Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 I 216



124 I 216

27. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23.
Juni 1998 i.S. Franziska Fritschi gegen Polizei- und Militärdirektion sowie
Verwaltungsgericht des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Art. 69 und Art. 132 KV/BE; Gesetz vom 4. März 1973 über
den Strassenverkehr und die Besteuerung der Strassenfahrzeuge (SBS);
Dekret vom 10. Mai 1972 über die Besteuerung der Strassenfahrzeuge
(Fahrzeugsteuerdekret, DBS); Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen an
das kantonale Parlament im Bereich des Abgaberechts.

    Indem das Gesetz vom 4. März 1973 über den Strassenverkehr und die
Besteuerung der Strassenfahrzeuge die Bemessung der Motorfahrzeugsteuer dem
Grossen Rat als Dekretsgeber überlässt, nimmt es eine nach Art. 69 Abs. 4
KV/BE nicht mehr zulässige Delegation vor; der auf dieser Delegation
beruhende Art. 5 des Fahrzeugsteuerdekrets ist somit heute formell
verfassungswidrig (E. 4c).

    Formell verfassungswidrig gewordene Bestimmungen dürfen nach Art. 132
Abs. 1 KV/BE zwar vorläufig in Kraft bleiben; hingegen verletzt
die am 28. Juni 1995 in Form einer Dekretsänderung beschlossene
Erhöhung der Motorfahrzeugsteuer neben Art. 69 Abs. 4 auch die
Übergangsbestimmung von Art. 132 Abs. 1 Satz 2 KV/BE und damit den in
diesen Verfassungsvorschriften zum Ausdruck kommenden Grundsatz der
Gewaltentrennung (E. 6).

Sachverhalt

    Am 19. Januar 1996 stellte das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt des
Kantons Bern Franziska Fritschi für die Motorfahrzeugsteuer 1996 Fr. 712.20
in Rechnung. Die dagegen erhobene Einsprache wies das Strassenverkehrs-
und Schiffahrtsamt am 27. März 1996 ab. Hiergegen gelangte Franziska
Fritschi erfolglos an die Polizei- und Militärdirektion sowie an das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern.

    Gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 21. April
1997 hat Franziska Fritschi am 21. Mai 1997 beim Bundesgericht
staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Sie macht geltend, die streitige
Motorfahrzeugsteuerveranlagung beruhe auf einer ungenügenden gesetzlichen
Grundlage und verletze damit Art. 4 BV sowie Art. 69 Abs. 4 lit. b und
Art. 132 Abs. 1 der bernischen Kantonsverfassung vom 6. Juni 1993 (KV/BE).

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt den angefochtenen
Entscheid auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die umstrittene Motorfahrzeugsteuerveranlagung bzw. der
entsprechende Beschwerdeentscheid stützt sich auf das Dekret vom
10. Mai 1972 über die Besteuerung der Strassenfahrzeuge (im folgenden:
Fahrzeugsteuerdekret; DBS), welches sich seinerseits auf das Gesetz
vom 4. März 1973 über den Strassenverkehr und die Besteuerung der
Strassenfahrzeuge (SBS) stützt. Gemäss Art. 9 SBS ist für Strassenfahrzeuge
mit Standort im Kanton Bern, die auf öffentlichen Strassen verkehren,
eine Steuer zu entrichten, wobei sich diese nach der Zahl der Tage der
Zulassung zum Verkehr und dem Gesamtgewicht des Fahrzeuges bemisst. Der
Grosse Rat bestimmt durch Dekret die Besteuerungsgrundlagen und regelt
Abstufung, Bezug und Verwendung der Steuern (Art. 11 SBS). Gemäss Art. 5
des Fahrzeugsteuerdekrets (in der Fassung vom 28. Juni 1995) beträgt die
Normalsteuer Fr. 360.-- für die ersten 1'000 Kilogramm; für je weitere
1'000 Kilogramm ermässigt sich die Steuer um 14% des Steuersatzes der
vorangehenden Tonne; vor der Dekretsänderung vom 28. Juni 1995 betrug
die Normalsteuer Fr. 324.-- für die ersten 1'000 Kilogramm.

