Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 V 331



123 V 331

54. Auszug aus dem Urteil vom 24. September 1997 i.S. W. gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Obergericht des Kantons
Uri Regeste

    Art. 10, 12 lit. e und 19 VwVG, Art. 57, 58 und 60 BZP, Art.  22 und
23 OG. Die nach Art. 19 VwVG in Verbindung mit Art. 57 ff. BZP für
Sachverständigengutachten geltenden Verfahrensvorschriften (insbesondere
die Ausstandsregeln von Art. 58 BZP in Verbindung mit Art. 22 und 23 OG)
sind auf die Berichte und Gutachten versicherungsinterner Ärzte nicht
anwendbar.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:
I.

    In verfahrensrechtlicher Hinsicht beanstandet der Beschwerdeführer,
dass die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA)
den Verwaltungsentscheid ausschlaggebend auf die Beurteilung des
Integritätsschadens durch Kreisarzt Dr. med. L. gestützt hat. Er macht
geltend, SUVA-Ärzte hätten wegen des bestehenden besonderen Pflicht-
oder Abhängigkeitsverhältnisses bei gutachtlichen Beurteilungen generell
in Ausstand zu treten. (...).

Erwägung 1

    1.- Was das Argument der generellen Ausstandspflicht betrifft, beruft
sich der Beschwerdeführer auf Art. 58 BZP in Verbindung mit Art. 23
lit. b OG, wonach Sachverständige von den Parteien u.a. abgelehnt werden
können, wenn zwischen ihnen und einer Partei ein besonderes Pflicht- oder
Abhängigkeitsverhältnis besteht. Zu prüfen ist, ob diese Bestimmung auf
die kreisärztliche Beurteilung des Integritätsschadens vom 16. Dezember
1994 anwendbar ist.

    a) Für das Verwaltungsverfahren in der obligatorischen
Unfallversicherung bestimmt Art. 96 UVG, dass die Vorschriften des UVG
anwendbar sind, soweit das Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren
(VwVG) für Versicherer nicht gilt oder das UVG eine abweichende Regelung
enthält. Weil die SUVA den Verfahrensregeln des VwVG unterliegt und
das UVG diesbezüglich keine besonderen Regeln enthält, richtet sich das
Beweisverfahren nach den Vorschriften des VwVG. Dies gilt sinngemäss auch
für die nach Art. 68 Abs. 1 UVG zugelassenen Privatversicherer (BGE 120
V 357 ff.).

    Gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. d VwVG haben Personen, die eine Verfügung
treffen oder diese vorbereiten, in Ausstand zu treten, wenn sie aus
andern als den in lit. a bis c (persönliches Interesse, Verwandtschaft
oder Vertreter einer Partei) angeführten Gründen in der Sache befangen
sein könnten. Daneben kennt die Bundesrechtspflege weitere, speziell auf
Experten zugeschnittene Bestimmungen. Nach Art. 19 VwVG in Verbindung mit
Art. 58 BZP gelten für Sachverständige die gleichen Ausstandsgründe, wie
sie für die Richter in Art. 22 und 23 OG vorgesehen sind. Danach kann
eine Gerichtsperson u.a. dann abgelehnt werden, wenn zwischen ihr und
einer Partei ein besonderes Pflicht- oder Abhängigkeitsverhältnis besteht
(Art. 23 lit. b OG).

    b) Nach der gesetzlichen Regelung finden die Ausschliessungs- und
Ablehnungsgründe von Art. 22 und 23 OG auf das Verwaltungsverfahren nur
sinngemäss (Art. 19 VwVG) und nach Art. 19 VwVG in Verbindung mit Art. 58
BZP nur auf Sachverständige Anwendung. Als solche gelten Drittpersonen, die
vom Richter (bzw. der Verwaltung) aufgrund ihrer besondern Fachkenntnisse
zur Aufklärung des Sachverhaltes beigezogen werden (Art. 57 BZP), nicht
dagegen (verwaltungsinterne) Personen, die eine Verfügung zu treffen oder
vorzubereiten haben (Art. 10 Abs. 1 Ingress VwVG). Für diese sind die in
Art. 10 VwVG genannten allgemeinen Ausstandsgründe massgebend, wie sie
auch auf verwaltungsinterne Fach- und Rekurskommissionen Anwendung finden
(vgl. BGE 119 V 456 ff. und 112 V 206 ff.).

