Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 V 20



123 V 20

5. Auszug aus dem Urteil vom 21. Februar 1997 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen E. und AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau Regeste

    Art. 22 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 19 IVV; Art. 18 Abs. 1bis und
1ter AVIG (in der Fassung des Bundesbeschlusses über Sanierungsmassnahmen
in der Arbeitslosenversicherung vom 16. Dezember 1994) bzw. Art. 18
Abs. 1 und 1bis AVIG (in der Fassung der AVIG-Novelle vom 23. Juni 1995)
in Verbindung mit Art. 6a Abs. 2 AVIV (gemäss der Verordnungsänderung
vom 11. Dezember 1995). Das Wartetaggeld der Invalidenversicherung gemäss
Art. 19 Abs. 1 IVV kann während der Zeit, da ein die Voraussetzungen zum
Bezug von Taggeldern der Arbeitslosenversicherung erfüllender Versicherter
die fünftägige allgemeine Wartezeit gemäss Art. 18 AVIG besteht, nicht
(weiter-)fliessen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Als Leistungsbezüger der Invalidenversicherung absolvierte der
Beschwerdegegner bis Ende September 1995 eine Umschulung im Sinne von
Art. 17 IVG und bezog dabei Taggelder gemäss Art. 22 IVG. Weil er nach
Beendigung der Umschulung keine Arbeitsstelle antreten konnte, meldete er
sich Anfang Oktober bei der Arbeitslosenversicherung zum Taggeldbezug an.
Während der Beschwerdegegner und mit ihm die Vorinstanz die Ansicht
vertreten, die Taggeldberechtigung bei der Invalidenversicherung dauere
bis zum Beginn der Taggeldausrichtung der Arbeitslosenversicherung,
sind das beschwerdeführende Bundesamt und die IV-Stelle der Auffassung,
der Versicherte habe nach Beendigung der Taggeldberechtigung bei
der Invalidenversicherung zuerst die "allgemeine" Wartezeit von fünf
Tagen nach Art. 18 AVIG zu bestehen. Bei dieser Ausgangslage ist die
koordinationsrechtliche Frage zu prüfen, wie es sich mit der Ablösung
der beiden Anspruchsberechtigungen verhält. Dabei ist zu beachten, dass
im vorliegend massgebenden Zeitraum (Oktober 1995) Art. 18 AVIG in jener
Fassung zu berücksichtigen ist, wie sie aufgrund des Bundesbeschlusses über
Sanierungsmassnahmen in der Arbeitslosenversicherung vom 16. Dezember 1994
(AS 1994 3098) befristet ab 1. Januar 1995 bis 31. Dezember 1996 in Kraft
stand (BGE 118 V 110 Erw. 3 mit Hinweis).

Erwägung 3

    3.- a) Nach ständiger Rechtsprechung ist das Taggeld der
Invalidenversicherung eine akzessorische Leistung zu bestimmten
Eingliederungsmassnahmen; es kann grundsätzlich nur ausgerichtet werden,
wenn und solange solche Massnahmen zur Durchführung gelangen (BGE 120
V 432 Erw. 1 mit Hinweisen). Der Grundsatz der Akzessorietät gilt
indessen nicht uneingeschränkt; denn Art. 22 Abs. 3 IVG ermächtigt
den Bundesrat zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen Taggelder
für nicht zusammenhängende Tage sowie für Untersuchungs-, Anlern- und -
was vorliegend von Interesse ist - Wartezeiten gewährt werden können. Von
dieser Kompetenz Gebrauch machend, hat der Bundesrat Art. 19 IVV erlassen,
gemäss dessen Absatz 1 einem arbeitsuchenden Versicherten das Taggeld
während längstens 60 Tagen weitergewährt werden kann, wenn der Stellensuche
eine erstmalige berufliche Ausbildung (Art. 16 IVG) oder eine Umschulung
(Art. 17 IVG) vorausging (vgl. hiezu im allgemeinen und insbesondere
zur Auslegung dieser Bestimmung: BGE 120 V 432 ff. Erw. 1 und 2 mit
Hinweisen); Absatz 2 indessen verwehrt Versicherten, denen das Taggeld
der Arbeitslosenversicherung zusteht, einen Anspruch auf weiterlaufende
Invalidentaggelder.