    Die Beschwerdeführerin macht geltend, die
Motorfahrzeugsteuerveranlagung für das Jahr 1996 entbehre einer genügenden
gesetzlichen Grundlage, denn seit dem Inkrafttreten der neuen bernischen
Verfassung vom 6. Juni 1993 am 1. Januar 1995 hätte die Änderung eines
Steuertarifs nur nach Massgabe von Art. 69 Abs. 4 lit. b sowie Art. 132
Abs. 1 KV/BE und damit in Form eines referendumsfähigen Gesetzes erfolgen
dürfen; die Änderung des Fahrzeugsteuerdekrets vom 28. Juni 1995 verletze
somit die neue bernische Kantonsverfassung.

Erwägung 3

    3.- a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kommt dem
Erfordernis der gesetzlichen Grundlage im Abgaberecht die Bedeutung
eines verfassungsmässigen Rechts zu, dessen Verletzung selbständig,
unmittelbar gestützt auf Art. 4 BV, mit staatsrechtlicher Beschwerde
geltend gemacht werden kann. Öffentliche Abgaben bedürfen grundsätzlich
einer Grundlage in einem formellen Gesetz, d.h. normalerweise in einem
dem Referendum unterstehenden Erlass (BGE 120 Ia 265 E. 2a S. 266,
mit Hinweisen). Indessen können auch allein vom Parlament beschlossene
Erlasse die Funktion des formellen Gesetzes erfüllen, wenn die betreffende
kantonale Verfassungsordnung dies so vorsieht, sind doch die Kantone
von Bundesrechts wegen nicht gehalten, ihre Gesetze dem Referendum
zu unterstellen (BGE 118 Ia 245 E. 3b S. 248, 320 E. 3a S. 324). Aus
diesem Grunde kann für die vorliegend interessierende Frage, ob nach dem
1. Januar 1995 eine Erhöhung der Motorfahrzeugsteuer in der Form einer
Dekretsänderung zulässig war, aus dem bundesrechtlichen Legalitätsprinzip
im Abgaberecht nichts abgeleitet werden.

    b) Die Beschwerdeführerin kann sich indessen auch auf das durch
sämtliche Kantonsverfassungen garantierte Prinzip der Gewaltentrennung
berufen, welches das Bundesgericht seit jeher als Individualrecht
der Bürger anerkannt hat. Sein Inhalt ergibt sich jeweils aus dem
kantonalen Recht, wobei das Bundesgericht die Auslegung der einschlägigen
Verfassungsbestimmungen frei, jene des Gesetzesrechts dagegen lediglich
auf Willkür hin prüft (BGE 121 I 22 E. 3a S. 25, mit Hinweisen).

Erwägung 4

    4.- a) Gemäss Art. 69 Abs. 1 KV/BE können Befugnisse des Volkes an
den Grossen Rat und an den Regierungsrat übertragen werden, falls die
Delegation auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt ist und das Gesetz den
Rahmen der Delegation festlegt. Art. 69 Abs. 4 KV/BE bestimmt, dass alle
grundlegenden und wichtigen Rechtssätze des kantonalen Rechts in der Form
des Gesetzes zu erlassen sind. Dazu gehören unter anderem Bestimmungen über
den Gegenstand von Abgaben, die Grundsätze ihrer Bemessung und den Kreis
der Abgabepflichtigen mit Ausnahme von Gebühren in geringer Höhe (lit. b).

    b) Die Kantonsverfassung versteht gemäss Art. 69 Abs. 4 in Verbindung
mit Art. 62 Abs. 1 lit. a unter Gesetzen im formellen Sinne Erlasse
des Grossen Rates, welche Rechtssätze verankern und dem fakultativen
Referendum unterstehen (WALTER KÄLIN/URS BOLZ, Handbuch des bernischen
Verfassungsrechts, Bern 1995, S. 129).

