Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 I 6



124 I 6

2. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 20.
Januar 1998 i.S. X. gegen Kantonsgericht St. Gallen (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV und Art. 22ter BV, Art. 59 StGB, Legalitätsprinzip,
Ersatzforderung für unrechtmässigen Vorteil.

    Hinreichende gesetzliche Grundlage im kantonalen Recht für die
Einziehung eines unrechtmässigen Vorteils (E. 4a).

    Rechtsprechung zur Bemessung der Ersatzforderung (E. 4b/bb);
Abweichungen vom Bruttoprinzip (E. 4b/cc).

    Verfassungswidrigkeit der Anwendung des Bruttoprinzips in Anbetracht
des kantonalen Rechts, des Verhältnismässigkeitsprinzips und der Natur
der Widerhandlung (E. 4b/dd).

Sachverhalt

    X. ist Tierarzt im Kanton St. Gallen. In seiner Tierarztpraxis
verwendete er während Jahren zwei bei der IKS nicht registrierte
tiermedizinische Heilmittel. Für die Abgabe dieser Medikamente wurde X. vom
Kantonsgericht St. Gallen im Berufungsverfahren der Widerhandlung gegen
die kantonale Gesundheitsgesetzgebung für schuldig befunden, mit einer
Busse von Fr. 5'000.-- bestraft und zur Herausgabe des dem gesamten Umsatz
mit den nicht registrierten Heilmitteln entsprechenden unrechtmässigen
Vorteils von Fr. 695'000.-- verpflichtet.

    Gegen dieses Urteil des Kantonsgerichts hat X. beim Bundesgericht
staatsrechtliche Beschwerde erhoben und u.a. die Ersatzforderung und deren
Höhe beanstandet. Er rügt eine Verletzung von Art. 4 und Art. 22ter BV; er
macht insbesondere geltend, es fehle an einer hinreichenden gesetzlichen
Grundlage für die Einziehung in der Form der Ersatzforderung und deren
Bemessung nach dem sog. Bruttoprinzip halte vor der Verfassung nicht stand.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in diesem Punkte gut und hebt
die angefochtene Ersatzforderung auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer ficht schliesslich Ziff. 3 des Dispositivs
des kantonsgerichtlichen Urteils an, wonach er dem Staat als Ersatz für
den unrechtmässigen Vorteil aus der Verwendung der beiden Medikamente
den Gesamtbetrag von Fr. 695'000.-- abzuliefern hat. Dieser Betrag
entspricht dem Umsatz, den der Beschwerdeführer mit den beiden nicht
zugelassenen Medikamenten erzielt hat. In diesem Zusammenhang beanstandet
er zur Hauptsache, dass bei der Festsetzung der Ersatzforderung das
sog. Bruttoprinzip angewendet worden ist. Er macht insbesondere eine
Verletzung des Legalitätsprinzips, eine Verletzung der Eigentumsgarantie
sowie eine willkürliche bzw. unrichtige Anwendung des kantonalen Rechts
geltend.

    Für die Behandlung dieser Punkte ist davon auszugehen, dass der
Beschwerdeführer mit der gewerbsmässigen Abgabe der beiden Heilmittel
gegen Art. 2 Abs. 1 der Heilmittelverordnung des Kantons St. Gallen
(HMV, Gesetzessammlung 314.3) verstossen hat. Eine eigentliche Einziehung
dieser Mittel ist heute in Anbetracht der erfolgten Verwendung nicht mehr
möglich. Es kann sich daher lediglich die Frage nach einer Ersatzforderung
stellen. Das Kantonsgericht stützte seinen Entscheid in dieser Hinsicht
auf Art. 58 Abs. 4 aStGB bzw. Art. 59 Ziff. 2 Abs. 1 StGB, welche nach dem
Übertretungsstrafgesetz des Kantons St. Gallen (Gesetzessammlung 921.1)
als kantonales Recht Anwendung finden.

    a) An erster Stelle rügt der Beschwerdeführer, für das im vorliegenden
Fall bei der Bemessung der Ersatzforderung angewandte Bruttoprinzip fehle
es an einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage. Es kann offen gelassen
werden, ob diese Rüge den Begründungsanforderungen von Art. 90 Abs. 1
lit. b OG überhaupt genügt.