    b) Art. 19 IVV wurde mit Bundesratsbeschluss vom 15. Januar
1968 rückwirkend auf 1. Januar 1968 in Kraft gesetzt (AS 1968 43 und
256). Absatz 2 war bis zu der mit bereits erwähntem Bundesbeschluss
über Sanierungsmassnahmen in der Arbeitslosenversicherung auf den
1. Januar 1995 vollzogenen, vorerst befristeten, hier anwendbaren und
alsdann im Rahmen der 2. Gesetzesrevision unbefristeten Einfügung
der allgemeinen Wartezeitbestimmung ins AVIG (Art. 18 Abs. 1bis
und 1ter AVIG [Fassung gemäss Bundesbeschluss vom 16. Dezember 1994]
bzw. Art. 18 Abs. 1 und 1bis AVIG [Fassung gemäss Novelle vom 23. Juni
1995] in Verbindung mit Art. 6a Abs. 2 AVIV [Verordnungsänderung vom
11. Dezember 1995]) koordinationsrechtlich unproblematisch. Denn bei
Versicherten, welche grundsätzlich sowohl bei der Invaliden- als auch
bei der Arbeitslosenversicherung anspruchsberechtigt waren, löste -
bei entsprechender Anmeldung - das Taggeld der Arbeitslosenversicherung
(Art. 22 AVIG) dasjenige der Invalidenversicherung ohne Unterbruch ab,
so dass in zeitlicher Hinsicht keine Versorgungslücke entstand. Art. 18
Abs. 1bis AVIG in der Fassung des Bundesbeschlusses vom 16. Dezember 1994
hat hier eine Änderung gebracht. Der Gesetzgeber hat, geleitet vorwiegend
von sparpolitischen Überlegungen, eine Karenzfrist, während der auch bei
Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen keine Entschädigungsleistungen
fliessen sollen, geschaffen. Er erachtete es Arbeitnehmern als zumutbar,
im Fall von Arbeitslosigkeit selber für eine minimale finanzielle Vorsorge
im Sinne eines zusätzlichen Selbstbehaltes besorgt zu sein (Botschaft über
dringliche Massnahmen zur Entlastung des Bundeshaushalts vom 19. Oktober
1994 [BBl 1994 V 584]); dies zumindest dann, wenn deren versicherter
Verdienst Fr. 3'000.-- übersteigt (Art. 18 Abs. 1ter AVIG in der Fassung
des Bundesbeschlusses vom 16. Dezember 1994 e contrario [wobei sich der
Grenzbetrag für jedes Kind, das Anrecht auf Kinder- oder Ausbildungszulage
gibt, um Fr. 500.-- erhöht] bzw. Art. 18 Abs. 1bis AVIG in der Fassung
der Novelle vom 23. Juni 1995 in Verbindung mit Art. 6a Abs. 2 AVIV
vom 11. Dezember 1995 e contrario [wobei sich nunmehr derselbe in einer
Vollzeitbeschäftigung erzielte Grenzbetrag bei Teilzeitbeschäftigung im
Verhältnis zum Beschäftigungsgrad vermindert und für das erste Kind,
das Anrecht auf Kinder- oder Ausbildungszulage gibt, um Fr. 1'000.--
sowie für jedes weitere um Fr. 500.-- erhöht]).

