Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 II 49



124 II 49

7. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 9.
Februar 1998 i.S. B. gegen Fremdenpolizei des Kantons Bern und Haftgericht
III Bern-Mittelland (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 13b Abs. 3 ANAG; Beschleunigungsgebot bei der Ausschaffungshaft.

    Das Beschleunigungsgebot ist verletzt, wenn die Behörden während
mehr als zwei Monaten keine konkreten Vorkehrungen mehr im Hinblick auf
die Ausschaffung treffen und die Verzögerung nicht auf ein Verhalten der
ausländischen Behörden oder des Betroffenen selber zurückzuführen ist
(E. 3a). Ein Hungerstreik lässt das Beschleunigungsgebot grundsätzlich
nicht dahinfallen (E. 3b).

Sachverhalt

    B. reichte am 5. Dezember 1997 beim Haftgericht III Bern-Mittelland ein
Haftentlassungsgesuch ein, auf das dieses, weil verfrüht, am 9. Dezember
1997 nicht eintrat. Die hiergegen gerichtete Verwaltungsgerichtsbeschwerde
wies das Bundesgericht im Hauptpunkt am 22. Dezember 1997 ab (BGE 124
II 1).

    Am 16./20. Januar 1998 wies das Haftgericht ein weiteres
Haftentlassungsgesuch von B. ab und hiess - letztmals - eine
Haftverlängerung bis zum 15. März 1998 gut. Hiergegen hat B. erneut
Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht, welche das Bundesgericht
gutheisst u. a.

Auszug aus den Erwägungen:

                    aus folgender Erwägung:

Erwägung 3

    3.- a) Nach Art. 13b Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 26. März
1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG, SR
142.20; in der Fassung des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über
Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht [AS 1995 146 ff.]) sind die für
den Vollzug der Weg- oder Ausweisung nötigen Vorkehrungen umgehend zu
treffen (Beschleunigungsgebot). Arbeitet die zuständige Behörde nicht
zielstrebig auf den Wegweisungsvollzug hin, ist die Ausschaffungshaft
mit der einzig zulässigen Zielsetzung des Zwangsmassnahmengesetzes,
nämlich die Ausschaffung des Ausländers sicherzustellen, nicht mehr
vereinbar. Sie verstösst in diesem Fall gegen Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK,
weil das Ausweisungsverfahren nicht mehr als "schwebend" im Sinne dieser
Bestimmung gelten kann (vgl. PETER UEBERSAX, Menschenrechtlicher Schutz
bei fremdenpolizeilichen Einsperrungen, in: recht 13/1995 S. 62 f.). Die
Pflicht, Vorbereitungen für den Vollzug der Ausschaffung zu treffen,
beginnt nicht erst mit der Anordnung der fremdenpolizeilichen Haft.
Befindet sich ein Ausländer etwa in Untersuchungshaft oder im Strafvollzug,
müssen bei klarer fremdenpolizeilicher Ausgangslage bereits während
dieser Zeit Abklärungen mit Blick auf die Ausschaffung eingeleitet werden
(unveröffentlichte Urteile vom 30. Oktober 1997 i.S. B., E. 2a; vom 11.
September 1997 i.S. T., E. 2e, und vom 6. Januar 1997 i.S. B., E. 3c;
ANDREAS ZÜND, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den Zwangsmassnahmen
im Ausländerrecht, in: ZBJV 132/1996 S. 72, insbesondere S. 89; derselbe,
Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht: Verfahrensfragen und Rechtsschutz,
in: AJP 1995 S. 854 ff., insbesondere S. 861). Die Strafvollzugs- und
Fremdenpolizeibehörden haben hierfür nötigenfalls zusammenzuarbeiten;
welche der beiden allfällige Verzögerungen zu vertreten hat, ist bei
der Beurteilung der Einhaltung des Beschleunigungsgebots unerheblich
(unveröffentlichtes Urteil vom 30. Oktober 1997 i.S. B., E. 2a). Die
Vollzugsbehörden dürfen nicht untätig bleiben. Sie müssen versuchen, die
Identität des Ausländers festzustellen und die für seine Ausschaffung
erforderlichen Papiere auch ohne seine Mitwirkung zu beschaffen
(unveröffentlichte Urteile vom 29. Oktober 1996 i.S. K., E. 3; vom 26. Juli
1995 i.S. K., E. 3). Ob das Beschleunigungsgebot verletzt wurde, ist nach
den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (unveröffentlichtes Urteil
vom 20. Dezember 1995 i.S. S., E. 3b). Dabei kann ein widersprüchliches
Verhalten des Betroffenen mitberücksichtigt werden (unveröffentlichte
Urteile vom 10. Juli 1997 i.S. C., E. 3b/aa; vom 10. Juni 1996 i.S. S.,
E. 3b, und vom 26. Juli 1995 i.S. K., E. 3). Das Bundesgericht hat eine
Verletzung des Beschleunigungsgebots bejaht, wenn während rund zwei Monaten
keinerlei Vorkehren mehr im Hinblick auf die Ausschaffung getroffen wurden,
ohne dass die Verzögerung in erster Linie auf das Verhalten ausländischer
Behörden oder des Betroffenen selber zurückging (vgl. unveröffentlichte
Urteile vom 23. Januar 1998 i.S. S., E. 5; vom 26. Juli 1995 i.S. K.,
E. 3; und vom 22. Mai 1996 i.S. A.K., E. 3; vgl. auch ALAIN WURZBURGER,
La jurisprudence récente du Tribunal fédéral en matière de police des
étrangers, in RDAF 1997 1 S. 331 f.).

