einem
Verzicht nicht erstellt ist. Das BSV weist in diesem Zusammenhang mit
Recht darauf hin, dass das blosse Interesse des Geschädigten an einer
vereinfachten Direktschadenserledigung in der Literatur grundsätzlich
nicht als schutzwürdig anerkannt wird (MAURER, Schweizerisches
Unfallversicherungsrecht, S. 451). Selbst bei gegenteiliger Auffassung
würde sich im Ergebnis nichts ändern; denn angesichts der weitreichenden
Konsequenzen eines definitiven Leistungsverzichts ist stets zu prüfen,
ob ein solcher Verzicht nicht durch weniger weitgehende Massnahmen
entbehrlich wird. Im vorliegenden Fall darf nach den zutreffenden
bundesamtlichen Darlegungen davon ausgegangen werden, dass sich zumindest
jener Teil der Haftpflichtansprüche erledigen lässt, für den wegen des
Grundsatzes der sachlichen Kongruenz sicherlich keine IV-Leistungen
zu erwarten sind. Hinzu kommt, dass im Unterschied zur Rechtslage zur
Zeit der Abweisungsverfügungen (vom 27. Juli 1992 und 28. Oktober 1994)
die versicherungsmässigen Voraussetzungen nun erfüllt sind und es dem
Betroffenen möglich wäre, die künftig von der Invalidenversicherung zu
erwartenden Leistungen unpräjudiziell ermitteln zu lassen. Gegen einen
definitiven Verzicht spricht schliesslich auch der Umstand, dass mit den
regelmässigen Rentenleistungen des UVG-Versicherers die Gefahr einer
künftigen Fürsorgeabhängigkeit des Beschwerdeführers zwar verringert,
jedoch nicht aus der Welt geschafft wird.