Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 124 III 188



124 III 188

33. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. März 1998 i.S. A. AG
gegen B. (Berufung) Regeste

    Art. 5 Ziff. 1 des Lugano-Übereinkommens (LugÜ);
Erfüllungsortsgerichtsstand.

    Kann bei der Bestimmung des Erfüllungsorts eines eingeklagten
Anspruchs, der sich auf mehrere vertragliche Verpflichtungen stützt,
auf die für den Anspruch charakteristische Verpflichtung abgestellt werden?

Sachverhalt

    Die A. AG (Klägerin) mit Sitz in Dietikon importierte und vertrieb
in der Schweiz seit Dezember 1990 die Produkte der B. (Beklagte) mit
Sitz in Kopenhagen. Im September 1995 teilte die Beklagte der Klägerin
mit, sie wolle inskünftig die Firma D. AG mit dem Import betrauen. Sie
beabsichtige nicht, die Zusammenarbeit mit der Klägerin abzubrechen,
indessen wünsche sie, dass ihre Produkte fortan von beiden Unternehmen
vertrieben würden. Die Klägerin wendete ein, der zwischen ihr und der
Beklagten bestehende Alleinvertriebsvertrag könne nur unter Einhaltung
einer Frist von sechs Monaten aufgelöst werden. Die Beklagte bestritt
das Bestehen eines solchen Vertrags und liess ihre Produkte fortan von
der SFS einführen und vertreiben.

    Darauf belangte die Klägerin die Beklagte vor dem Handelsgericht
des Kantons Zürich auf Zahlung von Fr. 150'000.-- nebst Zins als
Schadenersatz. In Gutheissung der Unzuständigkeitseinrede der Beklagten
trat das Handelsgericht am 14. Juli 1997 auf die Klage nicht ein.

    Das Bundesgericht weist die von der Klägerin gegen diesen Beschluss
erhobene Berufung ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Indessen bleibt zu prüfen, ob die Vorinstanz nicht - wie die
Klägerin noch vorbringt - aufgrund von Art. 5 Ziff. 1 des Übereinkommens
über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstrekkung gerichtlicher
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen [LugÜ]; SR
0.275.11) verpflichtet gewesen wäre, bei der Bestimmung des Erfüllungsorts
neben der vertriebsbezogenen auch die kaufrechtliche Pflicht aus dem
Alleinvertriebsvertrag zu berücksichtigen. Nach Ansicht der Klägerin
wäre die Vorinstanz gehalten gewesen, für beide Verpflichtungen einen
einheitlichen Erfüllungsort am Schwerpunkt des Rechtsverhältnisses zu
bestimmen. Diesen Schwerpunkt nimmt sie wiederum in Dietikon an.

    a) Wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den
Streitgegenstand bilden, ermöglicht Art. 5 Ziff. 1 LugÜ dem Kläger,
alternativ zum allgemeinen Wohnsitzgerichtsstand nach Art. 2 LugÜ, den
Beklagten vor dem Gericht des Ortes zu verklagen, an dem die Verpflichtung
erfüllt werden soll oder zu erfüllen wäre. Der Erfüllungsort bestimmt
sich nicht autonom, sondern richtet sich nach dem auf die vertragliche
Verpflichtung anwendbaren Recht (lex causae; BGE 122 III 43 E. 3a S. 45
mit Hinweisen). Das anwendbare Recht ergibt sich seinerseits aus der
Subsumtion der erfüllten oder zu erfüllenden Verpflichtung unter das
Kollisionsrecht des mit der Streitsache befassten Gerichts (BGE 122
III 298 E. 3a S. 299 f.). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs
der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zum Brüsseler Übereinkommen
(Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung
gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September
1968; EuGVÜ), dem das LugÜ nachempfunden wurde, ist aber nicht auf
jede beliebige Verpflichtung, sondern nur auf jene abzustellen, die
dem vertraglichen Anspruch entspricht, auf den der Kläger seine Klage
stützt. Macht der Kläger Ansprüche auf Schadenersatz geltend oder beantragt
er die Auflösung des Vertrags aus Verschulden der anderen Partei, so ist
auf die vertragliche Verpflichtung abzustellen, deren Nichterfüllung zur
Begründung dieser Ansprüche behauptet wird (EuGH, Urteil vom 6. Oktober
1976 i.S. de Bloos gegen Bouyer, Rs. 14/76, Slg. 1976, S. 1508, Rz. 13/14,
bestätigt mit Urteil vom 15. Januar 1987 i.S. Shenavai gegen Kreischer,
Rs. 266/85, Slg. 1987, S. 254, Rz. 9, und mit Urteil vom 29. Juni 1994
i.S. Custom Made Commercial gegen Stawa Metallbau, Slg. 1994, S. 2956
ff., Rz. 23). Bei synallagmatischen Verträgen ist folglich für jede
Verpflichtung ein gesonderter Erfüllungsort zu bestimmen (BGE 122 III 43
E. 3b S. 45).

