Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 III 21



124 III 21

3. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. Dezember 1997
i.S. A. gegen D. GmbH (Berufung) Regeste

    Art. 274f Abs. 1 Satz 2 OR. Rechtsnatur der Frist zur Anrufung des
Richters nach fehlgeschlagenem Einigungsversuch der Schlichtungsbehörde.

    Normiert das materielle Mietrecht für die zur Schlichtung verstellten
Ansprüche weder besondere Verwirkungsfristen noch eine Entscheidbefugnis
der Schlichtungsbehörde mit gesetzlicher Anordnung der Rechtskraftwirkung
im Falle unterlassener Anrufung des Richters, so können diese jederzeit
wieder in Streit gesetzt werden; einem Gerichtsverfahren hat dann ein
neuerlicher Schlichtungsversuch voranzugehen (E. 2b).

Sachverhalt

    Mit Vertrag vom 13. November 1992 vermietete die C. AG der D.  GmbH
verschiedene Gebäulichkeiten, welche diese der F. GmbH untervermietete.
Mit Schreiben vom 12. November 1993 erklärten die nunmehr konkursite
C. AG und A. als Abtretungsgläubiger gestützt auf Art. 21 OR den Rücktritt
vom Mietvertrag mit der D. GmbH. Gleichentags stellten sie das Begehren
um Durchführung eines Schlichtungsverfahrens. Die Schlichtungsstelle
in Appenzell stellte am 15. Dezember 1993 die Nichteinigung zwischen
den Parteien fest. Die daraufhin von der C. AG in Konkurs und dem
A. beim Bezirksgericht Appenzell eingereichte Klage wurde im Verlauf
des Schriftenwechsels zufolge Nichteinhaltung der Klagefrist gemäss
Art. 274f Abs. 1 OR am 16. August 1994 unter ausdrücklichem Vorbehalt
ihrer Wiedereinbringung zurückgezogen. Gleichentags stellten die C. AG
in Konkurs und A. bei der Schlichtungsstelle erneut ein Begehren um
Durchführung der Vermittlungsverhandlung. Eine Einigung der Parteien
wurde in der Folge jedoch nicht erzielt.

    Mit Eingabe vom 17. Oktober 1994 stellten die C. AG in Konkurs und
der A. beim Bezirksgericht Appenzell u.a. das Begehren auf Feststellung
der Rechtsunwirksamkeit des Mietvertrages zufolge Rücktritts. Das
Bezirksgericht trat - nach Korrektur der Parteibezeichnung und nunmehriger
Bezeichnung des A.s als einzigen Kläger - mit Urteil vom 25. Oktober
1996 auf die Klage nicht ein. Eine dagegen erhobene Berufung wies das
Kantonsgericht Appenzell I.Rh. mit Urteil vom 1. Juli 1997 ab, soweit es
darauf eintrat.

    Das Bundesgericht heisst eine dagegen erhobene Berufung des Klägers
gut, soweit es darauf eintritt, und weist die Streitsache zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz hat im angefochtenen Urteil erwogen, die verspätete
Anrufung des Richters nach erfolglosem Schlichtungsversuch führe zum
definitiven Rechtsverlust, da die in Art. 274f Abs. 1 Satz 2 OR normierte
Frist zur Anrufung des Richters als Verwirkungsfrist zu qualifizieren sei.

    a) Gemäss den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz gelangte der
Kläger mit den im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Rechtsbegehren
bereits im November 1993 an die Schlichtungsstelle für Mietverhältnisse
in Appenzell. Nach gescheitertem Einigungsversuch am 15. Dezember 1993
prosequierte der Kläger seine Ansprüche beim Bezirksgericht Appenzell. Die
dort eingereichte Klage zog er jedoch zufolge Fristversäumnisses und unter
Vorbehalt ihrer Wiedereinbringung am 16. August 1994 zurück. Ob dem diesem
Klagerückzug folgenden Erledigungsbeschluss Rechtskraftwirkung zukommt, hat
die Vorinstanz nicht geprüft. Indes ergibt sich aus ihren Feststellungen,
dass in jenem Verfahren jegliche materiellrechtliche Würdigung
der Sachverhaltsvorbringen der Parteien unterblieb und der Prozess
ausschliesslich gestützt auf die mit einem Wiedereinbringungsvorbehalt
verbundene Rückzugserklärung des Klägers während des erstinstanzlichen
Behauptungsverfahrens erledigt bzw. abgeschrieben worden ist. Einem
derartigen Erledigungsbeschluss kommt weder nach kantonalem Recht
(vgl. Art. 210 Abs. 3 ZPO Appenzell I.Rh.) noch nach Bundesrecht
Rechtskraftwirkung zu (BGE 123 III 16 E. 2a S. 18 mit Hinweisen). Zu prüfen
bleibt somit, ob die Vorinstanz bundesrechtskonform die Verwirkung der
klägerischen Ansprüche zufolge Nichteinhaltung der in Art. 274f Abs. 1
Satz 2 OR normierten Frist zur Anrufung des Richters innert dreissig
Tagen nach fehlgeschlagenem Einigungsversuch bejaht hat.

