Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 V 145



124 V 145

25. Urteil vom 26. Mai 1998 i.S. Ausgleichskasse Basel-Landschaft gegen P.
und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft Regeste

    Art. 5 Abs. 5 AHVG; Art. 8bis AHVV; Art. 7 Abs. 1 und 3 des
Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Französischen Republik über Soziale Sicherheit vom 3. Juli 1975: Ausnahme
geringfügiger Entgelte aus Nebenerwerb von der Beitragserhebung. Die in
Frankreich ausgeübte Erwerbstätigkeit kann als Haupterwerb gelten, der
es erlaubt, das in der Schweiz erzielte geringfügige Einkommen aus einer
Nebenerwerbstätigkeit im Sinne von Art. 8bis AHVV von der Beitragserhebung
auszunehmen. Frage offengelassen, ob dies auch im Verhältnis zu anderen
Staaten gilt.

Sachverhalt

    A.- Die in Frankreich wohnhafte französische Staatsangehörige
S. arbeitet seit 1. Februar 1990 während 38 Stunden in der Woche
bei der Société X (in Frankreich). Gleichzeitig war sie gelegentlich
nebenberuflich als Raumpflegerin bei P. (in der Schweiz) tätig. Am
4. Juli 1990 vereinbarten P. und S. den Verzicht auf die Abrechnung der
AHV/IV/EO/AlV-Beiträge auf den S. ausgerichteten Entgelten aus Nebenerwerb
bis zur Höhe von 2'000 Franken im Jahr.

    Mit vier Verfügungen vom 21. Juli 1994 verpflichtete die
Ausgleichskasse des Kantons Basel-Landschaft P. zur Nachzahlung
paritätischer AHV/IV/EO/AlV-Beiträge sowie von Beiträgen an die
Familienausgleichskasse im Gesamtbetrag von 605 Franken, einschliesslich
Verwaltungskosten, auf den S. in den Jahren 1990 bis 1993 ausbezahlten
Entgelten.

    B.- In Gutheissung der von P. hiegegen eingereichten Beschwerde hob
das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft die angefochtenen
Nachzahlungsverfügungen mit Entscheid vom 1. Juli 1996 auf. Zur
Begründung hielt es im wesentlichen fest, die Voraussetzungen für eine
Beitragsbefreiung seien gegeben, obwohl S. ihre Haupterwerbstätigkeit
in Frankreich ausübe, da der Sozialversicherungsschutz, welcher der
Arbeitnehmerin aufgrund ihrer Hauptbeschäftigung in Frankreich zustehe,
ausreichend gewährleistet sei.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragte die Ausgleichskasse,
der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.

    Während P. sich innert der gesetzten Frist nicht vernehmen liess,
gab das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) eine Stellungnahme ab,
in der es auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schloss.

    D.- Auf Ersuchen der Instruktionsrichterin reichte das BSV dem
Gericht mit Eingabe vom 8. Oktober 1997 die Materialien zu Art. 7 Abs. 3
des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Französischen Republik über Soziale Sicherheit vom 3. Juli 1975 (internes
Protokoll der Verhandlungen vom 23. bis 31. Oktober 1973) ein und erörterte
Einzelfragen zum Staatsvertrag.

    In der Folge wurde den Parteien Gelegenheit gegeben, sich im Rahmen
eines zweiten Schriftenwechsels zu den ergänzenden Ausführungen des BSV
zu äussern.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur soweit eingetreten
werden, als Sozialversicherungsbeiträge kraft Bundesrechts streitig
sind. Im vorliegenden Verfahren ist daher nicht zu prüfen, wie es
sich bezüglich der Beitragsschuld an die Ausgleichskasse für kantonale
Familienzulagen verhält (BGE 119 V 68 Erw. 2a mit Hinweisen).

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 7 des Abkommens zwischen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft und der Französischen Republik über Soziale Sicherheit
vom 3. Juli 1975 unterstehen Arbeitnehmer, die im Gebiet eines
Vertragsstaates erwerbstätig sind, unter Vorbehalt der vorliegend nicht
interessierenden Bestimmungen dieses Abschnittes, der Gesetzgebung dieses
Vertragsstaates, auch wenn sie im Gebiet des anderen Vertragsstaates wohnen
oder wenn sich ihr Arbeitgeber oder der Sitz des Unternehmens, das sie
beschäftigt, im Gebiet des anderen Vertragsstaates befindet (Abs. 1). Bei
gleichzeitiger Ausübung von zwei oder mehreren unselbständigen oder
selbständigen Erwerbstätigkeiten im Gebiet des einen und des anderen
Vertragsstaates untersteht nach Art. 7 Abs. 3 des Abkommens jede
dieser Erwerbstätigkeiten der Gesetzgebung desjenigen Vertragsstaates,
in dessen Gebiet sie ausgeübt wird. Bei Anwendung der Gesetzgebung des
einen Vertragsstaates kann die im Gebiet des anderen Vertragsstaates
ausgeübte Erwerbstätigkeit berücksichtigt werden.

