Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 IV 234



124 IV 234

39. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 18. Mai 1998 i.S. W. gegen
Bundesamt für Zivilluftfahrt Regeste

    Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II; Art. 27 Abs.  3,
Art. 64 und 65 VStrR. Verwaltungsstrafrecht; Strafbescheid; öffentliche
Urteilsverkündung.

    Zulässigkeit der Beschwerde; Legitimation (E. 1).

    Strafbescheid und Strafverfügung sind einem allfälligen Anzeiger oder
Geschädigten nicht zu eröffnen (E. 2).

    Der Strafbescheid im abgekürzten Verfahren (Art. 65 VStrR) ist ein
Entscheid über eine strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 Ziff. 1
EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II (E. 3c).

    Der Grundsatz der öffentlichen Urteilsverkündung gilt auch für
den Strafbescheid im abgekürzten Verfahren; die Auflage bei einer der
Öffentlichkeit zugänglichen Kanzlei genügt (E. 3c und 3e).

    Berechtigte, wie jedenfalls der Anzeiger, haben grundsätzlich Anspruch
auf Kenntnisnahme des vollständigen, ungekürzten und nicht anonymisierten
Strafurteils (E. 3d und 3e).

Sachverhalt

    A.- Am 19. Juli 1997 erstattete W. beim Bundesamt für Zivilluftfahrt
(BAZL) Strafanzeige gegen den Piloten eines einmotorigen Sportflugzeuges
(Kennzeichen HB-UEB), weil dieser die Ortschaft Quinten/SG
dreimal in einer Höhe von weniger als 100 m überflogen habe. Für das
Verwaltungsstrafverfahren beantragte W. Parteistellung als Geschädigter und
volles Akteneinsichtsrecht, was nach dem Rechtsdienst auch der Direktor des
Bundesamtes für Zivilluftfahrt ablehnte. Eine von W. dagegen gerichtete
Beschwerde wies die Anklagekammer des Bundesgerichts mit Urteil vom
17. November 1997 ab.

    B.- Mit Schreiben vom 4. Dezember 1997 beantragte W. dem Bundesamt
für Zivilluftfahrt, in die Strafverfügung in dieser Sache Einsicht nehmen
zu können. Der untersuchende Beamte lehnte dies unter Berufung auf das
erwähnte Urteil der Anklagekammer ab.

    Eine dagegen gerichtete Beschwerde von W. vom 24. Dezember 1997 wies
der Direktor des Bundesamtes für Zivilluftfahrt am 22. Januar 1998 ab.C.-
Mit Beschwerde vom 29. Januar 1998 beantragt W. der Anklagekammer des
Bundesgerichts, den Beschwerdeentscheid des Direktors des Bundesamtes
für Zivilluftfahrt aufzuheben und ihm Einsicht in den Endentscheid
des Bundesamtes für Zivilluftfahrt im Verwaltungsstrafverfahren zu
gewähren. Eventuell sei die Spruchgebühr angemessen zu reduzieren.

    Das Bundesamt für Zivilluftfahrt beantragt, die Beschwerde abzuweisen,
soweit darauf einzutreten sei.D.- Auf Verlangen der Anklagekammer reichte
das Bundesamt für Zivilluftfahrt die gesamten Strafakten ein, mit dem
Ersuchen, diese dem Beschwerdeführer nicht zur Einsichtnahme zur Verfügung
zu stellen. Den Strafakten ist zu entnehmen, dass gegen den angezeigten
Piloten im abgekürzten Verfahren am 13. Februar 1998 ein Strafbescheid
erlassen wurde, der in Rechtskraft erwachsen ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Der Beschwerdeführer rügt, durch die ihm verweigerte Einsicht
in den rechtskräftigen Endentscheid gegen den fehlbaren Piloten sei
der sich aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK ergebende Grundsatz der öffentlichen
Urteilsverkündung verletzt worden.

