Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 I 304



124 I 304

37. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23.
September 1998 i.S. S. gegen Gesundheits- und Fürsorgedirektion sowie
Verwaltungsgericht des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege betreffend ein
Verfahren, in dem die Zulässigkeit von medizinischen Zwangsmassnahmen in
Frage steht.

    Voraussetzungen des aus Art. 4 BV abgeleiteten Anspruchs auf
unentgeltliche Rechtspflege; Kognition des Bundesgerichts in Bezug auf Tat-
und Rechtsfragen (E. 2).

    Beurteilung der Aussichtslosigkeit einer Beschwerde unter
Berücksichtigung, dass sich schwierige Rechtsfragen stellen und der
Kerngehalt der persönlichen Freiheit berührt ist (E. 4).

Sachverhalt

    A.- S. wurde vom 18. Februar bis zum 18. März 1997 wegen schwer
wahnhaftdeliranten Zuständen verbunden mit Polytoxikomanie in der
Klinik Waldau der psychiatrischen Universitätsklinik Bern behandelt. Am
5. Oktober 1997 wurde er gestützt auf einen fürsorgerischen Freiheitsentzug
wegen Selbstgefährdung und Behandlungsbedürftigkeit erneut in diese
Klinik eingewiesen. Der Regierungsstatthalter II von Bern ordnete am
14. Oktober 1997 für vorläufig sechs Wochen die stationäre Begutachtung
von S. an. Den gegen diese Verfügung erhobenen Rekurs wies die kantonale
Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen am 23. Oktober
1997 ab. Am 18. November 1997 verfügte der Regierungsstatthalter, S. sei
für unbestimmte Zeit in der Klinik zurückzubehalten.

    Am 2. Januar 1998 entwich S. während eines Spaziergangs aus der
Klinik. Am Abend des 5. Januar 1998 kehrte er aus eigenem Antrieb dorthin
zurück. Am folgenden Tag wurde er in die Akutstation und kurz darauf
ins Isolierzimmer verlegt, wo er zur Einnahme von Medikamenten gezwungen
wurde. Am 8. Januar 1998 forderte der Verein X. die Klinik schriftlich
auf, S. aus dem Isolierzimmer zu entlassen und die Zwangsmedikation
einzustellen. Die Klinik antwortete darauf mit Schreiben vom 9. Januar
1998, dass die entsprechenden Vorbereitungen im Gange seien.

    Am 14. Januar 1998 beschwerte sich der inzwischen anwaltlich
vertretene S. bei der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des
Kantons Bern gegen die Klinik und beantragte die Feststellung, dass
die Zwangsmedikation und die Einschliessung im Isolierzimmer sein
Grundrecht auf persönliche Freiheit sowie verschiedene Bestimmungen
der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK; SR 0.101) verletzten;
gleichzeitig ersuchte er um Erlass vorsorglicher Massnahmen und um
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Am 17. Januar 1998 durfte S.
das Isolierzimmer verlassen. Ein von ihm gestelltes Gesuch um Entlassung
aus der Klinik wies die kantonale Rekurskommission für fürsorgerische
Freiheitsentziehungen am 28. Januar 1998 in zweiter Instanz ab.

    Die kantonale Gesundheits- und Fürsorgedirektion trat am 9. Februar
1998 auf das Gesuch um Erlass vorsorglicher Massnahmen nicht ein und
wies den Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege wegen materieller
Aussichtslosigkeit der Beschwerde vom 14. Januar 1998 ab; in der
Sache selbst fällte sie keinen Entscheid. Gegen die Nichtgewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege beschwerte sich S. beim kantonalen
Verwaltungsgericht, wobei er auch für dieses Verfahren die unentgeltliche
Rechtspflege beantragte. Das Verwaltungsgericht wies die Beschwerde sowie
den prozessualen Antrag am 21. April 1998 ab.

    Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts hat S. am 25. Mai 1998
staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht erhoben. Unter Berufung
auf Art. 4 BV beantragt er, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die
kantonalen Instanzen seien anzuweisen, ihm für das hängige Hauptverfahren
die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren; der Beschwerdeführer ersucht
auch für das bundesgerichtliche Verfahren um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt,
und hebt den angefochtenen Entscheid auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege ergibt sich
als Minimalgarantie direkt aus Art. 4 BV, soweit das kantonale
Recht keine weitergehenden Ansprüche gewährt (BGE 121 I 60 E. 2a
mit Hinweisen). Art. 111 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über die
Verwaltungsrechtspflege des Kantons Bern vom 23. Mai 1989 (VRPG)
gewährleistet keine über Art. 4 BV hinausgehenden Rechte (THOMAS
MERKLI/ARTHUR AESCHLIMANN/RUTH HERZOG, Kommentar zum Gesetz über die
Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, Bern 1997, N. 1 zu Art. 111 VRPG),
so dass der geltend gemachte Anspruch gestützt auf die bundesgerichtliche
Praxis zu Art. 4 BV zu prüfen ist.