    b) aa) Die kantonalen Behörden und das von ihnen um Vollzugshilfe
angegangene Bundesamt für Flüchtlinge haben vorliegend die für den
Ausschaffungsvollzug nötigen Vorkehrungen zunächst umgehend an die Hand
genommen und sich kontinuierlich und zielstrebig um die Abklärung der
Identität und die Beschaffung von Reisepapieren für den Beschwerdeführer
bemüht. Sowohl die Vorführung auf der sudanesischen wie jene auf der
ägyptischen Vertretung blieben indessen ohne Erfolg, worauf das Bundesamt
am 28. Oktober 1997 vorsah, dass eine Linguisten-Expertengruppe den
Beschwerdeführer "demnächst" befragen werde und gestützt auf deren
Resultate auf den entsprechenden Botschaften noch einmal vorgesprochen
würde. In der Folge geschah - soweit ersichtlich - diesbezüglich
jedoch nichts mehr. Am 20. November 1997 teilte das Bundesamt den
kantonalen Behörden lediglich mit, es sei nach wie vor das Resultat der
Expertengruppe abzuwarten. Am 13. Januar 1998 fragten die kantonalen
Behörden beim Bundesamt für Flüchtlinge nach, "wann nun die im Oktober
97 versprochene Prüfung durch die Linguisten-Gruppe stattfinden" könne,
worauf das Bundesamt tags darauf mitteilte, diese sei für den 20. Januar
1998 vorgesehen. An diesem Tag informierte es die kantonalen Behörden
wiederum lediglich, dass es den Sprachtest, d.h. ein Telefonat zwischen
dem Beschwerdeführer und einem Sprachexperten, "für die nächsten Tage"
organisieren werde. Spätestens am 22. Januar 1998 werde eine Sprachanalyse
vorliegen, dank welcher "zielgerichtete Nachforschungen" für Nationalitäts-
und Identitätsabklärungen möglich sein sollten.

