Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 I 322



124 I 322

39. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16.
Oktober 1998 i.S. A. gegen Regierungsrat und Verwaltungsgericht des
Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

    Ein erstinstanzlicher Nichteintretensentscheid infolge Nichtbezahlung
des Kostenvorschusses betrifft jedenfalls solange keine zivilrechtliche
Streitigkeit im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, als dadurch die
Durchsetzung eines zivilrechtlichen Anspruchs nicht rechtlich oder faktisch
verunmöglicht wird (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Dr. med. A. stellte am 4. Juni 1993 an die Gesundheitsdirektion
des Kantons Zürich ein Gesuch um Erteilung der generellen Bewilligung,
Heroinabhängigen im Rahmen einer Behandlung Methadon zu verschreiben
oder abzugeben. Mit Schreiben vom 12. November 1993 teilte die
Gesundheitsdirektion A. mit, sie könne dem Gesuch nicht stattgeben. Am 16.
Dezember 1993 ersuchte A. die Gesundheitsdirektion, in Wiedererwägung
ihres Entscheides die Methadonbewilligung zu erteilen, eventuell eine
rekursfähige Verfügung zu erlassen.

    Die Gesundheitsdirektion setzte A. am 21. Dezember 1993 Frist zur
Bezahlung eines Kostenvorschusses, unter Androhung des Nichteintretens im
Unterlassungsfall. Sie begründete dies damit, A. habe die ihm in einem
früheren Verfahren auferlegten Verfahrenskosten nicht bezahlt. Nachdem
A. den Vorschuss nicht bezahlt hatte, trat die Gesundheitsdirektion
des Kantons Zürich mit Verfügung vom 28. Januar 1994 auf das Begehren
um Erteilung einer Methadonbewilligung nicht ein. A. erhob dagegen am
21. Februar 1994 Rekurs an den Regierungsrat des Kantons Zürich. Darin
brachte er unter anderem vor, durch das nichtöffentliche Verfahren werde
Art. 6 EMRK verletzt.

    Der Regierungsrat wies den Rekurs ab. Dagegen erhob A. Beschwerde
an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich. Darin verlangte er unter
anderem, die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK seien «vollumfänglich
anzuwenden». Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich wies mit Entscheid
vom 27. November 1997 die Beschwerde ab.

    A. erhebt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Entscheid
des Verwaltungsgerichts aufzuheben.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer rügt - wie sinngemäss bereits vor den
kantonalen Instanzen - eine Verletzung des Anspruchs auf ein mündliches
Verfahren.

    a) Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK besteht in allen zivilrechtlichen
Streitigkeiten ein Anspruch darauf, dass die Sache «öffentlich»
gehört wird. Das Urteil muss zudem öffentlich verkündet werden. Die
Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung stellt ein fundamentales Prinzip
dar, das nicht nur für den Einzelnen wichtig ist, sondern ebenso sehr als
Voraussetzung für das Vertrauen in das Funktionieren der Justiz erscheint
(Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 20. Mai 1998
i.S. Gautrin, Ziff. 39 ff.; vom 24. November 1997 i.S. Werner, Ziff. 45
und i.S. Szücs, Ziff. 41 ff., je mit Hinweisen; BGE 124 IV 234 E. 3b; 121
I 30 E. 5d S. 35; 121 II 22 E. 4c S. 27 f.; je mit Hinweisen). Nach der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte müssen
in zivilrechtlichen Streitigkeiten die Parteien grundsätzlich zumindest
einmal im ganzen Verfahren Gelegenheit haben, ihre Argumente mündlich in
einer öffentlichen Sitzung einem unabhängigen Gericht vorzutragen, soweit
sie nicht ausdrücklich oder stillschweigend auf die Durchführung eines
öffentlichen Verfahrens verzichtet haben (BGE 121 I 30 E. 5d-f S. 35
ff.). Jedoch kann unter gewissen Umständen auf die Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung verzichtet werden, wenn eine Verhandlung nichts
zur Klärung der Streitigkeit beiträgt, namentlich wenn keine Tatfragen,
sondern reine Rechts- oder Zulässigkeitsfragen umstritten sind (Urteile des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 19. Februar 1998 i.S.
Jacobsson, Ziff. 49; vom 23. Februar 1994 i.S. Fredin, Série A 283-A,
Ziff. 20 ff.; BGE 120 V 1 E. 3e S. 9; MARK E. VILLIGER, Probleme der
Anwendung von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf verwaltungs- und sozialgerichtliche
Verfahren, AJP 1995 S. 163-171, 168). Diese Praxis rechtfertigt sich
insbesondere im Lichte des ebenfalls in Art. 6 Ziff. 1 EMRK enthaltenen
Gebots der Verfahrensbeschleunigung (vgl. Urteil des Europäischen
Gerichtshofes vom 24. Juni 1993 i.S. Schuler-Zgraggen, Série A 263,
Ziff. 58; PETTITI/DÉCAUX/IMBERT, La Convention européenne des droits de
l'homme: Commentaire article par article, Paris 1995, S. 267).

