Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 V 108



124 V 108

18. Urteil vom 10. März 1998 i.S. B. gegen IV-Stelle des Kantons Thurgau
und AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau Regeste

    Art. 8 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 1 IVG: anspruchsbegründende
Mindesterwerbseinbusse. Das Kriterium der annähernden Gleichwertigkeit
der Tätigkeiten enthält nicht nur einen quantitativen, sondern
auch einen qualitativen Aspekt. Bei der Beurteilung, ob die
für den Umschulungsanspruch rechtsprechungsgemäss geforderte
Erheblichkeitsschwelle (Erwerbseinbusse von zirka 20%) erreicht ist,
sind daher, insbesondere bei Berufen mit tiefen Anfangslöhnen, neben den
aktuellen Verdienstmöglichkeiten im Rahmen einer Prognose weitere Faktoren
wie Lohnentwicklung und Aktivitätsdauer mitzuberücksichtigen.

Sachverhalt

    A.- Der 1972 geborene B. ist gelernter Bäcker/Konditor und arbeitete
als solcher ab Oktober 1991 in der Bäckerei-Konditorei H. Wegen einer
berufsbedingten Rhinoconjunctivitis allergica bei Sensibilisierung
gegenüber diversen Mehlen sowie einer latenten Sensibilisierung gegenüber
Hausstaubmilben, welche zuletzt in eine Nichteignungsverfügung der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (vom 26. März 1996) für den
Bäckerberuf mündeten, wurde das Arbeitsverhältnis auf Ende 1994 aufgelöst.
Nachdem B. am 1. März 1996 bei der Konservenfabrik I. AG eine Stelle als
Betriebsmitarbeiter/Praktikant angetreten hatte, begann er innerhalb
der Firma ab August 1996 eine zweijährige Lehre als Konserven- und
Tiefkühltechnologe. Mit Verfügung vom 30. September 1996 lehnte die
IV-Stelle des Kantons Thurgau das Gesuch des Versicherten um Umschulung
auf eine neue Tätigkeit (vom 26. Februar 1996) ab mit der Begründung,
der Minderverdienst als Betriebsmitarbeiter erreiche die für den
Umschulungsanspruch vorausgesetzte Erheblichkeitsschwelle von 20% nicht.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies die AHV/IV-Rekurskommission
des Kantons Thurgau ab (Entscheid vom 24. April 1997).

    C.- B. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen,
in Aufhebung der vorinstanzlich bestätigten Ablehnungsverfügung sei die
IV-Stelle zu verpflichten, ihm für die Zeit der Umschulung das gesetzliche
Taggeld zu gewähren.

    Die IV-Stelle trägt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) (Erweiterte Kognition; vgl. BGE 121 V 220 Erw. 1, 120 V 448
Erw. 2 a/aa, 117 V 306 Erw. 1a).

    b) Wiewohl Ablehnungsverfügung und angefochtener Entscheid sich auf
den Umschulungsanspruch als solchen beziehen (Art. 17 IVG), ist auch der
Antrag auf Zusprechung eines Taggeldes (Art. 22 IVG) gemäss Rechtsbegehren
in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit Blick auf die Akzessorietät
dieses Leistungsanspruchs zur streitigen Eingliederungsmassnahme (BGE
114 V 140 Erw. 1a mit Hinweis) zulässig.

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 17 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf
Umschulung auf eine neue Erwerbstätigkeit, wenn die Umschulung infolge
Invalidität notwendig ist und dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich
erhalten oder wesentlich verbessert werden kann. Nach der Rechtsprechung
ist unter Umschulung grundsätzlich die Summe der Eingliederungsmassnahmen
berufsbildender Art zu verstehen, die notwendig und geeignet sind, dem vor
Eintritt der Invalidität bereits erwerbstätig gewesenen Versicherten eine
seiner früheren annähernd gleichwertige Erwerbsmöglichkeit zu vermitteln
(BGE 122 V 79 Erw. 3b/bb, 99 V 35 Erw. 2; ZAK 1988 S. 468 Erw. 2a,
1984 S. 91 oben). Dabei bezieht sich der Begriff der "annähernden
Gleichwertigkeit" nicht in erster Linie auf das Ausbildungsniveau als
solches, sondern auf die nach erfolgter Eingliederung zu erwartende
Verdienstmöglichkeit (BGE 122 V 79 Erw. 3b/bb; ZAK 1988 S. 470 Erw. 2c,
1978 S. 517 Erw. 3a). In der Regel besteht nur ein Anspruch auf die dem
jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen,
nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren
(BGE 121 V 260 Erw. 2c, 118 V 212 Erw. 5c, 110 V 102 Erw. 2; ZAK 1988
S. 468 Erw. 2a). Denn das Gesetz will die Eingliederung lediglich so weit
sicherstellen, als diese im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist
(BGE 121 V 260 Erw. 2c, 115 V 198 Erw. 4e/cc, 206 oben; ZAK 1992 S. 210
Erw. 3a).

