Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 V 43



123 V 43

9. Auszug aus dem Urteil vom 19. Februar 1997 i.S. Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt gegen M. und Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich Regeste

    Art. 6 Abs. 2 UVG und Art. 9 Abs. 2 UVV: Unfallähnliche
Körperschädigungen. Sind die Begriffsmerkmale eines Unfalles,
mit Ausnahme des ungewöhnlichen äusseren Faktors, erfüllt, kann ein
Rotatorenmanschettenriss unter die in Art. 9 Abs. 2 lit. f UVV erwähnten
Sehnenrisse subsumiert werden.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz hat die Körperschädigungen, welche gemäss Art. 6
Abs. 2 UVG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 UVV auch ohne ungewöhnliche
äussere Einwirkung den Unfällen gleichgestellt sind, und die dazu ergangene
Rechtsprechung (BGE 116 V 139 f. Erw. 4a, 147 Erw. 2b, je mit Hinweisen)
zutreffend wiedergegeben. Darauf kann verwiesen werden.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdegegner hat unbestrittenermassen eine
Rotatorenmanschettenruptur erlitten, welche am 1. Dezember 1993 von
Dr. med. G. operativ angegangen werden musste. Zu prüfen ist, ob es
sich dabei um eine unfallähnliche Körperschädigung handelt, welche auf
das geltend gemachte Geschehen vom 17. August 1993 zurückzuführen ist.
   (...).

    a) Nach Auffassung der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) handelt es sich bei der Rotatorenmanschette nicht um eine Sehne
im eigentlichen Sinne, sondern um eine durch vier Sehnen gebildete
Sehnenplatte, die den Oberarmkopf umfasst und eine für die Durchblutung
und Ernährung kritische Zone enthält. Weil die Schulter als mobilstes und
meistbenutztes Gelenk nur rudimentär durch Knochen und Bänder stabilisiert
sei, würden die Sehnen durch die dynamisch stabilisierenden Muskeln
übermässig beansprucht. Aufgrund dieser Sonderstellung degeneriere das
Sehnengewebe an der Schulter früher, rascher und stärker als alle übrigen
Sehnen. Dabei korreliere die degenerative Schädigung in ihrem Ausmass
dermassen stark mit dem Lebensalter, dass sie weit eher als regelmässig
auftretende schicksalshafte Erscheinung im Rahmen der natürlichen
biologischen Alterung denn als Krankheit zu betrachten sei. Diese beginne
sich von der Mitte des vierten Lebensjahrzehntes an klinisch auszuwirken
und erfasse um das 55. Lebensjahr fast die Hälfte der Bevölkerung. Bei
jungen Versicherten kann gemäss den Ärzten der SUVA zwar in seltenen
Fällen ein Riss infolge eines ungewöhnlichen äusseren Faktors entstehen,
doch seien dafür ungewöhnlich hohe Kräfte entsprechend einem Unfall im
Rechtssinne erforderlich. In den übrigen Fällen handle es sich nicht um
eine Schädigung mit Verletzungscharakter, sondern um Auswirkungen eines
degenerativen Prozesses. Die Rotatorenmanschettenruptur figuriere daher
nicht in der Liste von Art. 9 Abs. 2 UVV und könne auch nicht mit der
Ruptur einer Sehne gleichgesetzt werden.

    b) Die von der SUVA mit dieser Betrachtungsweise angestrebte Änderung
ihrer bisherigen Verwaltungspraxis läuft darauf hinaus, bei Rissen der
Rotatorenmanschette die Leistungspflicht nur noch anzuerkennen, wenn ein
Unfallereignis und somit die Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren
Faktors nachgewiesen ist. Dies widerspricht indessen zum einen dem
Wortlaut von Art. 9 Abs. 2 UVV und zum andern dem Zweck des Instituts
der unfallähnlichen Körperschädigung. Dieser besteht nicht darin,
krankhafte oder degenerative Körperschäden von der obligatorischen
Unfallversicherung auszuschliessen, sondern darin, die oft schwierige
Abgrenzung zwischen Unfall und Krankheit zugunsten der Versicherten
zu vermeiden. Die sozialen Unfallversicherer haben somit ein Risiko zu
übernehmen, das nach der geltenden begrifflichen Abgrenzung von Unfällen
und Krankheiten den letzteren zuzuordnen wäre (BGE 116 V 155 Erw. 6c,
114 V 301 Erw. 3c; RKUV 1988 Nr. U 57 S. 373 Erw. 4b; BÜHLER, Die
unfallähnliche Körperschädigung, in SZS 1996 S. 84). Hinzu kommt, dass es
für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs praxisgemäss genügt,
wenn das schädigende Geschehen eine Teilursache bildet (BGE 117 V 360
Erw. 4a). Ein degenerativer oder pathologischer Vorzustand schliesst daher
eine unfallähnliche Körperschädigung nicht aus, sofern ein unfallähnliches
Ereignis den vorbestehenden Gesundheitsschaden verschlimmert oder manifest
werden lässt (BÜHLER, aaO, S. 94). Bei den in Art. 9 Abs. 2 lit. a bis h
UVV abschliessend erwähnten Verletzungen muss eine schädigende, äussere
Einwirkung wenigstens im Sinne eines Auslösungsfaktors zu den (vor-
oder überwiegend) krankhaften oder degenerativen Ursachen hinzutreten,
damit eine unfallähnliche Körperschädigung vorliegt (BGE 116 V 147
f. Erw. 2c, 114 V 301 Erw. 3c; RKUV 1988 Nr. U 57 S. 373 Erw. 4b;
BÜHLER, aaO, S. 87). Ein Rotatorenmanschettenriss kann daher unter die
in Art. 9 Abs. 2 lit. f UVV erwähnten Sehnenrisse subsumiert werden,
sofern, mit Ausnahme des ungewöhnlichen äusseren Faktors (BGE 114 V 301
Erw. 3c; RKUV 1988 Nr. U 57 S. 373 Erw. 4b; RUMO-JUNGO, Rechtsprechung
des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über
die Unfallversicherung, 2. Aufl., Zürich 1995, S. 57 ff.; MAURER,
Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Bern 1989, S. 202), die
Begriffsmerkmale eines Unfalles erfüllt sind (BÜHLER, aaO, S. 105 f.).