    Art. 4 BV verschafft einer bedürftigen Partei in einem für sie nicht
aussichtslosen Verfahren den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege,
der auch die Vertretung durch einen unentgeltlichen Rechtsbeistand
umfasst, sofern ein solcher zur gehörigen Interessenwahrung erforderlich
ist. Dieser Anspruch gilt nach neuerer Rechtsprechung des Bundesgerichts
als verfassungsmässige Minimalgarantie auch in Verwaltungsverfahren
(BGE 122 I 267 E. 2 mit Hinweisen).

    b) Dass der Beschwerdeführer bedürftig ist und seine Interessen im
Beschwerdeverfahren auf sich alleine gestellt nicht zu wahren vermag, steht
hier nicht in Frage. Die unentgeltliche Rechtspflege ist im angefochtenen
Entscheid allein deshalb verweigert worden, weil das Beschwerdebegehren
zum Vornherein aussichtslos sei.

    c) Als aussichtslos sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
Prozessbegehren anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich
geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft
bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos,
wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage
halten oder jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist,
ob eine Partei, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, sich
bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde; eine
Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht
führen würde, nicht deshalb anstrengen können, weil er sie nichts kostet
(BGE 122 I 267 E. 2b mit Hinweisen).

    Die Rüge einer bedürftigen Partei, ihr verfassungsmässiger Anspruch
auf unentgeltliche Rechtspflege sei verletzt, prüft das Bundesgericht
in rechtlicher Hinsicht frei, in tatsächlicher dagegen nur unter dem
Gesichtspunkt der Willkür (BGE 111 Ia 5 E. 1 und 109 Ia 5 E. 1 mit
Hinweisen). Ob im Einzelfall genügende Erfolgsaussichten bestehen,
beurteilt sich nach den Verhältnissen zur Zeit, in der das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege gestellt wird (BGE 122 I 5 E. 4a). Dabei ist
Rechtsfrage, welche Umstände bei der Beurteilung der Prozessaussichten in
Betracht fallen und ob sie für oder gegen eine hinreichende Erfolgsaussicht
sprechen, Tatfrage hingegen, ob und wieweit einzelne Tatumstände erstellt
sind.

Erwägung 3

    3.- a) In seiner Beschwerde vom 14. Januar 1998 an die Gesundheits-
und Fürsorgedirektion beantragte der Beschwerdeführer die formelle
Feststellung, dass die seit dem 6. Januar 1998 andauernde Einschliessung im
Isolierzimmer der Klinik sowie die seither vorgenommene Zwangsmedikation
sein Grundrecht der persönlichen Freiheit sowie die Art. 3 und 8 EMRK
verletzten. Gleichzeitig beantragte er die Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege. Zur Begründung brachte er insbesondere vor, die beanstandeten
Massnahmen hätten sich unter den konkreten Umständen nicht aufgedrängt,
zumal er sich in urteilsfähigem Zustand befunden habe. Zwar sei
er am 2. Januar 1998 aus der Klinik entwichen und habe nach seiner
freiwilligen Rückkehr am 5. Januar 1998 mit lautem Singen ein Musikstück
begleitet. Dies rechtfertige jedoch keine derart weitgehende Einschränkung
seiner Grundrechte. Die Isolierung stelle eine unzulässige Disziplinierung
dafür dar, dass er die von der Klinik tolerierte Entfernungsfrist von drei
Tagen um eine Stunde überschritten habe. Die zwangsweise Verabreichung der
Medikamente verletze zudem Art. 14 Abs. 1 des kantonalen Dekrets über die
Rechte und Pflichten der Patientinnen und der Patienten in öffentlichen
Spitälern vom 14. Februar 1989 (PatD), weil er - in urteilsfähigem
Zustand - klar zum Ausdruck gebracht habe, dass er die Medikamente nicht
einnehmen wolle.

    Die Gesundheits- und Fürsorgedirektion trat gestützt auf eine
Stellungnahme der Klinik mit Verfügung vom 9. Februar 1998 auf die
Beschwerde nicht ein, weil das aktuelle Rechtsschutzinteresse zufolge
der zwischenzeitlichen Entlassung aus dem Isolierzimmer weggefallen
sei. Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wies
sie wegen Aussichtslosigkeit ab. Zu dieser negativen Beurteilung
der Prozessaussichten war sie nach einer summarischen Prüfung der
Akten, insbesondere der Krankengeschichte, gelangt. Auch den Umstand,
dass die Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen
ein Entlassungsgesuch des Beschwerdeführers am 28. Januar 1998 wegen
Selbst- und Fremdgefährdung abgewiesen hatte, zog die Gesundheits- und
Fürsorgedirektion in ihre Erwägungen mit ein.

    b) Im Verfahren vor Verwaltungsgericht, in dem allein die Verweigerung
der unentgeltlichen Rechtspflege Verfahrensgegenstand war, stellte der
Beschwerdeführer erneut die medizinisch-therapeutische Notwendigkeit der
beanstandeten Zwangsmassnahmen in Frage und machte zusätzlich geltend,
die damit verbundenen Eingriffe in die persönliche Freiheit liessen sich
auf keine ausreichende gesetzliche Grundlage stützen.