    b) Mit der Beschwerde gemäss Art. 27 Abs. 3 des Bundesgesetzes über
das Verwaltungsstrafrecht (VStrR; SR 313.0) gegen eine andere Amtshandlung
bzw. gegen Säumnis kann der vom Entscheid der Verwaltung Betroffene die
Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich die Überschreitung oder den
Missbrauch des Ermessens rügen. Diese Beschwerdemöglichkeit erstreckt
sich auf die Tätigkeit der Verwaltung während des durch sie geführten
Verwaltungsstrafverfahrens, d.h. von Beginn des Untersuchungsverfahrens
bis zu dessen Abschluss. Mit der Beschwerde gemäss Art. 27 Abs. 3
VStrR kann somit auch gerügt werden, beim Erlass der die Untersuchung
abschliessenden Endverfügung der Verwaltung habe diese Bundesrecht
verletzt. Zum Erlass der Endverfügung ist auch die Art und Weise der
Urteilsverkündung zu zählen.

    c) Zur Beschwerde berechtigt ist, wer durch den Beschwerdeentscheid
berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder
Änderung hat (Art. 28 Abs. 1 VStrR). Der Beschwerdeführer, dem die Einsicht
in den Strafbescheid verweigert worden ist, hat ein schutzwürdiges
Interesse an der Änderung des angefochtenen Beschwerdeentscheides und
ist daher zur Beschwerde legitimiert.

Erwägung 2

    2.- a) Der Strafbescheid ist dem Beschuldigten mitzuteilen (Art. 64
Abs. 3 VStrR); dasselbe gilt für die Strafverfügung (Art. 70 Abs. 2
VStrR). Nach dem Wortlaut des Gesetzes sind die entsprechenden Entscheide
somit einem allfälligen Anzeiger oder Geschädigten nicht zu eröffnen.

    b) Auch aus Art. 6 EMRK ergibt sich kein Anspruch weiterer Personen auf
Eröffnung eines Entscheides, denn auf diese Bestimmung kann sich allein
der Beschuldigte, nicht aber der Anzeiger oder Geschädigte berufen, da
sich diese grundsätzlich ausserhalb des persönlichen Anwendungsbereiches
von Art. 6 Ziff. 1 EMRK befinden (vgl. MARK E. VILLIGER, Handbuch
der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK], Zürich 1993, N. 388;
THOMAS POLEDNA, Zürich 1993, N. 240 und die dort erwähnten BGE), denn
die Konvention verleiht keinen Anspruch auf Strafverfolgung eines
anderen (THEO VOGLER, Internationaler Kommentar zur Europäischen
Menschenrechtskonvention, Art. 6 N. 240).

    c) Der Beschwerdeführer anerkennt denn auch, dass ihm der Endentscheid
der Verwaltung, da ihm keine Parteirechte zustehen, auch nicht förmlich
(«amtlich») zu eröffnen war.Von der Eröffnung, d.h. der Mitteilung des
Urteils an die Parteien, ist indessen die öffentliche Verkündung zu
unterscheiden.

Erwägung 3

    3.- a) Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK sind u.a. Urteile in Verfahren, in
denen über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage entschieden
wird, öffentlich zu verkünden. Auch nach Art. 14 Abs. 1 des Internationalen
Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II; SR 0.103.2;
für die Schweiz in Kraft getreten am 18. September 1992) ist jedes Urteil
in einer Strafsache öffentlich zu verkünden, sofern nicht die Interessen
Jugendlicher dem entgegenstehen oder das Verfahren Ehestreitigkeiten
oder die Vormundschaft über Kinder betrifft. Die Ausnahmen sind hier
nicht gegeben.Die Schweiz hat zu beiden Bestimmungen einen Vorbehalt
angebracht betreffend die nach kantonalem Recht vorgesehene Möglichkeit
der schriftlichen Urteilseröffnung an die Parteien. Dieser Vorbehalt kommt
hier aber - abgesehen davon, dass er wohl als unwirksam zu betrachten
ist (vgl. LUZIUS WILDHABER, Internationaler Kommentar zur Europäischen
Menschenrechtskonvention, Art. 6 N. 596 und Anm. 7) - nicht zum Tragen, da
es um die Anwendung von Bundesrecht (VStrR) durch Bundesverwaltungsbehörden
geht.