    Im Gegensatz dazu sind Dekrete Erlasse des Grossen Rates, welche
dieser gestützt auf eine gesetzliche Ermächtigung verabschieden kann, um
Gesetzesbestimmungen "näher auszuführen" (Art. 74 Abs. 1 KV/BE). Im Bereich
des Dekrets ist die Mitwirkung des Volkes ausgeschlossen. Es handelt
sich bei dieser Erlassform um auf Delegation beruhende (unselbständige)
parlamentarische Verordnungen. Dekretsbefugnisse, die sich direkt aus der
Verfassung ergeben, kennt die Kantonsverfassung nicht mehr. Dekrete sind
für die Regelung von Angelegenheiten reserviert, welche zwar nicht die
Wichtigkeit von Gesetzesbestimmungen erreichen, aber doch zuviel Gewicht
besitzen, um der Exekutive überlassen zu werden; sie sind insbesondere
für Verordnungsrecht mit erhöhtem Legitimationsbedarf geeignet (WALTER
KÄLIN/URS BOLZ, aaO, S. 132).

    c) Das Gesetz vom 4. März 1973 über den Strassenverkehr und die
Besteuerung der Strassenfahrzeuge regelt zwar, für welche Strassenfahrzeuge
die Steuer zu entrichten ist und dass sich diese nach der Zahl der Tage
der Zulassung zum Verkehr und dem Gesamtgewicht des Fahrzeuges richtet
(vgl. E. 2); es delegiert jedoch in Art. 11 die Befugnis zur Bestimmung
der Besteuerungsgrundlagen an den Grossen Rat, welcher in Art. 1 Abs. 2
des Fahrzeugsteuerdekrets den Kreis der Abgabepflichtigen präzisiert
(die Fahrzeughalter) und in Art. 5 ff. den Steuertarif festlegt.

    Indem das Gesetz die Bemessung der Motorfahrzeugsteuer dem Grossen
Rat als Dekretsgeber überlässt, nimmt es eine nach Art. 69 Abs. 4 KV/BE
nicht mehr zulässige Delegation vor; der auf dieser Delegation beruhende
Art. 5 des Fahrzeugsteuerdekrets ist somit heute formell verfassungswidrig.

Erwägung 5

    5.- Gemäss Art. 132 Abs. 1 KV/BE bleiben Erlasse, die von einer nicht
mehr zuständigen Behörde oder in einem nicht mehr zulässigen Verfahren
geschaffen worden sind, vorläufig in Kraft, denn der Verfassungsgeber
erachtete es als weder sinnvoll noch machbar, alle diese recht zahlreichen
Bestimmungen innert kurzer Frist zu ändern. Dabei betrifft diese Regelung
namentlich Dekretsbestimmungen, die gestützt auf Art. 69 Abs. 4 oder
Art. 95 Abs. 2 KV/BE neu auf Gesetzesstufe zu erlassen sind, sowie Dekrete,
die sich unmittelbar auf die alte Verfassung abstützten (WALTER KÄLIN/URS
BOLZ, aaO, S. 574).

    Damit durfte der Kanton Bern auch nach dem Inkrafttreten der
neuen Kantonsverfassung die Motorfahrzeugsteuer noch nach Art. 5 des
Fahrzeugsteuerdekrets (in der Fassung vor der Änderung vom 28. Juni 1995)
erheben.

Erwägung 6

    6.- a) Die strittige Motorfahrzeugsteuerveranlagung stützt sich
indessen auf Art. 5 DBS in seiner Form vom 28. Juni 1995 und damit auf
eine Dekretsänderung, welche der Grosse Rat nach dem Inkrafttreten der
neuen Kantonsverfassung beschlossen hat, indem er die Normalsteuer per
1. Januar 1996 für die ersten 1'000 Kilogramm von Fr. 324.-- auf Fr. 360.--
heraufsetzte.

    Die Beschwerdeführerin betrachtet diese Dekretsänderung als mit
Art. 132 Abs. 1 KV/BE unvereinbar, wonach sich die Änderung von Erlassen,
die von einer nicht mehr zuständigen Behörde oder in einem nicht mehr
zulässigen Verfahren geschaffen worden sind, nach der neuen Verfassung
richtet.

