Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 V 335



123 V 335

55. Urteil vom 25. November 1997 i. S. A. gegen IV-Stelle Luzern und
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Art. 108 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 132 OG:
Verwaltungsgerichtsbeschwerde; Beschwerdebegründung. Übernahme der Praxis
des Bundesgerichts, gemäss welcher eine Auseinandersetzung lediglich
mit der materiellen Seite des Falles bei Anfechtung vorinstanzlicher
Nichteintretensentscheide keine sachbezogene Begründung und damit keine
rechtsgenügliche Verwaltungsgerichtsbeschwerde darstellt (Änderung der
Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts im Sinne von BGE 118
Ib 134).

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 21. Februar 1996 eröffnete die IV-Stelle Luzern
der 1955 geborenen A., die ihr bisher ausgerichtete ganze Invalidenrente
werde mit Wirkung ab 1. April 1996 revisionsweise auf eine halbe
herabgesetzt.

    B.- Auf die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde trat das
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wegen Verspätung nicht ein (Entscheid
vom 1. Juli 1996).

    C.- A. gelangt mit Eingabe vom 16. September 1996 an das
Eidg. Versicherungsgericht und macht sinngemäss geltend, die ganze
Invalidenrente sei ihr weiterhin auszurichten bzw. ihr Gesundheitszustand
sei erneut abzuklären. - Die IV-Stelle beantragt Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    D.- Das Eidg. Versicherungsgericht hat auf den 11. September 1997
eine publikumsöffentliche Beratung angesetzt.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 108 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 132 OG hat die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht unter
anderem die Begehren und deren Begründung mit Angabe der Beweismittel zu
enthalten. Diese Bestimmung soll dem Richter hinreichende Klarheit darüber
verschaffen, worum es beim Rechtsstreit geht. Nach der Praxis genügt es,
wenn dies der Verwaltungsgerichtsbeschwerde insgesamt entnommen werden
kann. Insbesondere muss zumindest aus der Beschwerdebegründung ersichtlich
sein, was der Beschwerdeführer verlangt und auf welche Tatsachen er
sich beruft. Die Begründung braucht nicht zuzutreffen, aber sie muss
sachbezogen sein. Der blosse Hinweis auf frühere Rechtsschriften oder
auf den angefochtenen Entscheid genügt nicht. Fehlt der Antrag oder die
Begründung überhaupt und lassen sie sich auch nicht der Beschwerdeschrift
entnehmen, so liegt keine rechtsgenügliche Beschwerde vor, weshalb
auf sie nicht eingetreten werden kann (BGE 101 V 127; ARV 1996/1997
Nr. 28 S. 155 Erw. 1a; ZAK 1988 S. 519 Erw. 1; Steuer Revue 1992 S. 563;
vgl. auch BGE 113 Ib 287 f. mit weiteren Hinweisen, insbesondere auf GYGI,
Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl. Bern 1983, S. 197).

    b) Nach der Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts umfasst der
in einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen einen Nichteintretensentscheid
der Vorinstanz gestellte ausschliesslich materielle Beschwerdeantrag -
an den generell keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden und
bei dessen Fehlen auf die Beschwerdeschrift insgesamt zurückzugreifen
ist (vgl. Erw. 1a hievor sowie GYGI, aaO, S. 196 unten f.) - auch das
Begehren, die Vorinstanz habe auf die Sache einzutreten. Sodann ist
das Gericht auf Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen vorinstanzliche
Nichteintretensentscheide auch dann regelmässig eingetreten,
wenn sie sich - ohne dass ein materieller Antrag gestellt wurde -
ausschliesslich mit der materiellen Seite des Streitfalles befassten,
jedoch sowohl ein sich auf das Nichteintreten der Vorinstanz beziehender
Antrag als auch eine diesbezügliche Begründung fehlte (BGE 117 V 121
ff. Erw. 1 und 105 V 93 f. Erw. 1). Demgegenüber hat das Bundesgericht
Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Nichteintretensentscheide der
Vorinstanz, die lediglich eine Auseinandersetzung mit der materiellen Seite
des Falles enthalten, nicht als sachbezogen begründete und damit nicht
als rechtsgenügliche Beschwerden qualifiziert (BGE 118 Ib 136 Erw. 2).