    b) Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung - und darin
eingeschlossen jener der öffentlichen Urteilsverkündung - bedeutet
eine Absage an jede Form geheimer Kabinettsjustiz und soll durch die
Kontrolle der Öffentlichkeit dem Angeschuldigten und den übrigen am Prozess
Beteiligten eine korrekte und gesetzmässige Behandlung gewährleisten. Der
allgemeinen Öffentlichkeit soll aber darüber hinaus auch ermöglicht
werden, Kenntnis davon zu erhalten, wie das Recht verwaltet und wie
die Rechtspflege ausgeführt wird. Er sorgt damit auch für Transparenz
in der Rechtspflege, die eine demokratische Kontrolle durch das Volk
erst ermöglicht und als wesentliches Element des Rechts auf ein faires
Verfahren zu den Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaates gehört
(BGE 121 II 22 E. 4c mit Hinweis).

    c) Mit dem Strafbescheid vom 13. Februar 1998 hat das Bundesamt
für Zivilluftfahrt den angezeigten Piloten der Widerhandlung
gegen Luftfahrtgesetzgebung schuldig erklärt und ihn mit einer Busse
bestraft. Damit prüfte es die Begründetheit der Strafanzeige und beurteilte
die Strafsache materiell (vgl. BGE 114 Ia 143 E. 7b). Es hat daher
über eine strafrechtliche Anklage im Sinne der Art. 6 EMRK und Art. 14
UNO-Pakt II entschieden. Gemäss Art. 65 Abs. 2 VStrR steht der durch den
Beschuldigten und den untersuchenden Beamten unterzeichnete Strafbescheid
im abgekürzten Verfahren einem rechtskräftigen Urteil gleich.Zwar verlangt
Art. 6 Ziff. 1 EMRK die Beurteilung von strafrechtlichen Anklagen durch
ein unabhängiges und unparteiisches Gericht; die Bestimmung verbietet
indessen nicht, dass dem Strafverfahren ein Strafbefehls- oder ähnliches
Verfahren vorgeschaltet wird, welches von einer Administrativbehörde
durchgeführt wird, solange sichergestellt ist, dass der Betroffene wegen
jeder so ergangenen Entscheidung ein Gericht anrufen kann, welches
den Anforderungen von Art. 6 EMRK genügt; dies bringt nicht nur eine
Entlastung der Gerichte mit sich, sondern erspart dem Beschuldigten auch
die Umtriebe und Peinlichkeiten eines öffentlichen Verfahrens (BGE 114
Ia 143 E. 7a S. 150 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte).

    Verzichtet der Beschuldigte auf eine Einsprache, so hat dies zur
Folge, dass er grundsätzlich auch auf die sich aus Art. 6 EMRK ergebenen
Rechte verzichtet, denn für das eigentliche Strafbefehlsverfahren gelten
die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK grundsätzlich nicht (THEO
VOGLER, aaO, N. 241 ff.). Dies gilt indessen nicht für den Grundsatz
der öffentlichen Urteilsverkündigung, da der Beschuldigte auf diese
nicht verzichten bzw. diese nicht ausschliessen kann (THOMAS POLEDNA,
aaO, N. 483; HERBERT MIEHSLER/THEO VOGLER, Internationaler Kommentar
zur EMRK, Art. 6 N. 340), denn der Anspruch steht nicht nur ihm,
sondern (auch) der Öffentlichkeit zu (MANFRED NOWAK, UNO-Pakt über
bürgerliche und politische Rechte, Art. 14 N. 30 f.). Der Grundsatz
der öffentlichen Urteilsverkündung gilt daher auch dann, wenn das
vorausgegangene Strafverfahren nicht öffentlich durchgeführt wurde
(JOCHEN FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, EMRK-Kommentar, 1996, Art. 6 N. 119),
denn die möglichen Einschränkungen des öffentlichkeitsgrundsatzes betreffen
grundsätzlich nur die Verhandlungen, nicht aber die öffentliche Verkündung
des Urteils (HERBERT MIEHSLER/THEO VOGLER, aaO, N. 340). Berechtigten
entgegenstehenden privaten oder öffentlichen Interessen kann gegebenenfalls
durch Kürzung oder Anonymisierung ausreichend Rechnung getragen werden
(MANFRED NOWAK/CHRISTOPH SCHWAIGHOFER, Das Recht auf öffentliche
Urteilsverkündung in Österreich, in: EuGRZ 1985, S. 732).