    Zu den notwendigen und geeigneten Eingliederungsmassnahmen
berufsbildender Art zählen alle zur Eingliederung ins Erwerbsleben
unmittelbar erforderlichen Vorkehren. Deren Umfang lässt sich
nicht in abstrakter Weise festlegen, indem ein Minimum an Wissen
und Können vorausgesetzt wird und nur diejenigen Massnahmen als
berufsbildend anerkannt werden, die auf dem angenommenen Minimalstand
aufbauen. Auszugehen ist vielmehr von den Umständen des konkreten
Falles. Der Versicherte, der infolge Invalidität zu einer Umschulung
berechtigt ist, hat Anspruch auf die gesamte Ausbildung, die in seinem
Fall notwendig ist, damit die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten
oder wesentlich verbessert werden kann (AHI 1997 S. 85 Erw. 1 mit Hinweis).

    b) Der Umschulungsanspruch setzt eine Invalidität oder die unmittelbare
Bedrohung durch eine solche voraus (Art. 8 Abs. 1 IVG). Als invalid im
Sinne von Art. 17 IVG gilt, wer nicht hinreichend eingegliedert ist,
weil der Gesundheitsschaden eine Art und Schwere erreicht hat, welche die
Ausübung der bisherigen Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise unzumutbar
macht. Dabei muss der Invaliditätsgrad ein bestimmtes erhebliches
Mass erreicht haben; nach der Rechtsprechung ist dies der Fall, wenn
der Versicherte in den ohne zusätzliche berufliche Ausbildung noch
zumutbaren Erwerbstätigkeiten eine bleibende oder längere Zeit dauernde
Erwerbseinbusse von etwa 20 Prozent erleidet (AHI 1997 S. 80 Erw. 1b;
ZAK 1984 S. 91 oben, 1966 S. 439 Erw. 3).

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall geht aus den Akten hervor und ist
unbestritten, dass der Beschwerdeführer seiner angestammten Tätigkeit als
Bäcker/Konditor gesundheitsbedingt nicht mehr nachgehen kann. Streitig
und zu prüfen ist dagegen, ob er im Hinblick auf die bei der Firma I. AG
ausgeübte Hilfsarbeitertätigkeit als in zureichender und zumutbarer
Weise eingegliedert zu gelten hat (ZAK 1968 S. 350 Erw. 3, 1963 S. 137;
Rz. 41 des Kreisschreibens des Bundesamtes für Sozialversicherung über
die Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art, gültig ab 1. Januar 1983).

    a) Verwaltung und Vorinstanz haben dies bejaht mit der Begründung,
dass der Beschwerdeführer im Jahr 1996 laut Auskunft des ehemaligen
Arbeitgebers (vom 7. Mai 1996) als Bäcker/Konditor Fr. 3'500.-- im Monat
hätte verdienen können. Demgegenüber habe er vom 1. März bis Ende Juli
1996 als Betriebsmitarbeiter in der Firma I. AG einen Monatslohn von
Fr. 3'200.-- erzielt. Dieses Salär entspreche in etwa der Lohnhöhe für
leichte Arbeiten, zumal gemäss Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für
Statistik für das Jahr 1994 für einfache und repetitive, sehr leichte
Tätigkeiten bei Ansätzen für Frauen von einem monatlichen Lohnniveau
von Fr. 3'152.-- (Zentralwert) bis Fr. 3'248.-- (arithmetisches Mittel)
ausgegangen werden könne. Damit aber sei die rechtsprechungsgemäss
geforderte Erheblichkeitsschwelle von 20% nicht erreicht, was einen
Anspruch auf Umschulungsmassnahmen ausschliesse.