    Weil Personen, die - wie die Verwaltungsärzte - aufgrund ihrer
besondern Fachkenntnisse an der Vorbereitung von Verfügungen mitwirken,
nicht als Sachverständige im Sinne von Art. 57 ff. BZP zu qualifizieren
sind, unterliegen ihre Meinungsäusserungen nicht den nach Art. 19 VwVG in
Verbindung mit Art. 57 ff. BZP für Sachverständigengutachten geltenden
Regeln. Auch wenn solche Meinungsäusserungen entscheidwesentliche
Grundlagen zum Gegenstand haben und materiell Gutachtenscharakter
aufweisen, handelt es sich nicht um Sachverständigengutachten im
Sinne von Art. 12 lit. e VwVG und Art. 60 BZP (vgl. bezüglich der
Eidg. Arzneimittelkommission als verwaltungsinternes Beratungsgremium:
BGE 108 V 138 Erw. 4). Sie sind in beweisrechtlicher Hinsicht vielmehr
den nach Art. 19 VwVG in Verbindung mit Art. 49 BZP eingeholten
Amtsberichten gleichzustellen. Inhaltlich können solche Berichte sowohl
einer Auskunft (Art. 12 lit. c VwVG) als auch einem Gutachten (Art. 12
lit. e VwVG) entsprechen; auch im zweiten Fall kommen die besondern
Verfahrensvorschriften für den Sachverständigenbeweis (Art. 19 VwVG
in Verbindung mit Art. 57 ff. BZP) jedoch nicht zur Anwendung (nicht
veröffentlichtes Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 17. August
1987 i. S. M. AG). Der Beschwerdeführer kann sich daher nicht auf Art. 58
BZP in Verbindung mit Art. 23 lit. b OG berufen, um die kreisärztliche
Beurteilung des Integritätsschadens aus dem Recht zu weisen.

    c) An diesem Ergebnis vermögen die Vorbringen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts zu ändern. Fehl geht zunächst der
Einwand, weil nach der Rechtsprechung "nicht ohne zwingende Gründe"
von der Einschätzung des medizinischen Experten abgewichen werde
und der Richter auch verwaltungsinternen Gutachten volle Beweiskraft
zuerkennen dürfe, komme diesen Gutachten eine qualifizierte Beweiskraft
in dem Sinne zu, als die richterliche Kognition nicht mehr völlig frei
sei, sondern sich gewissermassen auf "Kassationsgründe" beschränke,
weshalb an die Unparteilichkeit und Zuverlässigkeit der begutachtenden
Ärzte hohe Anforderungen zu stellen und zumindest die gesetzlichen
Befangenheitsgründe von Art. 23 lit. a und b OG zu beachten seien. Die
vom Beschwerdeführer erwähnte Rechtsprechung, wonach der Richter "nicht
ohne zwingende Gründe" von der Einschätzung des medizinischen Experten
abweicht, hat den Beweiswert von Gerichtsgutachten zum Gegenstand (BGE 122
V 161 Erw. 1c mit Hinweisen) und findet auf versicherungsinterne ärztliche
Beurteilungen nicht Anwendung. Berichte und Gutachten versicherungsinterner
Ärzte unterliegen wie andere Beweismittel der freien richterlichen
Beweiswürdigung. Es kann ihnen Beweiswert beigemessen werden, sofern
sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet sowie in sich
widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit
bestehen (BGE 122 V 161 Erw. 1c unten mit Hinweisen). Im übrigen ist
richtig, dass an die Unparteilichkeit auch des versicherungsinternen
Gutachters ein strenger Massstab anzulegen ist (BGE 122 V 162 Erw. 1c in
fine). Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass die in Art. 23 OG enthaltenen
generellen Ablehnungsgründe Anwendung zu finden hätten.

    Nicht entscheidend ist sodann, dass der ärztlichen Beurteilung u.a. bei
der Bemessung von Integritätsschäden besondere Bedeutung zukommt und sich
die ärztliche Tätigkeit dabei nicht auf die Feststellung von Tatsachen
beschränkt, sondern auch eine Beurteilung aufgrund von Erfahrungssätzen
umfasst. Die gegenteilige Auffassung des Beschwerdeführers hätte zur
Folge, dass in allen Fällen, wo der medizinische Sachverstand eine
Voraussetzung für die Beurteilung von Leistungsansprüchen bildet, ein
versicherungsexternes Gutachten eingeholt werden müsste. Eine entsprechende
Pflicht des Versicherungsträgers ergibt sich indessen weder aus dem Gesetz
noch aus Verfassung oder EMRK. Nach der Rechtsprechung ist es im Rahmen der
freien Beweiswürdigung daher grundsätzlich zulässig, dass Verwaltung und
Sozialversicherungsrichter den Entscheid allein auf versicherungsinterne
Entscheidungsgrundlagen stützen (BGE 122 V 157 ff.). Auch hieraus folgt,
dass eine generelle Ausstandspflicht, wie sie der Beschwerdeführer
aus Art. 19 VwVG in Verbindung mit Art. 58 BZP und Art. 23 lit. b OG
ableitet, für Versicherungsärzte nicht besteht. Dementsprechend hat das
Eidg. Versicherungsgericht im genannten Urteil unter Hinweis auf BGE
120 V 357 ff. festgehalten, dass die Tatsache allein, dass der befragte
Arzt in einem Anstellungsverhältnis zum Versicherungsträger steht, nicht
schon auf mangelnde Objektivität und auf Befangenheit schliessen lässt;
es bedarf vielmehr besonderer Umstände, welche das fehlende Vertrauen in
die Unparteilichkeit der Beurteilung objektiv als begründet erscheinen
lassen (BGE 122 V 161 f.).