    b) Die Erteilung bzw. Verweigerung einer gewerbe- oder
gesundheitspolizeilichen Bewilligung für eine privatwirtschaftliche
Tätigkeit stellt eine zivilrechtliche Streitigkeit im Sinne von Art. 6
Ziff. 1 EMRK dar (Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
vom 19. April 1993 i.S. Kraska, Série A 254-B, Ziff. 23 ff.; RUTH HERZOG,
Art. 6 EMRK und kantonale Verwaltungsrechtspflege, Diss. Bern 1995, S. 47
ff.). Es kann offen bleiben, ob das auch gilt, wenn die Bewilligung für
eine spezielle Tätigkeit, wie die hier im Streit stehende, verweigert
wird. Selbst sofern das bejaht würde, wäre - wie sich aus dem Folgenden
ergibt - die Rüge unbegründet.

    c) Vorliegend geht es nicht um die materiellrechtliche Frage, ob die
Verweigerung der Methadonbewilligung zulässig sei. Ebenso wenig geht es
um die Festlegung der Verfahrenskosten, was - sofern die Hauptsache
zivilrechtlich ist - allenfalls als zivilrechtliche Streitigkeit
zu beurteilen wäre (vgl. Urteil des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte vom 23. September 1997 i.S. Robins, Ziff. 29). Zur
Diskussion steht einzig, ob es zulässig war, auf das Gesuch des
Beschwerdeführers mangels Bezahlung des Kostenvorschusses nicht
einzutreten.

    d) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte gilt der Zugang zu einem Gericht im Sinne von Art. 6
EMRK nicht absolut; er steht vielmehr unter dem Vorbehalt, dass die
einschlägigen Verfahrensvorschriften eingehalten werden. Die Staaten haben
einen Ermessensspielraum in der Ausgestaltung von Verfahrensvorschriften;
diese müssen jedoch ein legitimes Ziel verfolgen und dürfen das
Recht auf Zugang zu einem Gericht nicht seiner Substanz berauben oder
in unverhältnismässiger Weise einschränken (Urteil des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte vom 19. Februar 1998 i.S. Edificaciones
March Gallego SA, Ziff. 34; vom 23. Oktober 1996 i.S. Levages Prestations
Services, Ziff. 40). Sind diese Voraussetzungen eingehalten und tritt
eine Behörde auf ein Gesuch oder ein Rechtsmittel nicht ein, weil die
entsprechenden Verfahrensvorschriften aus einem Grund, den die Partei zu
vertreten hat, nicht eingehalten sind, ist Art. 6 EMRK nicht verletzt
(zit. Urteil i.S. Edificaciones March Gallego SA, Ziff. 35 ff.). Der
Nichteintretensbeschluss kann ohne Verhandlung und öffentliche Beratung
gefällt werden (MIEHSLER/VOGLER, IntKomm EMRK, Rz. 339 zu Art. 6; nicht
publizierte Urteile des Bundesgerichts vom 7. Juli 1993 i.S. P., E. 2;
vom 30. November 1990 i.S. G., E. 2; vom 10. März 1987 i.S. B., E. 5).

