Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 II 39



124 II 39

5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. November
1997 i.S. W. gegen Rekurskommission des Kantons St. Gallen
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 17 SVG, Art. 68 Ziff. 2 StGB; Führerausweisentzug, retrospektive
Konkurrenz.

    Art. 68 Ziff. 2StGB kommt nicht zur Anwendung, wenn die neu zu
beurteilende Tat begangen wurde, nachdem dem Täter die Verurteilung wegen
einer andern Tat zu einer Freiheitsstrafe beziehungsweise einer Massnahme
erstinstanzlich bereits eröffnet worden war (E. 3c).

Sachverhalt

    A.- Am 29. Mai 1994 lenkte W. ein Motorfahrzeug in angetrunkenem
Zustand, weshalb ihm das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt des Kantons
St. Gallen am 2. August 1994 den Führerausweis für die Dauer von sieben
Monaten entzog. Die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen
setzte die Entzugsdauer am 25. Oktober 1995 auf sechs Monate fest.

    B.- Am 29. September 1995 verlor W. auf dem Autobahnzubringer N
3b in Tuggen wegen Aquaplanings die Herrschaft über sein Fahrzeug und
verursachte einen Unfall mit erheblichem Sachschaden. Das Strassenverkehrs-
und Schiffahrtsamt entzog W. am 9. Juli 1996 den Führerausweis wegen
Nichtanpassens der Geschwindigkeit sowie Verursachens eines Selbstunfalls
für die Dauer von sechs Monaten.

    Auf einen Rekurs des Betroffenen bestätigte die
Verwaltungsrekurskommission am 26. Februar 1997 den erstinstanzlichen
Entscheid im wesentlichen, setzte jedoch die Entzugsdauer auf fünf
Monate fest.

    C.- W. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der
Entscheid vom 26. Februar 1997 sei aufzuheben und es sei bloss eine
Verwarnung auszusprechen.

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen

Auszug aus den Erwägungen:

                    aus folgender Erwägung:

Erwägung 3

    3.- a) Der Selbstunfall des Beschwerdeführers wegen Aquaplanings
ereignete sich am 29. September 1995. Am 25. Oktober 1995 beurteilte
die Vorinstanz einen Führerausweisentzug wegen Fahrens in angetrunkenem
Zustand, wobei sie die erstinstanzliche Entzugsdauer von sieben auf sechs
Monate herabsetzte. Deshalb wirft sie im angefochtenen Entscheid die Frage
auf, ob für den zweiten Vorfall eine Zusatzmassnahme auszusprechen wäre
und führt dazu aus:

    "Das Bundesgericht verneint das Bestehen der Voraussetzungen für eine

    Zusatzmassnahme, wenn die neue Tat begangen wurde, nachdem die
erste durch
   einen Entscheid abgeurteilt war, aber noch bevor dieser rechtskräftig
   wurde, weil die zweite Tat bei der Beurteilung der ersten gar nicht
   hätte mitbeurteilt werden können, da sie ja noch gar nicht begangen
   worden war (vgl. BGE vom 5. April 1995 in Sachen F. St., S. 4 mit
   Hinweisen). Dem entspricht auch die in der Lehre vertretene Auffassung,
   wonach eine

    Zusatzstrafe beim Zweiturteil nicht in Frage kommt, wenn ein Täter
   delinquiert, nachdem das Ersturteil in erster Instanz eröffnet wurde,
   und zwar ganz unabhängig davon, ob das Ersturteil schon in Rechtskraft
   erwuchs oder nicht, weil z.B. dagegen Berufung eingelegt wurde
   (vgl. MARCEL NIGGLI,

    Retrospektive Konkurrenz - Zusatzstrafe bei Kassation des
Ersturteils? SJZ

    91/1995 S. 379). Ein Täter soll dann als verurteilt im Sinn von Art. 68

    Ziff. 2 StGB gelten, wenn er strafbare Handlungen begeht vor
Eröffnung des
   erstinstanzlichen Urteils, sofern er für die Straftaten, die in diesem
   erstinstanzlichen Urteil Prozessthema bilden, später rechtskräftig
   verurteilt wird. Ein Täter kommt genau dann in den Genuss von Art. 68
   Ziff.

