Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 II 97



124 II 97

13. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 23. Januar 1998 i.S.
Bundesamt für Strassen gegen R. (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 16 Abs. 2 SVG; Überschreiten der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit
innerorts, mittelschwerer Fall.

    Bei einer Überschreitung der allgemeinen Innerortshöchstgeschwindigkeit
von 50 km/h um 21 bis 24 km/h ist ohne Prüfung der konkreten Umstände
objektiv zumindest ein mittelschwerer Fall anzunehmen (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt des Kantons Bern
entzog R. am 12. Mai 1997 den Führerausweis wegen Überschreitens der
gesetzlichen Innerortshöchstgeschwindigkeit von 50 um 21 km/h für die
Dauer von einem Monat.

    Die Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber
Fahrzeugführern hiess am 25. Juni 1997 einen Rekurs der Betroffenen gut,
hob die Entzugsverfügung auf und verwarnte R.

    B.- Das Bundesamt für Strassen führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde
und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und R. sei der
Führerausweis für die Dauer von einem Monat zu entziehen.

    Die Rekurskommission und die Beschwerdegegnerin beantragen Abweisung
der Beschwerde.

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der
Entscheid der Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber
Fahrzeugführern vom 25. Juni 1997 aufgehoben.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 16 Abs. 2 des Bundesgesetzes über den Strassenverkehr
(SVG; SR 741.01) kann der Führerausweis entzogen werden, wenn der
Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder
andere belästigt hat (Satz 1). In leichten Fällen kann eine Verwarnung
ausgesprochen werden (Satz 2). Der Führerausweis muss entzogen werden, wenn
der Führer den Verkehr in schwerer Weise gefährdet hat (Art. 16 Abs. 3
lit. a SVG). Bei der Beurteilung, ob ein leichter Fall gegeben ist,
hat die Behörde in erster Linie die Schwere der Verkehrsgefährdung und
die Schwere des Verschuldens, daneben aber auch den automobilistischen
Leumund zu prüfen (Art. 31 Abs. 2 der Verordnung über die Zulassung
von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV; SR 741.51], BGE
123 II 106 E. 2; 121 II 127). Ist der Fall unter dem Gesichtspunkt der
Gefährdung und des Verschuldens nicht mehr als leicht zu bezeichnen,
ist auch bei einem ungetrübten automobilistischen Leumund in der Regel
ein Führerausweisentzug anzuordnen (BGE 105 Ib 255; 118 Ib 229).

Erwägung 2

    2.- a) Die Vorinstanz nimmt im vorliegenden Fall bei einer
Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit innerorts von 50 km/h um 21
km/h einen leichten Fall im Sinne von Artikel 16 Abs. 2 SVG an. Denn
gemäss jüngster bundesgerichtlicher Rechtsprechung sei der Führerausweis
ungeachtet der konkreten Umstände zu entziehen, wenn die innerorts geltende
Höchstgeschwindigkeit um 25 km/h überschritten worden sei. Betrage die
Geschwindigkeitsüberschreitung weniger als 20 km/h, sei eine Verwarnung
auszusprechen, wenn nicht erschwerende Umstände eine schärfere Massnahme
rechtfertigten. Bewege sich die Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts
indessen im Bereich zwischen 20 km/h und 25 km/h, seien die konkreten
Umstände zu prüfen. Bei einem leichten Fall könne auch hier noch eine
Verwarnung ausgesprochen werden. Ein leichter Fall liege dann vor,
wenn der Grad der Gefährdung, wie sie unter den gegebenen Umständen
objektiv voraussehbar gewesen sei, und das Verschulden leicht seien
und das bisherige Verhalten keine strengere Massnahme erfordere. Ein
mittelschwerer Fall liege dann vor, wenn erschwerende Umstände wie
reger Verkehr herrschten oder Fussgänger sich in der Nähe des Ortes der
Widerhandlung befunden hätten, was vorliegend nicht der Fall gewesen
sei. Es könne nicht angehen, dass gegen jenen Verkehrsteilnehmer, der
unter erschwerenden Umständen eine Geschwindigkeitsüberschreitung begehe,
dieselbe Administrativmassnahme verfügt würde, wie gegen jenen, der die
zulässige Höchstgeschwindigkeit ohne erschwerende Umstände überschreite.

    b) Das beschwerdeführende Amt wendet sich gegen die Annahme der
Vorinstanz, dass bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts im
Bereich zwischen 20 km/h und 25 km/h aufgrund der konkreten Umstände auch
ein leichter Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 SVG in Betracht komme.