    b) Dieser Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden. Es trifft zwar
zu, dass für die Beurteilung der Gleichwertigkeit im Sinne der erwähnten
Rechtsprechung in erster Linie auf die miteinander zu vergleichenden
Erwerbsmöglichkeiten im ursprünglichen und im neuen Beruf oder in einer
dem Versicherten zumutbaren Tätigkeit abzustellen ist. Dabei geht es
jedoch nicht an, den Anspruch auf Umschulungsmassnahmen - gleichsam im
Sinne einer Momentaufnahme - ausschliesslich vom Ergebnis eines auf den
aktuellen Zeitpunkt begrenzten Einkommensvergleichs, ohne Rücksicht auf den
qualitativen Ausbildungsstand einerseits und die damit zusammenhängende
künftige Entwicklung der erwerblichen Möglichkeiten anderseits, abhängen
zu lassen. Vielmehr ist im Rahmen der vorzunehmenden Prognose (BGE 110 V
102 Erw. 2) unter Berücksichtigung der gesamten Umstände nicht nur der
Gesichtspunkt der Verdienstmöglichkeit, sondern der für die künftige
Einkommensentwicklung ebenfalls bedeutsame qualitative Stellenwert der
beiden zu vergleichenden Berufe mitzuberücksichtigen. Die annähernde
Gleichwertigkeit der Erwerbsmöglichkeit in der alten und neuen Tätigkeit
dürfte auf weite Sicht nur dann zu verwirklichen sein, wenn auch die
beiden Ausbildungen einen einigermassen vergleichbaren Wert aufweisen
(AHI 1997 S. 86 Erw. 2b; Meyer-Blaser, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz
im staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 186). Diesbezüglich
weist der Beschwerdeführer zu Recht darauf hin, dass es Personen ohne
Berufsausbildung nachgerade bei schwieriger Arbeitsmarktlage wie heute
schwer haben, überhaupt eine Stelle zu finden, geschweige denn eine gut
bezahlte. Zudem sind Hilfsarbeiterstellen den periodisch wiederkehrenden
konjunkturellen oder strukturellen betrieblichen Anpassungen
anerkanntermassen in viel ausgeprägterem Masse ausgesetzt als qualifizierte
Mitarbeiter. Zu berücksichtigen ist aber auch der Umstand, dass die
Einkommensentwicklung bei Arbeitnehmern mit und ohne Berufsausbildung
nicht gleichmässig verläuft. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass in
zahlreichen Berufsgattungen der Anfangslohn nach Lehrabschluss nicht oder
nicht wesentlich höher liegt als gewisse Hilfsarbeitersaläre, dafür aber
in der Folgezeit um so stärker anwächst. Diesen Umständen ist bei der
Prüfung der Frage der Gleichwertigkeit Rechnung zu tragen.

    c) Im Lichte dieser Grundsätze ist der Anspruch des Beschwerdeführers
auf Umschulung zu bejahen. Die von ihm ausgeübte Tätigkeit als
Betriebsmitarbeiter/Praktikant kann im Vergleich zum gelernten Beruf als
Bäcker/Konditor nicht als auch nur annähernd gleichwertig im Sinne der
Rechtsprechung betrachtet werden. Daran vermag der Umstand, dass er vor dem
Lehrantritt im August 1996 mit der erwähnten Hilfstätigkeit eine prozentual
nur geringe Lohneinbusse zu verzeichnen hat, nichts zu ändern. Entscheidend
ist, dass das berufliche Fortkommen und damit die Erwerbsaussichten als
Hilfsarbeiter mittel- bis längerfristig betrachtet nicht im gleichen
Masse gewährleistet sind wie im angestammten Beruf. Dagegen ist von
der - als angemessen zu qualifizierenden - Umschulung zum Konserven-
und Tiefkühltechnologen eine erhebliche einkommensmässige Besserstellung
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erwarten, was um so wichtiger ist,
als es sich beim Beschwerdeführer um einen noch jungen Versicherten mit
langer verbleibender Aktivitätsdauer handelt (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 IVG).

Erwägung 4

    4.- (Kosten und Parteientschädigung)