    Das Verwaltungsgericht liess die Frage, ob das Fahrzeugsteuerdekret
auf einer den Anforderungen der neuen Kantonsverfassung genügenden
gesetzlichen Ermächtigung beruhe, offen. Es erwog, ein allfälliger
delegationsrechtlicher Mangel könne durch eine Dekretsänderung nicht
behoben werden; nur die Aufnahme der heute auf Dekretsstufe geregelten
Bemessungskriterien in ein formelles Gesetz könnte eine formelle
Verfassungswidrigkeit in diesem Punkt beheben.

    Trotzdem ist das Verwaltungsgericht der Auffassung, dass im
vorliegenden Fall die umstrittene Änderung des Fahrzeugsteuerdekrets
nicht gegen Art. 132 Abs. 1 KV/BE verstosse:

    Es argumentiert, die staatliche Tätigkeit und ihre Finanzierung
könnten in der Übergangszeit empfindlich beeinträchtigt werden, wenn
unmittelbar mit dem Inkrafttreten der neuen Kantonsverfassung die Revision
von belastenden Dekretsbestimmungen wie den interessierenden generell und
unbesehen des jeweiligen Revisionsgegenstands untersagt werden sollte;
dies habe aber der Verfassungsgeber mit Art. 132 Abs. 1 KV/BE gerade
vermeiden wollen. Das Verwaltungsgericht weist ferner darauf hin, dass
ein Gesetzgebungsprojekt über die Besteuerung von Strassenfahrzeugen
hängig sei.

    b) Diese Argumentation überzeugt nicht: Für Abwägungen zwischen
den staatlichen Finanzbedürfnissen und der Gewichtigkeit eines
delegationsrechtlichen Mangels lässt die Übergangsregelung von Art. 132
Abs. 1 KV/BE grundsätzlich keinen Raum. Der bernische Verfassungsgeber
hat zwischen dem Ziel, die neue Zuständigkeitsordnung durchzusetzen, und
der Notwendigkeit, Rechtslücken und damit verbundene Beeinträchtigungen
der Staatstätigkeit zu vermeiden, selber bereits eine Abwägung getroffen,
indem er formell verfassungswidrig gewordenen Erlassen zwar einstweilen
noch Gültigkeit zuerkennt, aber die zuständigen Rechtsetzungsorgane, wenn
die betreffenden Bestimmungen geändert werden sollen, zur Legiferierung
in der neu vorgeschriebenen Form verpflichtet.

    c) Auf die Frage, wie weit die Pflicht zur Anpassung bei blossen
Teilrevisionen eines formell mangelhaften Erlasses reicht - ob jeweils der
ganze Erlass oder nur gerade die von der Revision erfassten Bestimmungen
mit der neuen Ordnung in Einklang zu bringen sind -, braucht hier
nicht weiter eingegangen zu werden. Die Pflicht zur Anpassung gilt
jedenfalls für die unmittelbar geänderten Bestimmungen, was bedeutet,
dass die vorliegend in Frage stehende Erhöhung der Motorfahrzeugsteuer die
Schaffung entsprechender Grundlagen auf Gesetzesstufe voraussetzt. Dass
mittlerweile ein solches Gesetz vom Parlament verabschiedet worden ist,
rechtfertigt keine Abweichung von der Regel des Art. 132 Abs. 1 KV/BE;
ebensowenig der Umstand, dass die Auswirkungen der Steuererhöhung für
die Beschwerdeführerin mässig sind bzw. zum Teil nur eine Anpassung an
die Teuerung darstellen.

    d) Das Verwaltungsgericht hätte daher die streitige Steuererhöhung,
weil sie in Verletzung von Art. 69 Abs. 4 KV/BE und Art. 132 Abs. 1 Satz 2
KV/BE beschlossen wurde, als unwirksam betrachten müssen; der angefochtene
gegenteilige Entscheid verletzt den in genannten Verfassungsvorschriften
zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Gewaltentrennung.

    Nachdem die Revision von Art. 5 DBS vom 28. Juni 1995 als ungültig
zu betrachten ist, wird die Beschwerdeführerin für das Jahr 1996 nach
dem niedrigeren bisherigen Tarif zu besteuern sein.