    2 StGB, wenn im Zweiturteil Straftaten zu beurteilen sind, die
er begangen
   hatte, bevor ihm ein Ersturteil eröffnet wurde, in dem er zu einer

    Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Unwesentlich ist dabei, ob das
Ersturteil
   selbst in erster Instanz in Rechtskraft erwächst oder erst das
   Urteil der Rechtsmittelinstanz oder gar ob diese (nach Kassation)
   neu entscheiden muss. Kein Raum für die

    Anwendung von Art. 68 Ziff. 2 StGB besteht, wenn eine Vereinigung
der im

    Zweiturteil behandelten Taten mit jenen des Ersturteils in einem
Verfahren
   ausgeschlossen war (NIGGLI, aaO, S. 382).

    Diese überzeugenden Überlegungen führen dazu, dass im vorliegenden
Fall,
   wo die die Ersttat betreffende teilweise Rekursgutheissung im übrigen
   lediglich auf einen relativ untergeordneten Punkt der Massnahmebemessung
   zurückzuführen war, offensichtlich kein Anspruch auf Ausfällung einer

    Zusatzmassnahme besteht, da die heute zu beurteilende Zweittat,
d.h. der

    Aquaplaning-Fall, nach Erlass der im wesentlichen bestätigten,
die Ersttat
   betreffenden erstinstanzlichen Entzugsverfügung von der ersten Instanz
   keinesfalls hätte gemeinsam mit der Ersttat beurteilt werden können".

    b) In einem unveröffentlichten Entscheid vom 5. April 1995 hatte das

    Bundesgericht einen Fall zu beurteilen, in welchem eine zweite Tat nach

    Aufhebung durch das Bundesgericht von der Vorinstanz gleichzeitig
mit einer
   dritten Tat zu beurteilen war, wobei das erstinstanzliche Urteil für
   die zweite Tat nicht in Rechtskraft erwuchs, sondern die Entzugsdauer
   zweitinstanzlich von sechs auf zwei Monate herabgesetzt wurde. Das

    Bundesgericht erwog unter anderem:
       "Bei Verwirklichung mehrerer Entzugsgründe durch eine Handlung
       ist nach
   der Rechtsprechung Art. 68 StGB sinngemäss anzuwenden; dasselbe
   gilt für den Fall, wo durch mehrere Handlungen mehrere Entzugsgründe
   gesetzt werden bzw. die zu beurteilenden Handlungen noch vor Erlass
   einer früheren

    Entzugsverfügung begangen wurden. Hat die Behörde eine Handlung zu
   beurteilen, die vor Erlass einer früheren Administrativmassnahme
   begangen wurde, so ist in Anwendung von Art. 68 Ziff. 2 StGB eine
   Zusatzmassnahme dafür auszusprechen; der Täter soll durch die Ausfällung
   der Sanktion in mehreren Verfahren nicht benachteiligt und soweit
   als möglich auch nicht besser gestellt werden (BGE 120 Ib 54 E. 2a,
   116 IV 14 E. 2a je mit

    Hinweisen).

    Zu einer Zusatzstrafe bzw. -massnahme ist der Täter nur zu verurteilen,
   wenn er die neue Tat vor der früheren Urteilsfällung begangen hat,
   unter der Voraussetzung, dass das Urteil später - beispielsweise nach
   durchgeführtem Rechtsmittelverfahren - rechtskräftig wird (BGE 113 Ib
   53 E.

    3, 109 IV 87 E. 2a, 102 IV 242 S. 244). Ist die neue Tat begangen
worden,
   nachdem die erste durch einen Entscheid abgeurteilt war, aber noch
   bevor dieser rechtskräftig wurde, fehlt es an der Voraussetzung einer

    Gesamtstrafe und damit auch -massnahme für beide Taten, weil die
zweite Tat
   bei der Beurteilung der ersten gar nicht hätte mitbeurteilt werden
   können, da sie ja noch gar nicht begangen worden war. Daher besteht
   aber in einem solchen Fall auch nicht Anspruch auf eine Zusatzsanktion
   zur ersten ausgefällten Strafe bzw. Massnahme (BGE 109 IV 87 E. 2a,
   102 IV 242 S.