    b) Selbst wenn sich der eingeklagte Anspruch auf mehrere
Verpflichtungen stützt, hält die Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich
an einer für jede einzelne Verpflichtung vorzunehmenden Bestimmung des
anwendbaren Rechts bzw. des Erfüllungsorts fest (Urteil vom 15. Januar
1987 i.S. Shenavai gegen Kreischer, aaO, S. 254 ff., Rz. 11-19, bestätigt
mit Urteil vom 29. Juni 1994 i.S. Custom Made Commercial gegen Stawa
Metallbau, aaO, S. 2957, Rz. 23-24). Um eine Gerichtsstandszersplitterung
zu vermeiden, weist der EuGH das mit der Streitsache befasste Gericht
allerdings an, sich bei der Feststellung seiner Zuständigkeit am
Grundsatz zu orientieren, wonach Nebensächliches der Hauptsache folgt
(Urteil vom 15. Januar 1987 i.S. Shenavai gegen Kreischer, aaO, S. 256,
Rz. 19). Einzig bei Klagen, welche sich auf mehrere arbeitsrechtliche
Verpflichtungen stützen, hält der EuGH dafür, dass zur Bestimmung des
anwendbaren Rechts auf die charakteristische Leistung abzustellen ist
(EuGH, Urteil vom 26. Mai 1982 i.S. Ivenel gegen Schwab, Rs. 133/81,
Slg. 1982, S. 1901, Rz. 18-20, bestätigt mit Urteil vom 15. Februar 1989
i.S. Six Constructions gegen Humbert, Slg. 1989, S. 363, Rz. 14-15). In
nicht arbeitsrechtlichen Verhältnissen lehnt der EuGH die Konzentration der
eingeklagten Verpflichtungen auf die charakteristische Leistung indessen
ausdrücklich ab (Urteil vom 15. Januar 1987 i.S. Shenavai gegen Kreischer,
aaO, S. 254 ff., Rz. 10-17, bestätigt mit Urteil vom 29. Juni 1994 i.S.
Custom Made Commercial gegen Stawa Metallbau, aaO, S. 2957, Rz. 24).

    Die Rechtsprechung des EuGH, welche die der Klage zugrunde liegende
Verpflichtung zu isolieren sucht, wird von einem Teil der Lehre kritisiert.
Gerade bei Verträgen, die keine eigentliche Erfüllungshandlung beinhalteten
oder bei denen der Erfüllungsort schwer feststellbar sei, führe sie häufig
zu keinem befriedigenden Ergebnis: Gerichtsstände ohne engere Beziehung
zur Streitsache oder grundsätzlich verpönte Klägergerichtsstände seien die
Folge. Insbesondere bei Klagen, welche sich auf mehrere Verpflichtungen
stützten, sei es bisweilen unmöglich, einen allgemeinen Erfüllungsort
zu lokalisieren, weshalb auf den Wohnsitzgerichtsstand ausgewichen
werden müsse. Die Verweisung anhand isolierter Verpflichtungen missachte
Sinn und Zweck von Art. 5 Ziff. 1 LugÜ, der dem Kläger eine klare und
vorhersehbare Wahlmöglichkeit bieten wolle. Ausserdem begünstige die
Methode des EuGH das forum shopping (GEORGES A. L. DROZ, Delendum est
forum contractus?, Rec. Dalloz 41/1997, Chronique, S. 355 f.; ALFRED
E. VON OVERBECK, Interprétation traditionelle de l'article 5.-1. des
Conventions de Bruxelles et de Lugano: Le coup de grâce?, in: Festschrift
Droz, E pluribus unum, Den Haag 1996, S. 287 ff.). Einzelne Gerichte
der Vertragsstaaten sind deshalb von der Rechtsprechung "de Bloos"
abgewichen und haben anhand der charakteristischen Leistung verwiesen
(Übersicht bei DROZ, aaO, S. 353 f., und bei HÉLÈNE GAUDEMET-TALLON,
Les Conventions de Bruxelles et de Lugano, 2. Aufl., Paris 1996, S. 128
f.). Die Konzentration mehrerer eingeklagter Verpflichtungen auf die
charakteristische Leistung hat auch Generalanwalt Lenz dem EuGH in
seinen Schlussanträgen in der Rechtssache "Custom Made" vorgeschlagen
(Schlussanträge des Generalanwalts zum Urteil vom 29. Juni 1994 i.S. Custom
Made Commercial gegen Stawa Metallbau, aaO, S. 2931, E. 68 f.). Der EuGH
verwarf seinen Ansatz und hielt ausdrücklich an der Rechtsprechung "de
Bloos" fest (EuGH, Urteil vom 29. Juni 1994 i.S. Custom Made Commercial
gegen Stawa Metallbau, aaO, S. 2957, Rz. 24).