    Nach der Rechtsprechung sei ungeachtet der konkreten Umstände
objektiv eine grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90
Ziff. 2 SVG beziehungsweise eine schwere Verkehrsgefährdung im Sinne von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG zu bejahen, wenn die Höchstgeschwindigkeit
auf der Autobahn um 35 km/h, auf einer nicht richtungsgetrennten
Autostrasse um 30 km/h und innerorts um 25 km/h überschritten worden
sei (BGE 123 II 37, 106 E. 2). Diese Rechtsprechung schliesse nicht
aus, dass eine grobe Verkehrsregelverletzung auch bei einer tieferen
Geschwindigkeitsüberschreitung, ja sogar da, wo sich der Lenker im Rahmen
der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit halte, vorliegen könne (BGE 123
II 37 E. e und f). In solchen Fällen seien aber jeweils die konkreten
Umstände zu prüfen.

    In bezug auf den mittelschweren Fall, der auch bei günstigen
Verkehrsverhältnissen und gutem automobilistischem Leumund einen
Führerausweisentzug zur Folge habe, habe das Bundesgericht bis
jetzt erst im Zusammenhang mit Geschwindigkeitsüberschreitungen
auf der Autobahn Gelegenheit gehabt, sich zu äussern. Danach sei bei
Geschwindigkeitsüberschreitungen im Bereich von 31-34 km/h ohne Prüfung der
konkreten Umstände ein mittelschwerer Fall zu bejahen und der Führerausweis
gemäss Art. 16 Abs. 2 Satz 1 SVG zu entziehen. Beim mittelschweren Fall
innerorts liege die Grenze für den schweren Fall ungeachtet der konkreten
Umstände bei einer Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h
bei 25 km/h. Folgerichtig müsse diese für den mittelschweren Fall tiefer
liegen (BGE 123 II 106 E. 2c S. 113).

    Wer innerorts die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h
um 21 km/h oder mehr überschreite, tue das in der Regel mindestens
grobfahrlässig, da eine Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um
40% objektiv gesehen nicht unbemerkt bleiben könne. Eine Ausnahme
komme lediglich da in Betracht, wo der Lenker aus nachvollziehbaren
Gründen gemeint habe, er befinde sich nicht oder nicht mehr im
Innerortsbereich. Wie das Bundesgericht in BGE 123 II 37 (mit Hinweis auf
BGE 121 II 127 E. 4) dargelegt habe, stelle eine übersetzte Geschwindigkeit
gerade innerorts eine erhebliche Gefahr dar. Die Zahl der vom Lenker zu
verarbeitenden Reize sei innerorts grösser als ausserorts und auf der
Autobahn, was eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfordere. Zudem gebe es
innerorts viele schwache Verkehrsteilnehmer (Fussgänger, Velofahrer),
die - vor allem Kinder und ältere Menschen - einem besonderen Risiko
ausgesetzt seien. Darüber hinaus bestehe eine erhöhte Gefahr von
Seitenkollisionen. Die anderen Verkehrsteilnehmer dürften sich, auch
soweit sie wartepflichtig seien, auf den Vertrauensgrundsatz berufen
(BGE 120 IV 252 E. 2d/aa). Sie müssten sich nicht darauf einstellen,
dass ein Fahrzeug innerorts mit einer derart übersetzten Geschwindigkeit
herannahe (BGE 118 IV 277, wonach auf Hauptstrassen ausserorts, wo die
allgemeine Höchstgeschwindigkeit nach Art. 4a Abs. 1 der Verordnung
über die Strassenverkehrsregeln (VRV; SR 741.11) 80 km/h beträgt,
generell mit Geschwindigkeiten von über 90 km/h nicht gerechnet werden
müsse). Welch schwerwiegende Folgen Geschwindigkeitsüberschreitungen
innerorts haben können, wo Fahrzeug-Fussgänger-Kollisionen häufig
seien, zeigten physikalische Berechnungen: Fahre ein Auto mit einer
Bremsausgangsgeschwindigkeit von 55 km/h statt mit einer solchen
von 50 km/h, habe es dort, wo es bei einer Vollbremsung mit 50 km/h
stillstehen würde, immer noch eine Geschwindigkeit von 28,2 km/h; bei
einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 60 km/h noch eine solche von
40,5 km/h; bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 70 km/h noch eine
solche von 59 km/h. Derartige Aufprallgeschwindigkeiten könnten bei
Fussgängern zu schwersten und tödlichen Verletzungen führen. Ab einer
Kollisionsgeschwindigkeit von 20 km/h seien Becken- und Beinbrüche, ab
einer solchen von 45 km/h tödliche Verletzungen sehr wahrscheinlich. Aus
diesen Gründen wiege eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 21 km/h
weder verschuldens- noch gefährdungsmässig leicht.