    Es ist insbesondere mit Art. 6 EMRK vereinbar, das Eintreten auf
ein Gesuch oder Rechtsmittel von der rechtzeitigen Bezahlung eines
Kostenvorschusses abhängig zu machen (Entscheide der Europäischen
Kommission für Menschenrechte vom 12. Oktober 1994 i.S. Müller,
Ziff. 2; vom 6. Mai 1993 i.S. Wassmer; VILLIGER, aaO, S. 167). Wird
der Kostenvorschuss nicht bezahlt, so braucht der daraufhin ergehende
Nichteintretensentscheid nicht in einer öffentlichen Verhandlung gefällt
zu werden (Entscheid der Europäischen Kommission für Menschenrechte
vom 17. Mai 1995 i.S. Müller, auszugsweise publiziert in VPB 1996
Nr. 112). In einem Entscheid, in welchem es um eine im Sinne von Art. 6
EMRK strafrechtliche Anschuldigung ging, entschied zwar der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte, Art. 6 Ziff. 1 EMRK sei auch anwendbar,
wenn ein oberinstanzliches Gericht auf ein Rechtsmittel mangels Bezahlung
des Kostenvorschusses nicht eintrete; doch lag in jenem Fall eine
Verletzung von Art. 6 EMRK darin, dass der Beschwerdeführer überhaupt
nicht die Gelegenheit erhielt, auf die Vorbringen der Behörde zu antworten
(Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 27. März
1998 i.S. J.J., Ziff. 39 ff.). Eine öffentliche Verhandlung über den
Nichteintretensentscheid wurde auch dort nicht verlangt.

    e) Vorliegend steht nicht das Nichteintreten auf ein Rechtsmittel vor
einem Gericht zur Diskussion, sondern das Nichteintreten auf ein Gesuch
an eine Verwaltungsbehörde, welche erstinstanzlich entscheidet. Der
Anspruch auf Öffentlichkeit gilt nur für das Verfahren vor Gerichten,
nicht aber für das verwaltungsinterne Verfahren. Umso weniger kann ein
öffentliches Verfahren verlangt werden, wenn es bloss darum geht, ob eine
Verwaltungsbehörde mit Recht auf ein Gesuch nicht eingetreten ist. Denn
dieser Nichteintretensentscheid schafft keine materielle Rechtskraft
hinsichtlich des mit dem Gesuch Verlangten. Der Gesuchsteller kann
sein Gesuch neu einreichen und einen Entscheid in der Sache erwirken,
den er anschliessend vor einem Verwaltungsgericht anfechten kann,
welches die Garantien von Art. 6 EMRK einhält. Die Frage, ob der
Nichteintretensentscheid zulässig war, stellt demnach keine zivilrechtliche
Streitigkeit dar. Anders könnte es sich höchstens verhalten, wenn entweder
die Verfahrensvorschriften für den Verwaltungsentscheid so prohibitiv
wären, dass im Ergebnis der zivilrechtliche Anspruch praktisch nicht mit
zumutbarem Aufwand durchgesetzt werden könnte, oder wenn aus rechtlichen
oder faktischen Gründen ein entsprechendes Gesuch später nicht mehr
gestellt werden könnte, so dass mit dem Entscheid, das Nichteintreten sei
zulässig gewesen, im Ergebnis der zivilrechtliche Anspruch auch in der
Sache endgültig abgewiesen würde. Ist dies aber nicht der Fall, so wird
mit dem Nichteintreten einzig eine verfahrensrechtliche Frage beantwortet,
die keinerlei Auswirkungen auf das zivile Recht hat.

    f) Vorliegend wurde vom Beschwerdeführer für den Erlass einer
erstinstanzlichen Verfügung ein Kostenvorschuss von Fr. 300.--
verlangt. Dieser Betrag kann nicht als unverhältnismässig betrachtet
werden. Hätte der Beschwerdeführer den verlangten Kostenvorschuss
geleistet, hätte die Gesundheitsdirektion einen materiellen Entscheid
gefällt, den der Beschwerdeführer in einem EMRK-konformen Verfahren
hätte anfechten können. Der Kostenvorschuss wäre an die ohnehin
zu leistende Bewilligungsgebühr angerechnet bzw. ein allfälliger
Überschuss zurückerstattet worden. Der Nichteintretensentscheid entfaltet
zudem keinerlei materielle Rechtskraft bezüglich der Berechtigung des
Beschwerdeführers, Methadon abzugeben. Es steht diesem frei, ein neues
Gesuch einzureichen. Wenn er sich stattdessen in schwer verständlicher
Weise der Bezahlung des nicht prohibitiv hohen Kostenvorschusses
widersetzte und sich darauf konzentrierte, den Nichteintretensentscheid
anzufechten, hat er es selber zu vertreten, dass bisher kein Entscheid
in der Sache und in einem EMRK-konformen Verfahren erging.