    Das Bundesgericht ist auf die vor der Unterzeichnung des LugÜ ergangene
Rechtsprechung des EuGH zum EuGVÜ in Nachachtung des Protokolls Nr. 2 über
die einheitliche Auslegung des Übereinkommens (SR 0.275.11) verpflichtet
(BGE 123 III 414 E. 4 S. 420 f.). Den nachfolgenden Urteilen des EuGH zum
EuGVÜ ist gebührend Rechnung zu tragen, wobei eine möglichst einheitliche
Auslegung der beiden Übereinkommen anzustreben ist (Erklärung der Vertreter
der Regierungen der Unterzeichnerstaaten des Luganer Übereinkommens,
die Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation sind [SR
0.275.11]). Wenngleich die Kritik an der Rechtsprechung "de Bloos"
und "Shevanai" in gewissen Fällen beachtlich erscheint, sieht sich das
Bundesgericht angesichts des Urteils "Custom Made" und mit Rücksicht auf
die Wahrung der Parallelität zwischen LugÜ und EuGVÜ nicht veranlasst,
den Begriff der Verpflichtung im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 LugÜ vom EuGH
abweichend zu qualifizieren. Eine vom EuGVÜ verschiedene Auslegung des
Begriffs würde der Rechtsunsicherheit und mangelnden Vorhersehbarkeit des
Erfüllungsorts, wie sie ein Teil der Lehre als Ergebnis der Rechtsprechung
des EuGH erkannt haben will, Vorschub leisten (ebenso GAUDEMET-TALLON,
Rev. crit. dr. internat. priv. 1997, S. 592 ff.).

    aa) Die Klägerin verlangt Schadenersatz aus antizipiertem
Vertragsbruch. Nach der Rechtsprechung "de Bloos" müssten die
kaufrechtliche und die vertriebsbezogene Verpflichtung der Beklagten
separat unter das Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht
(IPRG; SR 291) subsumiert werden, wobei allenfalls die Möglichkeit
einer Konzentration auf die hauptsächliche Verpflichtung zu prüfen
wäre. Die Vorinstanz hat indessen für das Bundesgericht verbindlich
festgestellt, dass die Klägerin ihre Ansprüche einzig auf die Verletzung
der vertriebsbezogenen Verpflichtung der Beklagten stützt. Die separate
Anknüpfung des kaufrechtlichen Elements entfällt somit.

    bb) Nach Art. 117 Abs. 1 IPRG untersteht ein Vertrag bei Fehlen
einer Rechtswahl dem Recht des Staates, mit dem er am engsten
zusammenhängt. Somit ist jenes staatliche Recht zu bestimmen, mit
welchem die vertriebsbezogene Pflicht der Beklagten angesichts ihres
wirtschaftlichen und sozialen Kontextes funktionell den stärksten
Bezug aufweist (AMSTUTZ/VOGT/WANG, in: Kommentar zum Schweizerischen
Privatrecht, Internationales Privatrecht, N. 6 zu Art. 117; DUTOIT,
Commentaire de la loi fédérale du 18 décembre 1987, N. 4 zu Art. 117;
KELLER/KREN KOSTIEWICZ, in: Heini/Keller/Siehr/Vischer/Volken, IPRG
Kommentar, N. 13-20 zu Art. 117). Bei Alleinvertriebsrechten besteht
dieser Bezug zum Vertriebsgebiet, weil sie auf dessen Wirtschafts-
und Wettbewerbsleben einwirken (vgl. BGE 100 II 450 S. 451 f.). Das als
doppelrelevante Tatsache zu unterstellende Alleinvertriebsrecht bezog
sich gemäss klägerischer Darstellung auf die Schweiz, weshalb auf die
vertriebsbezogene Verpflichtung der Beklagten schweizerisches Recht
anzuwenden ist.

    c) Die Vorinstanz bestimmte den Erfüllungsort der vertriebsbezogenen
Verpflichtung der Beklagten nach Art. 74 Abs. 2 Ziff. 3 OR. Diese
Subsumtion wird von der Klägerin zu Recht nicht beanstandet. Der
Erfüllungsort wurde deshalb bundesrechtskonform am Sitz der Beklagten
lokalisiert.