    Diese Diskrepanz in der Rechtsprechung bezüglich den Anforderungen an
die Sachbezogenheit der Begründung ist nicht weiter aufrecht zu erhalten,
sondern es ist in Änderung der Rechtsprechung die Praxis des Bundesgerichts
(BGE 118 Ib 136 Erw. 2) zu übernehmen, gemäss welcher gegen vorinstanzliche
Nichteintretensentscheide erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerden,
die sich - ungeachtet eines allenfalls vorhandenen Antrags - lediglich
mit der materiellen Seite des Streitfalles befassen, dem Erfordernis
einer sachbezogenen Begründung nicht genügen. Hiefür massgebend ist
insbesondere, dass nach anerkannter, auch von der Lehre geteilter
Auffassung eine minimale Sachbezogenheit der Begründung bei der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein Gültigkeitserfordernis darstellt
(GYGI, aaO, S. 197; GRISEL, Traité de droit administratif, Neuchâtel
1984, volume II, S. 915; HÄFELIN/MÜLLER, Grundriss des Allgemeinen
Verwaltungsrechts, Zürich 1993, S. 352; KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren
und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, Zürich 1993, S. 158 und 236;
RHINOW/KOLLER/KISS, Öffentliches Prozessrecht und Grundzüge des
Justizverfassungsrechts des Bundes, Basel und Frankfurt a.M. 1994,
S. 266 f.). Eine Auseinandersetzung lediglich mit der materiellen
Seite des Falles vermag daher bei Anfechtung eines vorinstanzlichen
Nichteintretensentscheides der gesetzlichen Begründungspflicht ebensowenig
zu genügen wie ein bloss pauschaler Hinweis auf frühere Rechtsschriften
oder auf den angefochtenen Entscheid, welche praxisgemäss die Anforderungen
an eine rechtsgenügliche Begründung nicht erfüllen (vgl. Erw. 1a hievor;
BGE 113 Ib 287 f. und 101 V 127, je mit weiteren Hinweisen). Da dem
Formerfordernis einer sachbezogenen Begründung nur dann Genüge getan
ist, wenn aus der Beschwerdeschrift ersichtlich ist, in welchen Punkten
und weshalb der angefochtene Entscheid beanstandet wird (BGE 113 Ib 287
f. mit Hinweisen), muss sich bei Anfechtung eines Entscheides, mit dem
die Vorinstanz auf das Begehren des Beschwerdeführers nicht eingetreten
ist, die Begründung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde notwendigerweise
mit dieser Frage befassen (BGE 118 Ib 136 Erw. 2). Anders verhält es
sich in dem vom Bundesgericht in BGE 118 Ib 136 Erw. 2 zitierten, vom
Eidg. Versicherungsgericht am 25. März 1983 beurteilten Fall U. (BGE 109
V 119), bei dem das Nichteintreten der Verwaltung auf ein neues Gesuch
zur Diskussion stand und die Vorinstanz - im Gegensatz zu den in BGE 117
V 121 und 105 V 93 entschiedenen Fällen E. und M. - einen materiellen
und nicht einen Nichteintretensentscheid gefällt hatte.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall enthält die Eingabe der Beschwerdeführerin
vom 16. September 1996 namentlich keine sachbezogene Begründung, indem
sie jeden Bezug zum angefochtenen Entscheid der Vorinstanz vermissen
lässt. Diese ist auf das Rechtsmittel der Beschwerdeführerin wegen
Verspätung nicht eingetreten (Art. 84 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 69
IVG). Damit setzt sich die Versicherte in der Eingabe vom 16. September
1996 nicht einmal ansatzweise auseinander; vielmehr beschränkt sie
sich auf Ausführungen über ihren Gesundheitszustand und die beanstandete
Rentenherabsetzung durch die Verwaltung. Somit handelt es sich um eine den
Anforderungen von Art. 108 Abs. 2 OG nicht genügende Beschwerdeschrift.
Demzufolge kann auf das erhobene Rechtsmittel nicht eingetreten werden.