    d) In der Lehre wird zum Teil die Auffassung vertreten, das
Recht auf Bekanntgabe eines Strafurteils könne jedermann geltend
machen (MANFRED NOWAK, N. 31; HERBERT MIEHSLER/THEO VOGLER, aaO,
N. 340). Die Rechtsprechung verlangt indessen, dass ein berechtigtes
Interesse glaubhaft gemacht wird (vgl. BGE 115 V 244 E. 4d/aa; Urteil
des EGMR vom 22. Februar 1984 i.S. Sutter gegen die Schweiz, Serie A,
Vol. 74, Ziff. 34). Angesichts der Bedeutung, welche der öffentlichen
Urteilsverkündung insbesondere in Strafsachen im Allgemeinen zukommt, sind
mit Bezug auf Einschränkungen dieses Rechts strenge Massstäbe anzulegen
(MANFRED NOWAK/CHRISTOPH SCHWAIGHOFER, aaO, S. 726). Es genügt deshalb,
wenn der Betroffene ein ernsthaftes Interesse an der Kenntnisnahme eines
Strafurteils glaubhaft macht. Ein solches ist jedenfalls für den Anzeiger
im Verwaltungsstrafverfahren ohne weiteres zu bejahen.

    e) Nach der Lehre und Rechtsprechung ist Art. 6 Ziff. 1 EMRK und
Art. 14 UNO-Pakt II Genüge getan, wenn das Strafurteil öffentlich
bekanntgemacht wird; dazu genügt die Auflage der Urteile bei einer der
Öffentlichkeit zugänglichen Kanzlei, wo jedermann, der ein berechtigtes
Interesse glaubhaft macht, den vollständigen Text des Urteils einsehen
oder sich eine Kopie erstellen lassen kann (Urteil des EGMR i.S. Sutter,
Ziff. 31 ff.; BGE 115 V 244 E. 4d/aa).Sofern keine besonderen,
schutzwürdigen Geheimhaltungsinteressen - bei deren Vorliegen allenfalls
die Öffentlichkeit ausnahmsweise von den Verhandlungen ausgeschlossen
werden könnte - ersichtlich sind, hat der Berechtigte Anspruch auf
Kenntnisnahme des vollständigen, ungekürzten und nicht anonymisierten
Urteils (MANFRED NOWAK/CHRISTOPH SCHWAIGHOFER, aaO, S. 732).

    Es genügt daher im Lichte von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14
UNO-Pakt II, wenn die Verwaltung den im Verwaltungsstrafverfahren
ausgefällten Strafbescheid für einige Zeit auf der Kanzlei zur Einsicht
durch Interessierte auflegt oder - wie hier - einem Berechtigten auf
besonderes Ersuchen hin Einsicht in einen Strafbescheid gewährt. Es
besteht indessen kein Anspruch auf Aushändigung einer Kopie.

Erwägung 4

    4.- Die Beschwerde wird aus diesen Gründen gutgeheissen. Der
angefochtene Beschwerdeentscheid wird aufgehoben und das Bundesamt
für Zivilluftfahrt angewiesen, dem Beschwerdeführer Einsicht in den
Strafbescheid gegen den durch ihn angezeigten Piloten zu gewähren.