    bb) Diese Verzögerungen verletzten das Beschleunigungsgebot: Vom
28. Oktober 1997 bis zum haftrichterlichen Entscheid am 16./20. Januar 1998
wurden während mehr als zwei Monaten keinerlei konkrete Schritte mehr im
Hinblick auf eine Ausschaffung des Beschwerdeführers unternommen. Selbst
die für den 20. Januar 1998 vorgesehene Befragung ist am gleichen Tag
noch einmal verschoben worden. Aus den Akten geht hervor, dass das
Bundesamt mit den ursprünglich für den 22. Januar 1998 vorgesehenen
Resultaten neuerdings erst bis (spätestens) zum 11. Februar 1998
rechnet. Entgegen der Ansicht des Haftrichters entband der Hungerstreik
(vom 6. November 1997 bis zum 18. Dezember 1997) die Behörden nicht
davon, alle geeigneten Vorkehren zu treffen, um die Ausschaffung bei
Reisefähigkeit des Betroffenen - allenfalls auch gegen seinen Willen
- vollziehen zu können. Stellt ein Hungerstreik grundsätzlich keinen
Haftentlassungsgrund dar (BGE 124 II 1 E. 3b), gilt umgekehrt während
seiner Dauer das Beschleunigungsgebot unverändert weiter. Hieran ändert der
undifferenzierte Hinweis des Haftrichters nichts, der Auszuschaffende sei
während der ganzen Dauer des Hungerstreiks "verhandlungsunfähig" gewesen,
was er selber zu verantworten habe. Der Beschwerdeführer musste erst
kurz vor Abbruch seines Hungerstreiks hospitalisiert werden; besondere
Gründe, welche bereits in der Anfangsphase der Nahrungsverweigerung eine
Befragung verunmöglicht hätten (gesundheitliche Schwäche; renitentes
Verhalten; Weigerung des Betroffenen, sich befragen zu lassen usw.),
sind weder ersichtlich noch behauptet. Die Expertenbefragung war bereits
am 28. Oktober 1997, und damit deutlich vor Beginn des Hungerstreiks,
als einzig noch sinnvolle Massnahme erkannt und in der Folge dennoch
bis Mitte Januar verschoben worden. Die Verzögerungen, die wegen der
Festtage bzw. daraus entstanden, dass das Bundesamt allenfalls über
keine entsprechenden Sprachexperten verfügte und solche erst noch suchen
musste, hat nicht der Beschwerdeführer zu verantworten. Im übrigen
war der Hungerstreik offenbar auch gar nicht ursächlich dafür, dass
das Bundesamt im Rahmen der Vollzugsunterstützung, bei der es wie die
kantonalen Behörden an das Beschleunigungsgebot gebunden war, längere Zeit
untätig blieb. Erst auf die Anfrage der Fremdenpolizei vom 13. Januar 1998
hin, also zu einem Zeitpunkt, in dem der Hungerstreik seit einiger Zeit
abgeschlossen war, hat es die Organisation der entsprechenden Befragung
konkret an die Hand genommen. Es bestehen keinerlei Hinweise dafür, dass
es bereits von Oktober 1997 bis zum 14. Januar 1998 insofern irgendwelche
konkreten Vorkehrungen getroffen hätte (vgl. den Telefax des Bundesamts
vom 14. Januar 1998 mit der Liste der von ihm unternommenen Schritte);
trotz Gelegenheit zur Stellungnahme haben weder das Departement noch
das Bundesamt solche im vorliegenden Verfahren dargetan. Eine Verletzung
des Beschleunigungsgebots wäre unter diesen Umständen nur zu verneinen,
wenn neben der Befragung durch die Experten zumindest noch andere
Abklärungen eingeleitet und etwa jene Landsleute befragt worden wären,
die wiederholt erklärt haben, der Beschwerdeführer stamme tatsächlich aus
dem Sudan, was losgelöst von allfälligen gesundheitlichen Auswirkungen
des Hungerstreiks möglich gewesen wäre. Deren Gründe für die Annahme,
der Beschwerdeführer komme aus dem Sudan, waren in einem Fall wie dem
vorliegenden nicht zum vornherein ungeeignet, die weiteren behördlichen
Abklärungen positiv zu beeinflussen. Die Tatsache, dass die kantonalen
Behörden ihrerseits wiederholt beim Bundesamt vorstellig geworden waren,
vermochte für sich allein dem Beschleunigungsgebot nicht zu genügen.