    244). Nur wenn die Rechtskraft der ersten Verurteilung nicht eintritt,
weil
   das Urteil in einem Rechtsmittelverfahren aufgehoben wird, können
   nachträglich, d.h. beim zur ersten Tat neu zu fällenden Entscheid die

    Voraussetzungen für eine Zusatzstrafe nach Art. 68 Ziff. 2 StGB oder
   allenfalls jene der nachträglichen Festlegung einer Gesamtstrafe
   nach Art.

    350 Ziff. 2 StGB erfüllt sein (vgl. BGE 102 IV 242 S. 244 f.).

    Wie die Vorinstanz und das BAP zutreffend bemerken, beging der

    Beschwerdeführer die dritte Verfehlung erst, nachdem der
erstinstanzliche

    Entscheid bezüglich der zweiten Tat ergangen war. Sie übersehen
aber, dass
   dieser Entscheid nicht in Rechtskraft erwuchs. Denn der erstinstanzliche

    Entscheid (sechs Monate) wurde durch die Vorinstanz aufgehoben
und durch
   einen neuen (zwei Monate) ersetzt. Nachdem das Bundesgericht auch diesen

    Entscheid aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen
hatte,
   befand sich diese in der Lage eines erstinstanzlichen Sachrichters,
   der den

    2. Vorfall in allen Teilen neu zu beurteilen hatte und deshalb
gleichzeitig
   auch den 3. Vorfall nicht nur hätte mitbeurteilen können, sondern
   tatsächlich auch mitbeurteilte. Deshalb hätte die Vorinstanz am
   30. August

    1994 für den 2. und 3. Vorfall eine Gesamtstrafe aussprechen
müssen. Sie
   beruft sich zu Unrecht auf BGE 102 IV 242 E. 4 in fine, wonach der
   Täter, der sich erneut strafbar macht, nachdem er für eine andere
   Tat verurteilt worden ist, auch die Rücksicht des Art. 68 StGB nicht
   verdiene. Diese Überlegung ist im Zusammenhang zu sehen und setzt, wie
   bereits zitiert, voraus, dass der erstinstanzliche Entscheid später
   rechtskräftig wird. Da der Entscheid vom 15. Januar 1993 nicht in
   Rechtskraft erwuchs, ist der vorinstanzliche Hinweis unbehelflich. Dem
   Umstand, dass sich der Täter von einem hängigen Verfahren nicht hat
   beeindrucken lassen, kann der Richter jedoch im Rahmen des Verschuldens
   bei der Ausfällung einer Gesamt- beziehungsweise Zusatzstrafe Rechnung
   tragen."

    c) Vergleicht man die von Niggli vorgeschlagene Lösung (E. a) mit
derjenigen des Bundesgerichts (E. b), so fällt zunächst auf, dass im
Ergebnis beide in etwa übereinstimmen: Im Gegensatz zur ersten Lösung
kommt der Täter bei der zweiten zwar in den Genuss von Art. 68 Ziff. 2
StGB, doch gleicht sich dieser Vorteil dadurch wieder aus, dass dem Täter
sein deliktisches Verhalten während eines hängigen Verfahrens erschwerend
angelastet wird (E. b am Ende). Weiter gilt es zu berücksichtigen, dass
Niggli in seinem Aufsatz die strafrechtlichen Sanktionen im Auge hat,
die sich in erster Linie an der Schuldangemessenheit auszurichten haben,
während die Administrativsanktionen vor allem die Erziehung und Besserung
des Betroffenen erreichen wollen. Letzterem Ziel ist wohl eher dienlich,
parallele Verfahren wenn immer möglich zu vereinigen, um so der aktuellen
Situation des Betroffenen in einer Gesamtbetrachtung besser gerecht
werden zu können. Demgegenüber sollten - nachdem Art. 68 StGB analog auf
Administrativmassnahmen anwendbar ist (BGE 120 Ib 54 E. 2a mit Hinweisen)
- für die strafrechtliche und administrative Sanktion nicht ohne Not
unterschiedliche Lösungen getroffen werden.