    In konsequenter Weiterentwicklung der Rechtsprechung sei deshalb
bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts im Bereich von 21
km/h bis 24 km/h ohne Prüfung der konkreten Umstände jedenfalls objektiv
immer zumindest ein mittelschwerer Fall anzunehmen, der selbst bei einem
ungetrübten automobilistischen Leumund einen Ausweisentzug gemäss Art. 16
Abs. 2 Satz 1 SVG zur Folge habe. Von einem Führerausweisentzug könne
höchstens dann abgesehen werden, wenn besondere Umstände vorlägen, wie
zum Beispiel in BGE 118 Ib 229.

    c) Diese Darstellung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wie auch
die daraus gezogene Konsequenz hinsichtlich der Annahme eines mindestens
mittelschweren Falles bei Geschwindigkeitsüberschreitungen innerorts
um 21 km/h bis 24 km/h sind zutreffend. Diese Weiterentwicklung der
Rechtsprechung befreit die Entzugsbehörde jedoch nicht von der Pflicht, die
Umstände des Einzelfalles genauer zu prüfen. Denn sie hat in allen Fällen
des erwähnten Geschwindigkeitsbereichs auch das Ausmass der Gefährdung und
des Verschuldens abzuklären und zu gewichten, damit sie entscheiden kann,
ob allenfalls ein schwerer Fall (Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG) vorliegt und
welche Entzugsdauer bei einem mittelschweren beziehungsweise schweren
Fall angemessen ist. Eine rein schematische Beurteilung dieser Fragen
lediglich aufgrund der festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung würde
ein pflichtwidriges Nichtausüben des rechtserheblichen Ermessens und damit
eine Verletzung von Bundesrecht darstellen. Umgekehrt kommt ein leichter
Fall in Betracht, wenn der Lenker aus nachvollziehbaren Gründen gemeint
hat, er befinde sich noch nicht oder nicht mehr im Innerortsbereich; unter
Umständen entfällt sogar jeder Schuldvorwurf (vgl. MARTIN SCHUBARTH, in
René Schaffhauser [Hrsg.], Aspekte der Überforderung im Strassenverkehr -
Forderungen an die Praxis, St. Gallen 1997, S. 117; BGE 123 II 37 E. 1f).

    Nach Auffassung der Vorinstanz geht es nicht an, dass gegen
jenen Verkehrsteilnehmer, der unter erschwerenden Umständen eine
Geschwindigkeitsüberschreitung begeht, dieselbe Administrativmassnahme
verfügt werde, wie gegen jenen, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit
ohne erschwerende Umstände überschreitet; dies widerspräche dem Grundsatz
der Rechtsgleichheit. Sollte die Vorinstanz mit dieser Argumentation
zum Ausdruck bringen, dass sie bei Geschwindigkeitsüberschreitungen
innerorts um 21 km/h bis 24 km/h und günstigen Verhältnissen
regelmässig eine Verwarnung und bei erschwerenden Umständen einen
fakultativen einmonatigen Entzug anordnet, würde diese Ansicht
der bundesgerichtlichen Praxis widersprechen. Wie oben dargelegt,
stellt eine Geschwindigkeitsüberschreitung im fraglichen Ausmass in
der Regel eine erhöhte Gefährdung mit entsprechendem Verschulden dar,
weshalb auch bei günstigen Verhältnissen nur in Ausnahmefällen (BGE
123 II 37 E. 1f; 120 Ib 504; 118 Ib 229) von einem Führerausweisentzug
abgesehen werden kann. Treten jedoch erschwerende Umstände hinzu,
ist die Minimalentzugsdauer von einem Monat angemessen zu erhöhen und
bei einem schweren Fall und Vorliegen der übrigen Voraussetzungen die
Rückfallsregelung anzuwenden. Bei einer solchen Rechtsanwendung kann von
einer Verletzung des Gleichheitsgebots keine Rede sein.