    In der französischen Originalversion lautet Art. 7 Abs. 3 des Abkommens
wie folgt:

    "En cas d'exercice simultané de deux ou plusieurs activités
   professionnelles, salariées ou non salariées, sur le territoire de
   l'un ou de l'autre Etat, chacune de ces activités est régie par la
   législation de l'Etat sur le territoire duquel elle est exercée. Pour
   l'application de la législation de l'un des Etats, il peut être tenu
   compte de l'activité exercée sur le territoire de l'autre."

    b) Aufgrund des in Art. 7 Abs. 1 des Abkommens statuierten
Erwerbsortsprinzips (vgl. dazu BGE 114 V 132 Erw. 4a mit Hinweis)
untersteht die in Frankreich wohnhafte, in den Jahren 1990 bis 1993
sowohl in Frankreich als auch in der Schweiz erwerbstätige französische
Staatsangehörige S. in bezug auf den in der Schweiz ausgeübten Nebenerwerb
dem schweizerischen Recht, laut welchem sie obligatorisch versichert ist
(Art. 1 Abs. 1 lit. b AHVG). Nach Art. 7 Abs. 3 Satz 1 des Abkommens
und Art. 3 AHVG untersteht sodann das in der Schweiz erzielte Einkommen
grundsätzlich der Beitragspflicht in der Schweiz.

    c) Gemäss Art. 5 Abs. 5 Satz 1 AHVG kann der Bundesrat Vorschriften
erlassen, wonach geringfügige Entgelte aus Nebenerwerb mit Zustimmung
des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers nicht in den massgebenden Lohn
einbezogen werden. Gestützt auf diese Befugnis hat der Bundesrat Art. 8bis
AHVV erlassen. Danach können die von einem Arbeitgeber ausgerichteten
Entgelte, die für den Arbeitnehmer einen Nebenerwerb bilden und 2'000
Franken im Kalenderjahr nicht übersteigen, von der Beitragserhebung
ausgenommen werden.

Erwägung 3

    3.- Die Ausnahme geringfügiger Entgelte aus Nebenerwerb von der
Beitragserhebung setzt voraus, dass der Arbeitnehmer über einen Haupterwerb
verfügt. Streitig und zu prüfen ist, ob die von der Beschwerdegegnerin in
den Jahren 1990 bis 1993 an die ihre Haupterwerbstätigkeit in Frankreich
ausübende Arbeitnehmerin S. ausgerichteten geringfügigen Entgelte von
jährlich unter 2'000 Franken von der Beitragserhebung ausgenommen
werden können. Dies hängt davon ab, ob die in Frankreich ausgeübte
Erwerbstätigkeit als Haupterwerb gelten kann, der es erlaubt, das in der
Schweiz erzielte geringfügige Einkommen aus einer Nebenerwerbstätigkeit
im Sinne von Art. 8bis AHVV von der Beitragserhebung auszunehmen.

    a) Die Auslegung eines Staatsvertrages hat in erster Linie vom
Vertragstext auszugehen. Erscheint dieser klar und ist seine Bedeutung, wie
sie sich aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch sowie aus Gegenstand und Zweck
des Übereinkommens ergibt, nicht offensichtlich sinnwidrig, so kommt eine
über den Wortlaut hinausgehende ausdehnende bzw. einschränkende Auslegung
nur in Frage, wenn aus dem Zusammenhang oder der Entstehungsgeschichte
mit Sicherheit auf eine vom Wortlaut abweichende Willenseinigung der
Vertragsstaaten zu schliessen ist (BGE 121 V 43 Erw. 2c, 117 V 269 Erw. 3b
mit Hinweisen).

    b) Art. 7 Abs. 3 Satz 2 des Abkommens, wonach bei Anwendung
der Gesetzgebung des einen Vertragsstaates die im Gebiet des anderen
Vertragsstaates ausgeübte Erwerbstätigkeit berücksichtigt werden kann,
lässt nach seinem - sowohl in der französischen Originalfassung als auch
in der deutschen Übersetzung - klaren Wortlaut die Berücksichtigung der
in Frankreich ausgeübten Erwerbstätigkeit als Haupterwerb im Sinne der
Grundvoraussetzung für die Beitragsbefreiung gemäss Art. 5 Abs. 5 AHVG
in Verbindung mit Art. 8bis AHVV zu. Der Umstand, dass Art. 7 Abs. 3
Satz 2 auf Wunsch von Frankreich in den Staatsvertrag aufgenommen
wurde, um zu vermeiden, dass französische Staatsangehörige mit einer
selbständigen Haupttätigkeit in der Schweiz und einer unselbständigen
Nebenerwerbstätigkeit in Frankreich jeglichen Versicherungsschutz im
Falle von Krankheit verlieren, wie das BSV in der Eingabe vom 8. Oktober
1997 unter Hinweis auf das interne Protokoll der Vertragsverhandlungen
vom 23. bis 31. Oktober 1973 festhält, ist angesichts des in erster
Linie massgebenden Wortlautes nicht entscheidend. Weil die fragliche
Abkommensbestimmung in bilateraler Weise formuliert wurde, erlaubt sie den
Vertragsparteien, die Erwerbstätigkeiten im jeweils anderen Vertragsstaat
bei der Anwendung der eigenen Gesetzgebung zu berücksichtigen. Dabei fällt
eine beitragsmässige Erfassung des im anderen Staat erzielten Einkommens
offensichtlich ausser Betracht, da dies dem Erwerbsortsprinzip gemäss
Art. 7 Abs. 1 des Abkommens widerspräche. Hingegen steht nach Art. 7
Abs. 3 Satz 2 des Abkommens nichts entgegen, die in einem Staat ausgeübte
Haupttätigkeit bei der beitragsrechtlichen Erfassung der im anderen Staat
verrichteten Nebenerwerbstätigkeit anzurechnen.