    Das kantonale Übertretungsstrafgesetz ist ein formelles
Gesetz. Es legt fest, dass die allgemeinen Bestimmungen des StGB
für das Strafrecht des Kantons (als kantonales Recht) Anwendung
finden. Das Übertretungsstrafgesetz enthält damit eine (sog. dynamische)
Verweisung. Allgemein werden Verweisungen nicht als verfassungswidrig
betrachtet (vgl. BGE 123 I 112 E. 7c S. 127 ff.). Die Verweisung
im Übertretungsstrafgesetz auf das StGB ist klar und eindeutig.
Klarerweise bezieht sie sich u.a. auf Art. 58 Abs. 4 aStGB bzw. Art. 59
Ziff. 2 Abs. 1 StGB und umschliesst damit auch Ersatzforderungen des
Gemeinwesens gegen einen Straftäter. Ebenso eindeutig ist, dass die
Verweisung - den kantonalen Zuständigkeiten im Bereiche des Strafrechts
entsprechend - lediglich Übertretungen umfasst. In bezug auf die Einziehung
bzw. auf die Ersatzforderung erweist sich daher das kantonale Recht als
hinreichend bestimmt und klar. Es ist mithin davon auszugehen, dass das
kantonale Recht die Einziehung und die Ersatzforderung bei Straftaten
klar vorsieht. Insoweit ist die Rüge der Verletzung des Legalitätsprinzips
unbegründet. Die Frage aber, wie die Ersatzforderung berechnet wird bzw. ob
das Bruttoprinzip oder allenfalls andere Grundsätze angewendet werden,
betrifft nicht die gesetzliche Grundlage, sondern deren Anwendung.

    b) aa) Die im vorliegenden Fall festgelegte Ersatzforderung stellt
einen schweren Eingriff in das Eigentum des Beschwerdeführers dar. Aus
diesem Grunde ist die Anwendung des kantonalen Rechts frei zu prüfen.

    bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts soll Art. 58 Abs. 4
aStGB bzw. Art. 59 Ziff. 2 Abs. 1 StGB verhindern, dass der Täter im
Genuss eines durch eine strafbare Handlung erlangten Vermögensvorteils
bleibt; strafbares Verhalten soll sich nicht lohnen (BGE 117 IV 107
S. 110, mit Hinweisen). Im einzelnen führt der Kassationshof des
Bundesgerichts aus, bei der Einziehung bestünden keine Anhaltspunkte
dafür, dass die Gestehungskosten abgezogen werden könnten. Die Anordnung
einer Ersatzforderung wolle den Straftäter, der die an sich einzuziehenden
Gegenstände nicht mehr besitzt, gleichstellen mit demjenigen, der sie noch
hat. Es widerspräche daher der ratio legis, wenn bei der Berechnung der
Ersatzforderung die Gestehungskosten in Abzug gebracht werden könnten
(BGE 109 IV 121 E. 2b S. 124; 105 IV 21 S. 24; 103 IV 142 S. 145, mit
Hinweisen). Aus diesen Gründen sei bei der Bemessung der Ersatzforderung
grundsätzlich vom Bruttoprinzip auszugehen (BGE 103 IV 142 E. 2 S. 143;
109 IV 121 E. 2b S. 124; 119 IV 17 E. 2a S. 20; 123 IV 70 E. 3 S. 73,
mit Hinweisen). Dabei gelte es immerhin das Verhältnismässigkeitsprinzip
zu beachten; insbesondere sei die Ersatzforderung zu reduzieren, soweit
die Wiedereingliederung des Betroffenen gefährdet erscheine oder die
Forderung zum vornherein uneinbringlich sei (BGE 123 IV 55 S. 57; 122 IV
299 E. 3 S. 302; 119 IV 17 S. 20 f.; 106 IV 9 E. 2 S. 9; 106 IV 336; 105
IV 21 E. 2 S. 23; 103 IV 142 S. 146); diese Reduktionsmöglichkeiten sind
nunmehr in Art. 59 Ziff. 2 Abs. 2 StGB verankert. Diese Rechtsprechung ist
in der Doktrin hinsichtlich der Anwendung des Bruttoprinzips teilweise
auf Kritik, teilweise auf Zustimmung gestossen (vgl. die Hinweise bei
GÜNTHER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II,
Bern 1989, S. 497 ff., STEFAN TRECHSEL, Kurzkommentar zum Schweizerischen
Strafgesetzbuch, 2. Auflage 1997, Rz. 10 ff. zu Art. 59).

    cc) Im Jahre 1991 hatte der Kassationshof des Bundesgerichts im
Zusammenhang mit einer Widerhandlung gegen das Kriegsmaterialgesetz über
eine Einziehung von Kriegsmaterial zu befinden. Er hielt dafür, dass die
Rückerstattung eines allfälligen Verwertungserlöses an den Straftäter als
bisherigen Eigentümer mit dem Bundesrecht im Einklang stehe. Das Gericht
hat zudem auf Spezialgesetze hingewiesen, welche ausdrücklich vorsehen,
dem Straftäter - nach Abzug von Busse und Kosten - einen allfälligen
Reinerlös zurückzugeben (BGE 117 IV 345).