    c) Die Frage, ob ein Versicherter den neuen Selbstbehalt
zu tragen hat oder nicht, bestimmt sich nach der Absicht des
Gesetzgebers folglich aufgrund der arbeitslosenversicherungsrechtlich
massgebenden Einkommensverhältnisse. Erreichen diese, was vorliegend
unbestrittenermassen der Fall ist, eine bestimmte Mindesthöhe,
wird den Versicherten ein persönlicher Beitrag zur Entlastung des
Bundeshaushalts abverlangt. Diese Zielsetzung würde unterlaufen, wenn der
mit der Regelung anvisierte Versicherte den Beitrag über die Taggelder
der Invalidenversicherung, mithin über eine andere Bezugsquelle im
Bundeshaushalt kompensieren könnte. Der angefochtene Entscheid, welcher
einen solchen Ausgleich zuliesse, trägt diesem koordinationsrechtlich
erheblichen Gesichtspunkt keine Rechnung und führte, wie sich zeigen
wird, zu einer nicht gerechtfertigten Besserstellung einer ganz
bestimmten Personengruppe. Dass, wie die Vorinstanz feststellt,
Art. 19 Abs. 2 IVV vom Wortlaut her einer Weiterausrichtung von
Taggeldern der Invalidenversicherung während der Karenzzeit bei der
Arbeitslosenversicherung nicht entgegensteht, bedeutet nicht, dass
sich die Fortzahlung schon deshalb als bundesrechtskonform erweisen
müsste. Eine solche Auslegung der fraglichen Bestimmung missachtet den
allgemeinen Grundsatz, gemäss welchem das neuere Gesetz das ältere aufhebt
("lex posterior derogat legi priori" [vgl. BGE 115 Ib 91 f. Erw. 2c;
SZS 1989 S. 177 Erw. 2c mit Hinweisen]). Dieser Grundsatz ruft nach
einer die jüngere AVIG-Norm berücksichtigenden Interpretation der
älteren IVV-Bestimmung, dies insbesondere auch deshalb, weil es sich bei
ersterer um Gesetzesrecht, bei letzterer aber lediglich um Verordnungsrecht
handelt. Eine solche Auslegung ergibt nach dem Gesagten, dass die Taggelder
der Invalidenversicherung während der fünftägigen Karenzzeit für die
Ausrichtung der Arbeitslosentaggelder nicht (weiter-)fliessen können,
weil sie andernfalls dem Zweck von Art. 18 Abs. 1bis AVIG bzw. Art. 18
Abs. 1 AVIG in der Fassung der Novelle vom 23. Juni 1995 zuwiderlaufen
würden. Das AVIG selbst hält im übrigen eine Regelung bereit, welche
verhindern soll, dass der Auszahlungsaufschub zu Härtefällen führt
(Art. 18 Abs. 1ter AVIG bzw. Art. 18 Abs. 1bis AVIG in der Fassung
der Novelle vom 23. Juni 1995 in Verbindung mit Art. 6a Abs. 2 AVIV vom
11. Dezember 1995). Der Grundsatz der rechtsgleichen Behandlung gebietet,
dass diejenigen Versicherten, deren versicherter Verdienst die massgebende
Grenze übersteigt, so dass Art. 18 Abs. 1ter AVIG bzw. Art. 18 Abs. 1bis
AVIG in der Fassung der Novelle vom 23. Juni 1995 in Verbindung mit
Art. 6a Abs. 2 AVIV vom 11. Dezember 1995 nicht zur Anwendung gelangen
kann, die Wartezeit in gleicher Weise zu bestehen haben. Daran ändert
nichts, dass Art. 18 Abs. 1bis AVIG bzw. Art. 18 Abs. 1 AVIG in der
Fassung der Novelle vom 23. Juni 1995 nach dem Willen des Gesetzgebers
in erster Linie jene Versicherten im Auge hat, welche ihre Stelle
verlieren und alsdann arbeitslos werden (Botschaft, aaO, S. 584), und
nicht diejenigen in der Botschaft unerwähnt gebliebenen, welche nach
einer von der Invalidenversicherung getragenen Eingliederungsmassnahme
keine Arbeitsstelle finden können. Denn der die einkommensmässige
Leistungsfähigkeit sowie die familiäre Situation berücksichtigende
Grenzbetrag des Art. 18 Abs. 1ter AVIG bzw. von Art. 18 Abs. 1bis AVIG in
der Fassung der Novelle vom 23. Juni 1995 in Verbindung mit Art. 6a Abs. 2
AVIV vom 11. Dezember 1995, nämlich das versicherte Einkommen von ([bei
Vollzeitbeschäftigung] wenigstens) Fr. 3'000.-- (vgl. Erw. 3b in fine),
betrifft den eine berufliche Eingliederungsmassnahme abschliessenden
Versicherten bezüglich der zumutbaren Selbstvorsorge in gleicher
Weise wie denjenigen, der seine Arbeitsstelle verloren hat: In der
Arbeitslosenversicherung bildet grundsätzlich der zuletzt erzielte,
für die Beitragsbemessung massgebende Lohn im Sinne der AHV-Gesetzgebung
(Art. 23 Abs. 1 mit Verweis auf Art. 3 AVIG; Art. 37 AVIV) das versicherte
Einkommen gemäss Art. 18 Abs. 1ter AVIG bzw. Art. 18 Abs. 1bis AVIG in der
Fassung der Novelle vom 23. Juni 1995 in Verbindung mit Art. 6a Abs. 2
AVIV vom 11. Dezember 1995. Die AHV-Beitragspflicht der Taggeldbezüger
der Invalidenversicherung bemisst sich ebenfalls am zuletzt tatsächlich
erzielten (Ersatz-)Einkommen, nämlich an den Taggeldern einschliesslich
Zuschlägen (Art. 25ter IVG). Damit wird beiden Betroffenen bei denselben
einkommensmässigen Mindestvoraussetzungen die zur Tragung des Selbstbehalts
erforderliche Bildung von Rückstellungen zugemutet. Ein Grund, die
ehemaligen Taggeldbezüger der Invalidenversicherung hinsichtlich des
Bestehens der allgemeinen Wartezeit bei der Arbeitslosenversicherung
anders zu behandeln als die übrigen Versicherten, ist deshalb nicht
ersichtlich. Die IV-Stelle hat daher einen Anspruch auf Wartetaggelder
der Invalidenversicherung während der fünftägigen Karenzfrist für die
Ausrichtung der Taggelder der Arbeitslosenversicherung zu Recht verneint.