    b) Streitigkeiten aus der Miete von Wohn- und Geschäftsräumen
sind vor Anrufung des Richters der durch die Kantone bezeichneten
Schlichtungsstelle zu unterbreiten (BGE 118 II 307 E. 3 mit Hinweisen). Die
Schlichtungsbehörde versucht, eine Einigung zwischen den Parteien
herbeizuführen (Art. 274e Abs. 1 OR). Gelingt ihr dies nicht und kommt
ihr bezüglich der zu beurteilenden Streitigkeit keine materiellrechtliche
Entscheidbefugnis zu, stellt sie das Nichtzustandekommen der Einigung
fest, worauf die auf ihrem Begehren beharrende Partei innert 30 Tagen den
Richter anrufen kann (Art. 274e Abs. 2 und 274f Abs. 1 OR). Entscheide
der Schlichtungsstelle über materiellrechtliche Fragen erwachsen
gemäss ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift mit unbenütztem Ablauf der
Klagefrist in Rechtskraft (Art. 259i Abs. 2, Art. 273 Abs. 5 und Art. 274f
Abs. 1 OR, 1. Satzteil). Bei den Nichteinigungsentscheiden ist sich die
Lehre hinsichtlich deren Wirkung bei unterlassener Anrufung des Richters
mindestens im Bereich der nicht prosequierten Mietzinsanfechtungen uneins
(zum Meinungsstand: HIGI, Zürcher Kommentar, N. 84-86 zu Art. 274f OR;
WEBER/ZIHLMANN, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, 2. Aufl.,
N. 5 zu Art. 274f OR, je mit Hinweisen). Soweit aber das materielle
Mietrecht die Geltendmachung mietvertraglicher Ansprüche nicht von der
Einhaltung gesetzlich normierter Verwirkungsfristen abhängig macht, können
sie nach überwiegender Lehrmeinung im Rahmen der nach übrigem materiellem
Recht geltenden Verjährungs- oder Verwirkungsfristen jederzeit wieder in
Streit gesetzt werden und hat diesfalls die unterlassene Anrufung des
Richters lediglich zur Folge, dass einem allfälligen Gerichtsverfahren
ein neuerlicher Schlichtungsversuch vorangehen muss (HIGI, aaO, N. 88 zu
Art. 274f OR mit Hinweisen; WEBER/ZIHLMANN, aaO, N. 5 zu Art. 274f OR;
ARISTIDE ROBERTI, Institut und Verfahren der Schlichtungsbehörde in
Mietsachen, Diss. Zürich 1993, S. 26 und 27; vgl. auch SVIT-Kommentar
Mietrecht, N. 12 f. zu Art. 274f OR).

    Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Für die vorliegend in Streit
gesetzten Ansprüche normiert das materielle Mietrecht weder besondere
Verwirkungsfristen noch eine Entscheidbefugnis der Schlichtungsbehörde
mit gesetzlicher Anordnung der Rechtskraftwirkung im Falle unterlassener
Anrufung des Richters. Die Aufgabe der Schlichtungsstelle konnte vorliegend
somit nur darin bestehen, die Parteien zu einer einvernehmlichen
Beilegung ihrer Streitigkeit zu bewegen. In der Sache selbst stand
ihr trotz geltender Untersuchungsmaxime keine umfassende Prüfung
der Streitsache zu, zumal Prozessstoffsammlung und Beweiserhebung -
wie in derartigen Fällen üblich - in einer Verhandlung zusammenfielen
(vgl. BGE 117 II 421 E. 2a S. 424; HIGI, aaO, N. 82 und 94 zu Art. 274d
OR). Insoweit ist ausgeschlossen, dass die zur Schlichtung verstellten
Ansprüche bei festgestellter Nichteinigung und anschliessend verspäteter
Prosequierung verwirken. Zudem kann aus einer Säumnis in der richterlichen
Weiterverfolgung auch kein rechtsgeschäftlicher Verzicht (Offerte) auf
die streitigen Ansprüche abgeleitet werden, welcher nach Art. 6 OR als
durch Stillschweigen angenommen zu gelten hätte.