Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 IV 1



124 IV 1

1. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Februar 1998 i.S. A.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 69 StGB und Art. 110 Ziff. 7 StGB; Art. 13b ANAG;
Ausschaffungshaft, Anrechnung auf die Freiheitsstrafe.

    Die Ausschaffungshaft ist auf die Freiheitsstrafe jedenfalls
dann grundsätzlich anzurechnen, wenn auch die Voraussetzungen der
Untersuchungshaft gegeben waren und die Ausschaffungshaft faktisch die
Funktion der Untersuchungshaft übernommen hat (E. 2b).

Sachverhalt

    Am 23. September 1997 verurteilte das Obergericht des Kantons
Luzern A. zweitinstanzlich wegen mehrfacher Widerhandlung gegen
das Betäubungsmittelgesetz zu 2 1/2 Jahren Zuchthaus, abzüglich
371 Tage Untersuchungshaft, als Zusatzstrafe zur Strafverfügung des
Amtsstatthalteramtes Luzern-Stadt vom 8. März 1996. Ausserdem verwies
ihn das Obergericht für 8 Jahre des Landes. Die von A. erstandene
Ausschaffungshaft rechnete es nicht auf die Zuchthausstrafe an.

    A. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Obergerichts aufzuheben, soweit ihm die Ausschaffungshaft
nicht angerechnet wurde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Die Vorinstanz legt dar, es treffe zwar zu, dass die
Ausschaffungshaft gleich wie die Untersuchungshaft einen erheblichen
Eingriff in die persönliche Freiheit darstelle. Die Ausschaffungshaft
im Sinne einer Administrativmassnahme könne aber nicht mit in einem
Strafverfahren verhängter Haft im Sinne von Art. 110 Ziff. 7 StGB
gleichgesetzt werden, weil es sich dabei um keine unmittelbar den
Interessen der Strafverfolgungsbehörde dienende Massnahme handle. Gestützt
auf den klaren Wortlaut von Art. 110 Ziff. 7 StGB könne deshalb die
Ausschaffungshaft nicht auf die Zuchthausstrafe angerechnet werden.

    b) Der Beschwerdeführer macht geltend, das angefochtene Urteil
verletze Art. 69 und Art. 110 Ziff. 7 StGB. Für die Anrechenbarkeit
sei der freiheitsentziehende Charakter einer Massnahme entscheidend. Er
habe die Ausschaffungshaft ab Anfang März 1996 abwechslungsweise mit
der Untersuchungshaft im Ausschaffungsgefängnis Flughafen Kloten sowie
im Zentralgefängnis Luzern erlitten. Die Ausschaffungshaft in Kloten
sei als Einzelhaft vollzogen worden und habe ihn in seiner persönlichen
Freiheit stärker eingeschränkt als die Untersuchungshaft. Zwischen der
Ausschaffungshaft und dem Strafverfahren bestehe ein Sachzusammenhang. Die
Ausländerbehörde habe ihn wegen der Strafverfügung vom 8. März 1996
in Ausschaffungshaft genommen, und die Vorinstanz habe zu dieser
Strafverfügung eine Zusatzstrafe ausgesprochen.

Erwägung 2

    2.- a) Der Richter rechnet dem Verurteilten die Untersuchungshaft auf
die Freiheitsstrafe an, soweit der Täter die Untersuchungshaft nicht durch
sein Verhalten nach der Tat herbeigeführt oder verlängert hat (Art. 69
Satz 1 StGB). Als Untersuchungshaft gilt jede in einem Strafverfahren
verhängte Haft, Untersuchungs- und Sicherheitshaft (Art. 110 Ziff. 7 StGB).

    Von der Anrechnung der Untersuchungshaft darf nach der Rechtsprechung
nur abgesehen werden, soweit der Beschuldigte durch sein Verhalten nach
der Tat die Untersuchungshaft in der Absicht herbeigeführt oder verlängert
hat, dadurch den Strafvollzug zu verkürzen oder zu umgehen (BGE 117 IV
404 E. 2).

    Art. 69 StGB gilt auch für die Anrechnung der im Ausland erstandenen
Untersuchungshaft oder der Haft, die durch ein Verfahren nach dem
Bundesgesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen im Ausland
veranlasst wurde (Art. 14 IRSG; SR 351.1), ein Grundsatz, der von der
Rechtsprechung bereits vor dem Inkrafttreten des IRSG entwickelt wurde
(BGE 97 IV 160).