    Nach dem Gesagten stellt die Überschreitung der allgemeinen
Höchstgeschwindigkeit innerorts von 50 km/h um 21 km/h durch die
Beschwerdegegnerin, und zwar unabhängig von den örtlichen Gegebenheiten,
einen mittelschweren Fall dar, der grundsätzlich einen Führerausweis nach
sich zieht.

    d) Die Beschwerdegegnerin macht geltend, sie habe sich in der
fraglichen kalten Februar-Nacht nicht auf einer Vergnügungsfahrt befunden,
sondern auf dem Heimweg von einer - für sie emotional stark belastenden -
Sterbebegleitung für einen todkranken Freund (AIDS im Endstadium). Diesem
habe sie in der qualvollen Endphase seines Lebens auf der Palliativ-Station
des Salem-Spitals Bern allabendlich, meist bis in die Nacht hinein,
einfühlsame Sterbebegleitung geleistet. Zwei Wochen nach dem fraglichen
Vorfall sei der junge Freund der Familie gestorben. Diese subjektive Seite,
die das Tatverschulden konkret vermindere, sei von den kantonalen Instanzen
noch gar nicht geprüft und berücksichtigt worden. Allenfalls sei deshalb
die Sache zur Neuentscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem
verfüge sie über einen ungetrübten automobilistischen Leumund und indem
sie die Busse durch gemeinnützige Arbeit in einem Alters- und Pflegeheim
abgegolten habe, habe sie ihre Einsicht unter Beweis gestellt, weshalb
die verfügte Verwarnung zur Erreichung des Warn- und Besserungs-Zwecks
offensichtlich genüge. Im übrigen sei sie seit einigen Jahren in ihrer
Freizeit karitativ tätig. Die Anordnung eines Führerausweisentzugs würde
den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzen.

    Die Sterbebegleitung der Beschwerdegegnerin und ihr karitatives
Engagement lassen ihren allgemeinen Leumund in einem positiven Licht
erscheinen. Doch ist nicht ersichtlich, inwiefern die Rückfahrt
von einer Sterbebegleitung das Tatverschulden vermindern sollte.
Zum einen hatte sie den todkranken Freund am fraglichen Abend nicht
zum ersten Mal betreut, weshalb die Beschwerdegegnerin im Zeitpunkt
der Fahrt nicht unter Schockwirkung stand, und zum andern wäre gerade
angesichts der emotional starken Belastung eine besonders vorsichtige
Fahrweise angezeigt gewesen. Da die Beschwerdegegnerin durch einen
Führerausweisentzug nicht besonders hart betroffen ist und unter dem
Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit nur in Ausnahmefällen eine
mildere Massnahme verhängt werden soll (BGE 120 Ib 504; 118 Ib 229),
rechtfertigt es sich trotz der Einsicht der Beschwerdegegnerin sowie
ihres ausgezeichneten allgemeinen und ungetrübten automobilistischen
Leumunds nicht, auf einen Führerausweisentzug zu verzichten. Dies führt
zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Weil das beschwerdeführende
Amt einen einmonatigen Führerausweisentzug beantragt und das Bundesgericht
über diesen Antrag nicht hinausgehen darf, entscheidet das Bundesgericht
selbst in der Sache (Art. 114 Abs. 1 und 2 OG).

Erwägung 3

    3.- (Kostenfolgen).