    Nach übereinstimmender Rechtsprechung und Lehre bezweckt Art. 68 StGB,
dass ein Täter, der mehrere Freiheitsstrafen verwirkt hat, nach einem
einheitlichen, für ihn relativ günstigen Prinzip der Strafschärfung
beurteilt werden soll (Ziff. 1), unabhängig davon, ob die Verfahren
getrennt durchgeführt werden oder nicht (Ziff. 2; NIGGLI, aaO, S. 381
f.). In den Genuss dieser in der Regel vorteilhaften Zusatzstrafe soll
derjenige kommen, bei dem der erstinstanzliche Richter die mehreren
Straftaten gleichzeitig hätte aburteilen können, nicht aber derjenige, der
erneut delinquiert, nachdem er wegen anderer Delikte (zu Freiheitsstrafe
oder Administrativmassnahmen) erstinstanzlich verurteilt und mithin
eindringlich gewarnt worden ist.

    Diese klare und einfache Lösung entspricht am besten dem Zweckgedanken
des Art. 68 StGB. Dem Richter stellt sich somit bloss die Frage, ob die im
zweiten Verfahren zu beurteilenden Straftaten vor Eröffnung des Ersturteils
begangen wurden. Trifft dies zu, ist Art. 68 Ziff. 2 StGB anwendbar,
andernfalls nicht. Diese Lösung führt - im Gegensatz zu derjenigen in
E. b - auch nicht zu einer Verwässerung der Begriffe der Gesamt- und
Zusatzstrafe, weil sie nur gebraucht werden, wenn der Täter durch die
faktische (Art. 68 Ziff. 1 StGB) oder hypothetische (Ziff. 2) einheitliche
Beurteilung seiner mehreren Straftaten in der Regel günstiger fährt als
bei einer unabhängigen Beurteilung derselben Taten. Den vorerwähnten
Bedenken hinsichtlich der wünschenswerten Gesamtbetrachtung bei den
Administrativmassnahmen (E. c, Abs. 1) kann der Massnahmerichter auch in
einem zweiten unabhängigen Verfahren im Rahmen der Verhältnismässigkeit
gebührend Rechnung tragen. Schliesslich garantiert die neue Lösung sowohl
im strafrechtlichen als auch im Administrativverfahren eine einheitliche
Anwendung des Art. 68 StGB.

    Entgegen der Ansicht NIGGLI (aaO, S. 382 f. lit. b Ziff. 2) entfällt
auch der Vorbehalt, dass das Ersturteil später rechtskräftig wird;
denn im Zeitpunkt des Zweiturteils ist diese Frage ohne Bedeutung. Ist
das Ersturteil (noch) nicht rechtskräftig, so muss für den zweiten
Vorfall ein selbständiges Urteil ausgefällt werden. Wird das Ersturteil
schliesslich nicht rechtskräftig, hat es mit dem selbständigen Zweiturteil
sein Bewenden; tritt das Ersturteil jedoch in Rechtskraft, so kann der
Verurteilte - wenn die Voraussetzungen des Art. 68 StGB gegeben sind -
gemäss Art. 350 Ziff. 2 StGB ein Gesuch stellen, damit für beide Taten
eine Gesamtstrafe beziehungsweise massnahme festgesetzt wird.

    d) Dem Beschwerdeführer wurde der Führerausweis wegen Fahrens in
angetrunkenem Zustand erstinstanzlich am 2. August 1994 entzogen. Der
Aquaplaning-Vorfall ereignete sich am 29. September 1995 und mithin nach
dem Entscheid der ersten Instanz, weshalb diese gar nie in der Lage war,
beide Vorfälle gleichzeitig zu beurteilen. Unter diesen Umständen sprach
die Vorinstanz für den zweiten Vorfall zu Recht keine Zusatzmassnahme,
sondern eine selbständige Massnahme aus (E. c).