    Nach der Rechtsprechung sind ebenso anstelle der Untersuchungshaft
angeordnete freiheitsentziehende Ersatzmassnahmen - wie etwa die
Unterbringung in einem Männerheim - analog der Untersuchungshaft auf
die zu verbüssende Freiheitsstrafe anzurechnen. Bei der Bestimmung der
anrechenbaren Dauer der Ersatzmassnahme hat der Richter den Grad der
Beschränkung der persönlichen Freiheit im Vergleich zum Freiheitsentzug
bei der Untersuchungshaft zu berücksichtigen. Ist der Vollzug der
Ersatzmassnahme dem Vollzug von Untersuchungshaft ungefähr gleichzusetzen,
so ist grundsätzlich die ganze Dauer anrechenbar; wird die Ersatzmassnahme
hingegen in einer Institution vollzogen, welche die persönliche Freiheit
wesentlich weniger beschränkt, kann nur eine entsprechend gekürzte Dauer
in Rechnung gestellt werden (BGE 113 IV 118).

    b) Zur Frage der Anrechnung von Ausschaffungshaft, deren
Voraussetzungen in Art. 13b des Bundesgesetzes über Aufenthalt und
Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) geregelt sind, äussert sich
das Gesetz nicht.

    Anzurechnen ist die Ausschaffungshaft in Fällen wie hier auf die
Freiheitsstrafe jedenfalls dann, wenn der Beschuldigte, hätte er sich nicht
in Ausschaffungshaft befunden, in Untersuchungshaft genommen worden wäre,
also in einer Konstellation, wo konkurrierend die Voraussetzungen der
Untersuchungshaft und der Ausschaffungshaft gegeben sind. In derartigen
Fällen übernimmt die Ausschaffungshaft faktisch die Funktion der
Untersuchungshaft. Die Ablehnung der Anrechnung wäre deshalb stossend. Für
die Anrechnung gilt hier allerdings der gleiche Vorbehalt wie bei der
Untersuchungshaft: Die Anrechnung unterbleibt, soweit der Beschuldigte
durch sein Verhalten nach der Tat die Haft herbeigeführt oder verlängert
hat in der Absicht, dadurch den Strafvollzug zu verkürzen oder zu umgehen.

    Die grundsätzliche Anrechnung der Ausschaffungshaft jedenfalls in
den Fällen, wo diese faktisch an die Stelle der Untersuchungshaft tritt,
entspricht der Tendenz der Rechtsprechung, vor dem Strafvollzug erlittene
Freiheitsbeschränkungen nach Möglichkeit auf die Strafe anzurechnen. Nach
der Rechtsprechung sind, wie dargelegt, anstelle der Untersuchungshaft
angeordnete Ersatzmassnahmen anrechnungsfähig. Ebenso ist die Dauer
einer freiheitsentziehenden Massnahme grundsätzlich auf die zunächst
aufgeschobene und nachträglich vollziehbar erklärte Freiheitsstrafe
anzurechnen. Dabei braucht die anrechenbare Dauer nicht mit der
Massnahmedauer übereinzustimmen. Namentlich wenn die persönliche Freiheit
durch den Vollzug der stationären Massnahme weniger beschränkt wird als
durch den Freiheitsentzug in einer Strafanstalt, ist die anrechenbare
Dauer entsprechend zu kürzen. Auch bei der ambulanten Behandlung ist beim
nachträglichen Vollzug der ursprünglich aufgeschobenen Freiheitsstrafe zu
prüfen, ob und inwiefern der Verurteilte durch die ambulante Massnahme
in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt wurde. In dem Masse, wie
eine tatsächliche Beschränkung der persönlichen Freiheit vorliegt, ist die
Behandlung auf die Freiheitsstrafe anzurechnen. Wegen der grundsätzlichen
Verschiedenheit von ambulanter Massnahme und Strafvollzug kommt in der
Regel allerdings nur eine beschränkte Anrechnung der ambulanten Behandlung
in Frage (BGE 121 IV 303 E. 4b mit Hinweisen). In Betracht kommt die
Anrechnung ebenso bei einem Drogenentzug im Ausland. Auch in solchen Fällen
kann der erkennende Richter abklären, ob die Beschränkung der persönlichen
Freiheit in der ausländischen Institution ungefähr dem Freiheitsentzug
in einer schweizerischen Heil- und Pflegeanstalt gleichkommt (BGE 114
IV 85 E. 4; vgl. auch BGE 122 IV 51: Ablehnung der Anrechnung eines in
Israel durchgeführten sog. Rehabilitationsprogramms, da die persönliche
Freiheit des Betroffenen dadurch nicht nennenswert eingeschränkt war).

    c) Nach dem Gesagten verletzt die grundsätzliche Ablehnung der
Vorinstanz, die Ausschaffungshaft anzurechnen, Bundesrecht. Ob und wieweit
die Ausschaffungshaft im vorliegenden Fall anzurechnen ist, kann mangels
hinreichender tatsächlicher Feststellungen über Zeitpunkt und Dauer der
Ausschaffungshaft und insbesondere darüber, ob der Beschwerdeführer die
Ausschaffungshaft anstelle einer sonst notwendigen Untersuchungshaft
erstanden hat, nicht beantwortet werden.

    Die Beschwerde wird deshalb gutgeheissen und die Sache zur Ergänzung
der tatsächlichen Feststellungen und zur Neubeurteilung im Sinne der
obigen Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Erwägung 3

    3.- (Kostenfolgen)