    Das Verwaltungsgericht ist im angefochtenen Urteil nach eingehender
Prüfung der Angelegenheit zum Schluss gelangt, der vom Beschwerdeführer
angestrengte Prozess sei aussichtslos. Es ist in tatsächlicher Hinsicht
davon ausgegangen, dass er während der Isolierung und Zwangsmedikation
urteilsunfähig war und hat in seinen rechtlichen Erwägungen ausgeführt,
Art. 16 Abs. 2 PatD, wonach die Ärzte bei vorübergehend oder dauernd
urteilsunfähigen Patienten ohne gesetzliche Vertretung nach pflichtgemässem
Ermessen handeln, genüge als Rechtsgrundlage für eine kurzfristige
Isolation und Zwangsmedikation. Die Verhältnismässigkeit dieser Massnahmen
hat das Verwaltungsgericht in Anlehnung an die Begründung der Vorinstanz
bejaht.

    c) In seiner staatsrechtlichen Beschwerde macht der Beschwerdeführer
geltend, das Verwaltungsgericht sei bei der Beurteilung des Gesuchs um
unentgeltliche Rechtspflege zu Unrecht von der Aussichtslosigkeit des
Hauptverfahrens ausgegangen. Zur Begründung wiederholt er im Wesentlichen
die vor Verwaltungsgericht vorgebrachten Rügen. Zudem wirft er diesem in
Bezug auf die Auslegung von Art. 111 VRPG und die Würdigung der vorhandenen
Beweise Willkür vor.

Erwägung 4

    4.- a) Das Verwaltungsgericht hat die Rüge, die Eingriffe in die
persönliche Freiheit des Beschwerdeführers liessen sich nicht auf eine
genügende Rechtsgrundlage stützen, in einer abschliessenden Art und Weise
materiell beurteilt, wie sie Gegenstand des Hauptverfahrens bildet,
jedoch nicht bereits des Zwischenverfahrens betreffend Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege sein darf. Es hatte sich offenbar erstmals
mit der Frage, ob und inwiefern Art. 16 Abs. 2 PatD als Rechtsgrundlage
für ärztliche Zwangseingriffe ausreicht, auseinanderzusetzen. Angesichts
der Schwere der mit solchen Eingriffen verbundenen Beschränkungen der
persönlichen Freiheit von Patienten einerseits sowie der weit gefassten
Formulierung von Art. 16 Abs. 2 PatD andererseits handelt es sich dabei um
ein heikles rechtliches Problem, dessen Lösung eine besonders sorgfältige
Prüfung und Interessenabwägung erfordert. Umso mehr ist zu beanstanden,
dass das Verwaltungsgericht einerseits die Antwort auf eine Rechtsfrage
präjudiziert hat, welche gar nicht Gegenstand des Verfahrens war, und
es andererseits versäumt hat, die Gewinnaussichten der aufgeworfenen
Rechtsfrage summarisch einzuschätzen.

    b) Isolierung und Zwangsmedikation berühren den Kerngehalt des
Grundrechts der persönlichen Freiheit. Dem Prinzip der Verhältnismässigkeit
entsprechend darf von derart weitgehenden Massnahmen nur mit der
gebotenen Zurückhaltung Gebrauch gemacht werden. Damit der Richter in
der Lage ist, die Verhältnismässigkeit solcher Eingriffe zu beurteilen,
sind an die Aussagekraft einer Krankengeschichte hohe Anforderungen
zu stellen. Je schwerer ein Eingriff wiegt, desto sorgfältiger ist
er folglich zu begründen. Da mit der Zwangsmedikation und der mehr
als zehntägigen Isolierung massiv in die persönliche Freiheit des
Beschwerdeführers eingegriffen wurde, sind seine Rügen auch unter diesem
Gesichtspunkt zu würdigen. Es muss hier offen bleiben, ob die vorliegende
Krankengeschichte diesen hohen Begründungsanforderungen genügt und ob die
durch das Verwaltungsgericht vorweggenommene Begründung in der Hauptsache
haltbar ist. Da sich erstmals zu beantwortende komplexe Rechtsfragen
stellten und bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der fraglichen
Eingriffe ein Ermessensspielraum besteht, war eine Schlussfolgerung
hinsichtlich des Ausgangs des Hauptverfahrens äusserst schwierig. Dies
gilt namentlich für die Beurteilung der zeitlichen Angemessenheit der
Isolierung; schliesslich enthält die Krankengeschichte für den Zeitraum
vom 7. bis 16. Januar 1998 nur wenige Aussagen über den Gesundheitszustand
des Beschwerdeführers. Unter diesen Umständen durften die Gewinnaussichten
des vom Beschwerdeführer angestrengten Feststellungsverfahrens im Vergleich
zu den Verlustgefahren nicht als beträchtlich geringer gewertet werden.