    Im gleichen Sinne bestimmt Art. 56 des Gesundheitsgesetzes des
Kantons St. Gallen (GesG, Gesetzessammlung 311.1) ausdrücklich, dass
der bisherige Eigentümer den Erlös aus der Verwertung der eingezogenen
Gegenstände nach Abzug der Kosten erhält. Diese Vorschrift über die
Rückerstattung eines Verwertungserlöses bedeutet einen Einbruch in
das reine Bruttoprinzip. Schon bei der Einziehung soll demnach das
Bruttoprinzip nicht absolut zur Anwendung kommen. Daraus ist zu schliessen,
dass auch die Ersatzforderung nicht rein nach dem Bruttoprinzip zu bemessen
ist, da die Ersatzforderung, wie dargelegt, bezweckt, den Straftäter, der
die an sich einzuziehenden Gegenstände nicht mehr besitzt, gleichzustellen
mit demjenigen, der sie noch hat. Die ausdrückliche Regelung im kantonalen
Recht ermöglicht daher ein Abgehen vom Bruttoprinzip.

    In einer Waadtländer Angelegenheit ist ein Grundeigentümer, der
anstelle von drei bewilligten Wohnungen sechs Studios errichtet und
sie ohne Bewilligung vermietet hatte, bestraft und zur Leistung einer
Ersatzforderung verurteilt worden. Ausgehend von Mietzinseinnahmen von
Fr. 110'000.-- und der Annahme, dass die Zinsen nicht ohne Gegenleistung
eingenommen worden sind, wurde die Ersatzforderung auf Fr. 50'000.--
festgelegt. Die dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung von Art. 4 BV hat das Bundesgericht abgewiesen (Urteil vom
7. August 1991 i.S. B., 1P.27/1991).

    Schliesslich gilt nach der Rechtsprechung ganz allgemein, dass die
Einziehung dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit verpflichtet ist. Was
insofern für die Einziehung gilt, hat auch für die Ersatzforderung
Gültigkeit. Die Ersatzforderung muss sich daher als verhältnismässig
erweisen und - wie nunmehr in Art. 59 Ziff. 2 Abs. 2 StGB festgehalten -
die Einbringlichkeit und die Wiedereingliederung berücksichtigen. Der
Verhältnismässigkeit ist allgemein Rechnung zu tragen, auch wenn im
vorliegenden Fall die spezifischen Gründe von Art. 59 Ziff. 2 Abs. 2
StGB nicht gegeben sind. Die Verhältnismässigkeit der Ersatzforderung
erlaubt es daher ebenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, vom reinen
Bruttoprinzip abzugehen. Es braucht unter diesem Gesichtswinkel
nicht abstrakt entschieden zu werden, ob bei Übertretungen die
Anwendung des Bruttoprinzips grundsätzlich unverhältnismässig sei,
wie der Beschwerdeführer meint. Es darf aber berücksichtigt werden,
dass Ersatzforderungen bei blossen Übertretungen selten sind und das
reine Bruttoprinzip kaum je angewendet wird. Der Beschwerdeführer
verweist denn auch auf Beispiele wie die Missachtung von Laden- oder
Restaurantöffnungszeiten oder die Anstellung von Schwarzarbeitern; solche
Sachverhalte dürften wohl - wie auch das Beispiel aus dem Kanton Waadt
zeigt - kaum je zur Abschöpfung des gesamten Umsatzes führen.

    dd) Im vorliegenden Fall hat das Kantonsgericht eingeräumt, der
Beschwerdeführer habe die von ihm verschriebenen Medikamente für sehr
wirksam eingestuft, damit die Kosten seiner Kunden stark vermindert und
daher nicht in erster Linie aus Gewinnstreben gehandelt. Dieser macht
glaubhaft, dass er im Vergleich zu IKS-registrierten Medikamenten bei
den rechtswidrig verordneten Mitteln nur eine geringe(re) Marge bezogen
hatte. Die Ersatzforderung von Fr. 695'000.-- ist sehr hoch und stellt
für den Beschwerdeführer einen schwerwiegenden Eingriff dar.

    Bei dieser Sachlage erscheint es gesamthaft gesehen als stossend und
mit Art. 4 BV und Art. 22ter BV unvereinbar, wenn der Beschwerdeführer zur
Rückbezahlung des gesamten Umsatzes verpflichtet wird. Die Anwendung des
reinen Bruttoprinzips berücksichtigt in einem Fall wie dem vorliegenden
weder die kantonalrechtlich vorgesehene Möglichkeit der Erstattung des
Verwertungserlöses noch den Grundsatz der Verhältnismässigkeit und nimmt
auch nicht Rücksicht auf die bei andern Übertretungen geübte Praxis. Aus
diesem Grunde ist die Beschwerde in diesem Punkte gutzuheissen. Das
Kantonsgericht wird die Ersatzforderung demnach neu festzulegen haben. Bei
der Bemessung wird es vom reinen Bruttoprinzip absehen müssen und nicht
allein auf den Umsatz abstellen dürfen.