    Gegen den Verzicht auf die Erhebung von Beiträgen auf geringfügigen
Entgelten aus Nebenerwerb bei Ausübung einer Haupterwerbstätigkeit in
Frankreich spricht auch nicht der auf Gewährung sozialer Sicherheit
ausgerichtete Schutzgedanke des Sozialversicherungsrechts. Wie die
Vorinstanz richtig dargelegt hat und das BSV in der Vernehmlassung zu Recht
bemerkt, sind Versicherte, die ihre Haupterwerbstätigkeit in Frankreich
verrichten, nach dem Erwerbsortsprinzip dem Sozialversicherungssystem
Frankreichs unterstellt, womit bei Eintritt eines Versicherungsfalls die
entsprechenden Leistungen der französischen Sozialversicherung fällig
werden. Dabei kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass das
französische Sozialversicherungssystem mit dem schweizerischen insoweit
gleichwertig ist, als die materielle Existenzsicherung der betroffenen
Personen bei Eintritt eines Versicherungsfalles in jedem der beiden
Staaten gewährleistet ist.

    c) Die Ausgleichskasse macht unter Hinweis auf den Gedanken der
Solidarität und den Zusammenhang zwischen Versicherteneigenschaft und
Beitragspflicht geltend, der Wegfall der Beitragspflicht unter Beibehaltung
der Versicherteneigenschaft sei nur dann zu rechtfertigen, wenn bereits
anderweitig Beiträge entrichtet würden. Ansonsten würden bei Eintritt
eines Invaliditätsfalles unter Umständen Leistungen fällig, ohne dass
der Versicherte je selbst Beiträge geleistet habe, was als stossend zu
betrachten wäre und nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen dürfte.

    Dieser Auffassung kann - zumindest mit Bezug auf den Rentenanspruch -
nicht gefolgt werden. Denn gemäss Art. 36 Abs. 1 IVG setzt der Anspruch
auf eine ordentliche Invalidenrente voraus, dass der Versicherte bei
Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge
an die schweizerische AHV/IV geleistet hat. Im übrigen sieht Art. 13 des
schweizerisch-französischen Abkommens ohnehin vor, dass für die Ermittlung
der Beitragsdauer, die als Bemessungsgrundlage für die ordentliche
schweizerische Invalidenrente eines französischen oder schweizerischen
Staatsangehörigen dient, die nach den französischen Rechtsvorschriften
zurückgelegten Versicherungszeiten wie schweizerische Beitragszeiten
berücksichtigt werden, soweit sie sich mit letzteren nicht überschneiden.
Hingegen werden für die Ermittlung des durchschnittlichen Jahreseinkommens
nur die schweizerischen Beitragszeiten und die ihnen entsprechenden
Einkommen berücksichtigt.

    Für die Beitragsdauer, welche für die Ermittlung der Rentenskala
entscheidend ist, sind demnach in einem Fall wie dem vorliegenden ohnehin
die in Frankreich zurückgelegten Versicherungszeiten mitzuberücksichtigen,
während für die Festsetzung des Rentenbetreffnisses innerhalb der
anwendbaren Rentenskala lediglich die in der Schweiz erzielten, hierorts
der Beitragspflicht unterstellten Einkommen massgebend sind.

    d) Ob die eingangs gestellte Rechtsfrage auch im Verhältnis zu
anderen Staaten zu bejahen wäre, braucht im vorliegenden Fall nicht
geprüft zu werden. Eine generelle Beantwortung der Frage, ob ein Verzicht
auf die Beitragserhebung bei geringfügigen Entgelten aus Nebenerwerb in
Betracht fällt, wenn die Haupttätigkeit ausserhalb der Schweiz verrichtet
wird, drängt sich umso weniger auf, als die jeweils massgebenden
Sozialversicherungsabkommen teilweise unterschiedliche Regelungen kennen.